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2. Die Vandalen in Gallien und Spanien
ОглавлениеEinmal in Gallien, war ihr Hauptproblem nicht der Widerstand römischer Truppen (die waren kaum vorhanden), sondern die Suche nach Nahrung und vor allem nach dauerhaften Siedlungsplätzen. Allerdings kamen bald im Jahr 407 neue römische Truppen nach Gallien, und zwar aus Britannien. Hier hatte man die Situation in Gallien seit 406 mit besonderer Sorge betrachtet. In jenem Jahr war ein erheblicher Teil der in Italien eingefallenen gotischen Krieger des Radagais (s.o.) Stilichos Gegenmaßnahme ausgewichen und über die französischen Alpen nach Gallien gezogen, ohne dort auf Widerstand zu stoßen. Dies versetzte das römische Britannien in Unruhe, zumal als eben zu Beginn des Jahres 407 noch Alanen, Sueben und Vandalen dazukamen: Man sah die zunehmende Erosion der römischen Macht und fürchtete nicht ohne Grund, die Land suchenden gentes könnten den Kanal überqueren. Daneben gab es den für die Spätantike typischen Mechanismus, der in ‚alleingelassenen‘ Reichsteilen schnell Unterstützung für einen eigenen Herrscher entstehen ließ. Da von der Zentrale (mittlerweile Ravenna) also weder Hilfe noch Gefahr zu erwarten war, kam es zu einer Reihe von britannischen Usurpationen, zuletzt im Februar 407 durch einen gewissen Constantinus, der dann auch bald nach Gallien übersetzte.33
Die folgenden drei Jahre in Gallien sind äußerst schlecht dokumentiert. Wir wissen kam etwas mit Sicherheit, müssen mit Plausibilitäten zufrieden sein, ja zu Spekulationen greifen, wenn wir eine Rekonstruktion der Ereignisse versuchen wollen. Glücklicherweise ist dies hier nicht nötig. Sicherlich operierten die genannten gentes getrennt, schon aus Gründen der Versorgung (getrennt voneinander, aber auch in sich getrennt, jedenfalls was Alanen und Vandalen angeht). Wahrscheinlich versuchte ein Teil, schnell über die Pyrenäen nach Spanien zu gelangen, ist dabei aber gescheitert. Andere blieben in Nordfrankreich. Auch steht fest, dass es zu (nur teilweise erfolgreichen) Belagerungen und zu Zerstörungen kam, vor allem sicher zu Plünderungen.34
Plausibel ist, dass man seitens der Römer versuchte, einen Teil der Eindringlinge durch Verträge zu binden und ihre Krieger für die eigenen Zwecke zu nutzen. Nur bei Burgundern, Franken, Alamannen und bei Teilen der Alanen35 hatte dies aber dauerhaften Erfolg. Generell hat Constantinus offenbar große militärische Auseinandersetzungen vermieden und sich vielmehr (von seiner Residenz Arles aus) auf die Abwehr der zu erwartenden Gegenangriffe Stilichos konzentriert, genau wie man sich auch in Ravenna offenbar mehr um den Usurpator als um die eingedrungenen gentes Sorgen machte.36 Stilicho jedoch fiel im Sommer 408 einem Komplott zum Opfer, dem ein Massaker an seinen in Italien stationierten germanischen Foederaten folgte. Tausende verließen nach diesem Treuebruch den römischen Dienst und wandten sich dem ebenfalls von Ravenna enttäuschten Alarich zu,37 dessen Stärke das Westreich nun noch weniger entgegenzusetzen hatte.
Auch weil Constantinus von dieser Seite aus keine unmittelbare Gefahr mehr drohte, wurde für die 407 in Gallien eingewanderten gentes der Alanen, Sueben und Vandalen klar, dass sich ihnen hier keine stabile Perspektive bot. Es lag deshalb nahe, erneut den Übergang nach Spanien zu versuchen. Dort herrschte der von Constantinus installierte Heermeister Gerontius, ein erfahrener britannischer General, der das Land zusammen mit anderen (so Constantinus’ Sohn und Stellvertreter Constans) für den Usurpator gewonnen hatte, sicher auch mithilfe von Foederatentruppen.38 Von einem Teil der modernen Forschung wird Gerontius nun dafür verantwortlich gemacht, dass für die nächsten 20 Jahre Spanien zum Schauplatz der Vandalengeschichte wurde: Er habe die genannten gentes ins Land geholt, weil er mit ihrer Hilfe seine eigene 409 n. Chr. ins Werk gesetzte Rebellion zu sichern hoffte.39
Dies war keineswegs der einzige Verrat dieser Art. Ein weiteres Beispiel werden wir mit dem Vorwurf an den Heermeister Africas, Bonifatius, kennenlernen, die Vandalen nach Africa geholt zu haben.40 Die Häufigkeit dieser Anschuldigung kann nicht verwundern, wenn man die drei miteinander verbundenen Voraussetzungen betrachtet, die sie ermöglichten, ja geradezu herbeiführten: Römische Generäle des Westreichs haben sich erstens häufig barbarischer Hilfe bedient, ja waren seit dem späteren 4. Jh. sogar abhängig von ihr; ihre Fähigkeit, Foederaten jenseits der Reichsgrenzen zu verpflichten, entschied geradezu über ihr Schicksal (und entfernte gleichzeitig den Kaiser vom römischen Heer). Da sie zweitens häufig in einem harten Konkurrenzkampf standen, wurde der Verdacht, diese barbarische Unterstützung nur auf die eigene Person, nicht auf das Imperium ausgerichtet zu haben, eine gebräuchliche Waffe, zumal dieser Vorwurf strukturell immer teilweise der Wahrheit entsprach; denn die Foederaten sahen sich in einer Art Gefolgschaft zu ihrem Vertragspartner. Und schließlich: Barbarischen gentes gelang – trotz römischer Verteidigung – die Überwindung naturräumlich gut geschützter Grenzen (in diesem Fall der Pyrenäenpässe41), was den Römern im Nachhinein erklärungsbedürftig erschien. Verantwortung wird gern personalisiert.
Nun macht dies alles einen solchen Vorwurf zwar verständlich, aber prinzipiell weder richtig noch falsch. Wir müssen jedoch strenge Kriterien an seine Glaubwürdigkeit anlegen: Er muss in den bekannten historischen Zusammenhang passen (auch chronologisch), und er muss in den Quellen bezeugt sein, und zwar gerade in den zeitnahen Quellen. Beides ist in unserem Fall nicht gegeben. Chronologisch könnte die Geschichte zwar passen (Gerontius wandte sich 409 gegen Constantinus, als dieser ihn ablösen lassen wollte, und die Stammeskoalition kam im Herbst jenes Jahres über die Pyrenäen),42 aber das weitere Verhalten der Beteiligten widerspricht einem Abkommen: Gerontius hat zu keinem Zeitpunkt des Konflikts mit Constantinus von der Kampfkraft der Germanenstämme profitiert43 – und um diese Unterstützung müsste es doch gegangen sein. Die gentes haben auch keinen römischen Rechtstitel in Spanien erhalten (s.u.). Ihn konnte zwar nur ein Kaiser verleihen, aber genau hier hätte der Usurpator Maximus, Gerontius’ Sohn, den dieser 410 zum Kaiser ausrief, helfen können.44 Bezeugt ist ein solcher Verrat im Jahre 409 außerdem weder bei Orosius und Hydatius noch in den bekannten Fragmenten des Olympiodor45 und auch nicht bei späteren Autoren wie Zosimus und Renatus Frigeridus.46 Gerontius’ Öffnung der Pyrenäen für die barbarischen gentes ist also eine spätere Konstruktion, und die Vandalen waren, als sie nach Spanien kamen, nach wie vor Eindringlinge im Römischen Reich.
Dies bedeutete allerdings nicht, dass die militärischen und zivilen Autoritäten in Spanien sich mit den Tatsachen, d.h. der unter den gegebenen Kräfteverhältnissen dauerhaften Anwesenheit der gentes, nicht irgendwann arrangierten. Die ersten zwei Jahre werden von Zeitgenossen zwar als katastrophal beschrieben: Städte und Kastelle wurden erobert, zerstört, geplündert, und in der Folge kam es zu schweren Hungersnöten.47 Gerontius war allerdings nicht völlig machtlos: Constans, den Sohn des Constantinus, vertrieb er im Frühjahr 410 aus Spanien, und im selben Jahr versuchte er (allerdings letztendlich vergeblich), die Hasdingengruppe der Vandalen mithilfe fränkischer Foederaten, die er aus Gallien mitgebracht hatte, zu zerschlagen.48 Dann aber begnügte er sich mit einem schnellen Friedensschluss, proklamierte seinen Sohn zum Augustus und zog früh im Jahr 411 nach Gallien, um sein Glück im Kampf gegen Constantinus zu versuchen.49 In Spanien brach sich nun (wohl bald nach dem Scheitern des Gerontius im selben Jahr)50 bei Römern und Barbaren die Einsicht bahn, dass man besser fuhr, wenn die Provinzialen die Herrschaft der eingedrungenen gentes anerkannten und ihnen einen Teil der erwirtschafteten Lebensmittel auslieferten, als Lohn gewissermaßen dafür, dass diese den militärischen Schutz übernahmen.51 Dies galt natürlich nur für die Gegenden, die sie kontrollierten, und deren Abgrenzungen wurden 411 n. Chr. von ihnen selbst fixiert. Wir können in diesem Zusammenhang erstmals auch auf die Kräfteverhältnisse rückschließen. Denn wir erfahren, dass „die Barbaren, dank Gottes Erbarmen zum Friedensschluss bewegt“, spanische Provinzen unter sich aufteilten, um in unterschiedlichen Gegenden zu siedeln:
„Die Vandalen und die Sueben besetzen Galicien, das im äußersten Westen liegt und am weitesten in den Ozean hereinragt. Die Alanen bekommen die Provinzen Lusitania und Carthaginiensis, diejenigen Vandalen, die den Beinamen Silingen haben, die Provinz Baetica.“52
Dieser kurzen Chroniknotiz sind drei wichtige Informationen zu entnehmen: Zum einen ist erst hier bezeugt, was zweifellos seit Beginn der Wanderung (und schon vorher) galt: Es gab zwei vandalische Teilstämme, die – wohl nach ihren Königsfamilien Hasdingen und Silingen genannt – abgesehen vom gemeinsamen Vandalennamen nicht allzu viel miteinander zu tun hatten.53 Sonst wäre unerklärlich, warum sie sich an zwei weit voneinander entfernten Ecken Spaniens, in Galicien (Gallaecia) und Andalusien (Baetica), ansiedelten. Zum zweiten lässt sich die relative Stärke der Stämme erkennen; die verschiedenen Gebiete wurden ja nicht nach dem Zufallsprinzip erlost,54 sondern entsprachen mit Sicherheit dem Machtverhältnis. Die Alanen standen dabei weit vorn, da sie mit Lusitanien (in etwa das heutige Portugal) und der Provinz von Cartagena mit Abstand das größte Gebiet erhielten. Schon bei der Rheinüberquerung werden die Alanen von den frühen Quellen als Erste genannt.55 Ganz hinten dagegen standen die hasdingischen Vandalen, die sich mit den Sueben die Nordwestspitze Spaniens teilen mussten. Dies passt zum Ergebnis der eben erwähnten Auseinandersetzung von 410 n. Chr.: Die Hasdingen waren nur unter schwersten Verlusten von den Alanen gerettet worden. Die Sueben hatten offenbar eine ähnlich geringe Bedeutung.56 Die dritte Information betrifft die Art der Ansiedlung: Es sind die gentes selbst, die Spanien aufteilen, nicht etwa die römische Führung. Mit keinem Wort erwähnt Hydatius einen barbarisch-römischen Vertrag, und man sollte, da er keinen Grund hatte, ein solches foedus zu verschweigen, die Vandalen deshalb auch nicht als Foederaten ansehen.57
1 Spanien von 411 bis 416 n. Chr.
Allerdings heben die Quellen hervor, wie friedlich die Regelung war. Schon Gerontius hatte ja, bevor er Anfang 411 nach Gallien zog, die Kämpfe gegen die gentes eingestellt. Nach zwei Jahren Krieg waren die Romanen nun bereit, die Wahl der neuen Herren zu akzeptieren, die ihrerseits Sicherheit bieten konnten und die Provinz Tarraconensis im Nordosten der Halbinsel unter römischer Herrschaft beließen.58 Dieses militärisch ungefährliche Zugeständnis hielt einen mit Gallien in Verbindung stehenden Teil des römischen Spanien am Leben, was sicher auch zur Befriedung beitrug.
Die römische Zentralgewalt hatte bei alldem ohnmächtig zusehen müssen; selbst im noch römischen Teil Spaniens hatte ihr Wort erst ab 413 wieder Gewicht.59 In Italien hatte man andere Sorgen, vor allem mit den ehemals vertraglich verpflichteten gotischen Kämpfern des Alarich, die seit dem Tod Stilichos (408) – aus römischer Sicht – außer Kontrolle geraten waren. Im August 410 hatten sie Rom erobert, eine für die damalige Welt unerhörte, erschütternde Wendung. König Alarichs Schwager und Nachfolger Athaulf konnte sich zwar in Italien nicht halten, jedoch nach Südgallien abziehen (und unter anderem Narbonne, Toulouse und Bordeaux erobern). Dort aber wurde er schließlich von Honorius’ Heermeister Constantius ausgehungert und Anfang 415 über die Pyrenäen getrieben.60 Damit war eine weitere barbarische gens in Spanien. Für Constantius, den neuen starken Mann im Westreich, wog die Destabilisierung der römischen Provinz Tarraconensis leicht gegenüber der Ausschaltung seines gotischen Konkurrenten.61
Noch im selben Jahr versuchten die Westgoten unter ihrem neuen König Valia, über die Straße von Gibraltar Africa zu erreichen (wie schon Alarich 410 n. Chr. von Kalabrien aus), scheiterten aber verlustreich an den maritimen Schwierigkeiten einer solchen Unternehmung.62 Ihr Hauptproblem war in den folgenden Monaten eine desolate Versorgungslage, die sie offenbar an den Rand der Katastrophe brachte. Militärische Potenz ließ sich kurzfristig nicht in Getreide umwandeln, falls sie unter diesen Bedingungen überhaupt noch einsetzbar war.63 Nahrung für Zehntausende konnten nur die römischen Logistiker herbeischaffen, denen das ganze Arsenal der Reichsadministration zur Verfügung stand. Die Goten kehrten also Anfang 416 n. Chr. notgedrungen wieder in den Dienst des Imperiums zurück, den sie seit dem späteren 4. Jh. kannten. Alarich war zeitweise lokaler magister militum gewesen, und seine königliche Stellung, die er seinen Nachfolgern vererbte, war ein Ergebnis dieser Verbindung mit dem Reich.64 Vor allem aber hatte sich ein in römischen Diensten trainiertes und erprobtes gotisches Heer gebildet, das den Kämpfern anderer gentes weit überlegen war.
Das foedus, das der Westgotenkönig nun mit Constantius schließen musste, verschaffte ihm sofort 600.000 modii Getreide (umgerechnet ca. 3500 Tonnen, was ungefähr dem Jahresbedarf der Goten entsprochen haben dürfte) und verpflichtete ihn – sicher gegen Zusicherung weiterer Lieferungen im Erfolgsfall – zur Bekämpfung, ja Vernichtung der seit 409 n. Chr. in Spanien siedelnden (anderen) Barbaren, auf eigene Gefahr.65 Angesichts der alten nachbarlichen Feindschaft zwischen Goten und Vandalen mussten sie sich hierzu nicht erst überwinden; eine irgendwie ‚germanisch‘ begründete Solidarität war sowieso nicht vorhanden.66 Es war übliche römische Strategie, gegen barbarische Eindringlinge, wenn irgend möglich, andere barbarische Heere, die aber als foederati zum Dienst verpflichtet waren, in Stellung zu bringen. Das schonte die begrenzten römischen Truppen und ‚beschäftigte‘ die Foederaten. Lokale Abkommen, die Alanen, Vandalen und Sueben in ihren Siedlungsgebieten geschlossen haben mochten, kümmerten Ravenna wenig.
In den folgenden Monaten veranstalteten die Westgoten in römischem Auftrag ein „großes Gemetzel unter den Barbaren“, wie ein spanischer Chronist schreibt. Von den Silingen in Südspanien überlebte, den Quellen zufolge, niemand, was natürlich übertrieben ist, aber es beschreibt den Verlust jeglicher Stammesstruktur. Die Überlebenden der Alanen, die ihr eigenes Königtum und ihre führende Rolle unter den 407 in Gallien eingebrochenen gentes aufgeben mussten, flohen zu den Hasdingen in Galicien.67 Immerhin gingen sie nicht, wie die versprengten Silingen, verloren (oder sofort in den Hasdingen auf), sei es, weil sie dafür zu zahlreich waren und auch einem anderen Sprach- und Kulturkreis angehörten, sei es, weil man ihnen nicht vergaß, dass sie 410 n. Chr. die Hasdingen gerettet hatten. Jedenfalls lautete der in Africa gebräuchliche vandalische Königstitel rex Vandalorum et Alanorum.68
Binnen zweier Jahre hatten also die Goten, ohne es zu wollen, mit Gewalt einen vandalisch-alanischen Großstamm geschaffen. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass dieser und die Sueben, wenn es nach den Goten gegangen wäre, als Nächstes ‚an der Reihe‘ gewesen wären: Zunächst profitierten beide gentes einfach von der Abgelegenheit Galiciens, eine Ironie insofern, als es wohl ihre zahlenmäßige Schwäche war, aufgrund derer sie dorthin abgedrängt wurden. Noch 418 n. Chr. jedoch gab es eine überraschende Wendung: Die Westgoten erhielten aus Ravenna den Befehl, aus Spanien abzuziehen, und sie kamen ihm auch nach, weil ihnen gleichzeitig die Ansiedlung im Südwesten Frankreichs, in Aquitanien, erlaubt wurde.69 Der Grund hierfür ist nirgends überliefert. Am wahrscheinlichsten ist wohl die Hypothese, dass die römische Militärführung zu diesem Zeitpunkt der Meinung war, mit den übriggebliebenen Barbaren selbst fertig zu werden, dass sie zugleich aber Sorge hatte, die Westgoten könnten, blieben sie länger in Spanien, doch noch Zugang zur Seefahrt und damit zu Africa bekommen, das ja schon zwei Mal vergeblich ihr Ziel gewesen war. Wenn dies die entscheidende Überlegung war (Africa hatte für das westliche Imperium tatsächlich eine lebenswichtige Bedeutung), stellt sie ein weiteres Beispiel für die Ironie dar, mit der ‚die Geschichte‘ über weitblickende Pläne hinweggehen kann: Das Ziel, die Goten von Africa fernzuhalten, rettete de facto die Vandalen, die deren unerfüllten Traum dann wahrmachten.
Der Abzug der Goten gab den Vandalen in Galicien zunächst die Möglichkeit, freier zu agieren. Sie versuchten wohl, nun die benachbarten Sueben unter ihre Oberherrschaft zu bringen. Die leisteten Widerstand und verschanzten sich in den schwer zugänglichen Bergen im Norden,70 aber es waren römische Truppen, die einen vandalischen Erfolg und eine weitere Vergrößerung der unter König Gunderich vereinigten gens Vandalorum verhinderten. Asterius, der römische Oberbefehlshaber in Spanien, zwang diese sogar zur Auswanderung; immerhin ging es nach Andalusien. Die genaueren Umstände sind uns unbekannt (offenbar konnte man ihren Zug nach Süden nicht verhindern); Ziel war jedenfalls nicht ihre dortige Ansiedlung, sondern ihre Vernichtung.71 Nun aber kam ihnen erneut der Zufall zu Hilfe: Im Februar 421 stieg Heermeister Constantius zum Augustus und Mitkaiser des Honorius auf, und Asterius zog aus Spanien ab, wahrscheinlich um ihm im Heermeisteramt zu folgen. Schon ein halbes Jahr später starb Constantius in Ravenna, und mit ihm endete diese Phase der Konsolidierung des Westreichs.72
Asterius’ Nachfolger in Spanien, General Castinus, blieb allerdings nicht untätig: Mit einem großen Heer samt gotischen Hilfstruppen gelang es ihm 422 n. Chr., die Vandalen in Andalusien so zu zernieren und von der Versorgung abzuschneiden, dass sie kurz vor der Kapitulation standen. Unsere einzige Quelle liefert dann zwei Gründe, warum er schließlich dennoch als Verlierer nach Tarragona zurückkehren musste: Er habe unbesonnen am Ende doch auf eine Feldschlacht gesetzt und sei dabei von seinen Hilfstruppen verraten worden. Ob Letzteres nur eine Schutzbehauptung des Besiegten wiedergibt, wird sich nicht klären lassen; jedenfalls nutzten die Vandalen die unverhoffte Chance zu überleben, und als im August 423 Kaiser Honorius starb und Castinus Befehlshaber in Italien wurde, war die unmittelbare Gefahr für sie gebannt.73
Allerdings dürfte ihnen klar gewesen sein, dass sie nur Zeit, keine Sicherheit gewonnen hatten. Das Westreich würde die Vandalen auf Dauer nicht in Andalusien dulden, war aber in den folgenden Jahren zu sehr mit sich selbst beschäftigt und zu schwach, um an der Peripherie zu agieren. Kaiser Valentinian III. (der 419 n. Chr. geborene Sohn des Constantius und der Galla Placidia) und seine Unterstützer konnten sich erst 425 gegen Usurpatoren durchsetzen, und als ‚Kinderkaiser‘ war er ganz von seiner Mutter und den sie unterstützenden Heermeistern Felix (in Italien) und Bonifatius (in Africa) abhängig. Diese standen aber in heftiger Konkurrenz zueinander und hatten offenbar genug damit zu tun, ihre eigene Herrschaft zu sichern. Um wirkungsvoll gegen die Vandalen vorgehen zu können, hätte man Hilfstruppen der Westgoten in Marsch setzten müssen; die waren aber unter ihrem König Theoderich I. (418–451) in Aquitanien mittlerweile eher auf Expansion als auf römischen Dienst ausgerichtet und konnten 425 nur mit Mühe (und mit hunnischen Hilfstruppen) davon abgehalten werden, ganz Südgallien zu erobern und ein eigenes Reich zu gründen. Dies alles gab den Vandalen in Andalusien Handlungsfreiheit, und sie begannen bald, von hier aus genau das vorzubereiten, woran die Westgoten gescheitert waren: das Übersetzen nach Africa.
An dieser Stelle muss natürlich ein Wort über die alte, anscheinend unausrottbare Legende gesagt werden, der Name Andalusien (spanisch: Andalucía), bekanntlich von den im 8. Jh. das Land erobernden Mauren in der Form al-andalus eingeführt, gehe auf die Vandalen zurück (‚Vandalucia‘), sei es, weil diese eine Zeitlang in der Baetica ihr Territorium hatten, sei es, weil sie von hier nach Africa aufbrachen. Aber nur auf den ersten Blick kann man in dieser Herleitung etwas Plausibles sehen. Der Historiker muss einwenden, dass nicht zu erkennen ist, warum die Mauren 200 Jahre nach der nur kurzen vandalischen ‚Epoche‘ Andalusiens und sogar knapp 100 Jahre nach dem Ende der Vandalen überhaupt bei der Namensgebung auf diese gens zurückgegriffen haben sollen. Sprachwissenschaftler weisen auf die bei dieser Deutung unerklärliche Endung -us hin. Alternative Namensdeutungen sind zwar auch nicht beweisbar, aber wenigstens widerspruchsfrei. Am wahrscheinlichsten ist die Erklärung, dass es sich ursprünglich um den schon aus vorrömischer Zeit stammenden Namen der später so genannten Stadt Tarifa handelt, wo die Mauren als Erstes landeten.74 Immerhin gäbe es dann einen faktischen Bezug zu den Vandalen, da diese den Hafen von Tarifa sicherlich bei ihrer Überquerung der Straße von Gibraltar nutzten.
Einen ersten Schritt ‚auf das Meer‘ bildete ein erfolgreicher Beutezug zu den Balearen im Jahr 425, sicher mit römischen Schiffen, derer man sich irgendwie bemächtigt hatte. Wichtiger war die anschließende Eroberung von Sevilla und der Hafenstadt Cartagena, was den Vandalen auf einen Schlag eine wirkliche maritime Perspektive eröffnete.75 Über die weiteren Aktionen sind wir nicht informiert, sie werden aber auf dieser Linie gelegen haben. Ziel war nicht, sich dauerhaft in der Baetica zu installieren,76 sondern sie zu verlassen.