Читать книгу Das Königreich der Vandalen - Konrad Vössing - Страница 10
3. Königtum und Ethnogenese
ОглавлениеÜber das frühe Königtum der Vandalen ließe sich auch dann nicht allzu viel sagen, wenn es thematisch angebracht wäre. Hier aber, wo es um das Königreich der Vandalen in Africa geht, kann man sich darauf beschränken, die Unterschiede zum Heerkönigtum der historisch einigermaßen gesicherten Zeit hervorzuheben. Nur für die Frühzeit gibt es einige Hinweise auf eine Verwurzelung des Königtums im Bereich der Religion, später nicht mehr, wenn man auch zugeben muss, dass der Zusammenhang mit kriegerischen Konflikten, der für die Erwähnung der Vandalen bei spätantiken Autoren konstitutiv ist, den Blick verengt und auf militärische Funktionen konzentriert haben könnte. Es ist durchaus möglich, dass der König auch später noch kultische Aufgaben hatte; das jedoch machte ihn noch lange nicht zu einem ‚Sakralkönig‘.77
Wie lange es das ursprünglich bezeugte Doppelkönigtum der Vandalen gab, das sicher auch einen religiösen Hintergrund hatte, wissen wir nicht.78 Für die Könige der Völkerwanderungszeit lässt es sich jedenfalls nicht mehr nachweisen.79 Das Königtum war an eine bestimmte Familie gebunden, die Hasdingen, wobei die Wort-Bedeutung ‚die Langhaarigen‘ darauf hinweist, dass damit ursprünglich keine Familie, sondern eher die gesamte Adels- oder gar Kriegerschicht bezeichnet wurde.80 Die vandalischen Großen genossen zunächst ein ähnliches Ansehen wie der König. Auch das traditionelle Doppelkönigtum der Vandalen spricht dagegen, dass die Königswürde in einer Familie monopolisiert war. Spätestens aber die Auswanderung und die lange Zeit der Existenzkämpfe unter einem Anführer wird ein Heerkönigtum favorisiert haben, das auf dem ‚Königsglück‘ einer einzigen Person und seiner Familie gegründet war.81 Bei der Nachfolge sorgte diese Bindung an den Krieg allerdings dafür, dass nicht nur der Sohn des toten Königs infrage kam, da dieser in militärischer Hinsicht ja vielleicht ganz ungeeignet war.
Dennoch folgte auf Godegisel, unter dem die Vandalen in Mitteleuropa aufgebrochen sowie nach Gallien und Spanien gezogen waren, der wohl im Jahre 410 aber in einer Schlacht gegen fränkische Foederaten des Gerontius gefallen war, sein Sohn Gunderich.82 Bei Gunderichs Tod jedoch (428) waren seine Söhne offenbar noch zu jung, um Nachfolger zu werden, sodass sein Halbbruder Geiserich zum Zuge kam,83 den sein Vater akzeptiert hatte, obwohl er von einer Unfreien geboren worden war. Bei seiner ‚Thronbesteigung‘ war er 40 Jahre alt.84 Zum üblichen Begriff der Thronbesteigung muss man nicht nur deshalb Distanz halten, weil es damals sicher gar keinen Thron der Vandalen gab (vielleicht sollte man eher von der Schilderhebung sprechen), sondern auch, weil überhaupt vieles von dem, was man mit einem Königtum verbindet, in diesem Zusammenhang problematisch ist. Die antiken Quellen gebrauchen den Königstitel (rex, basileus) üblicherweise für Anführer von gentes und gentilen Gruppen, sofern ihre Herrschaft dauerhaft war, unabhängig davon, wie sie in ihrer Sprache bezeichnet wurden. Ein darüber hinausgehender institutioneller Rahmen war nicht erforderlich, und diese ‚Könige‘ treten bis zum 5. Jh. auch oft im Plural auf.85
Gerne wüssten wir mehr darüber, wie der Herrscherwechsel vonstattenging. Im 19. Jh., als man gern von der ‚Gemeinfreiheit‘ als dem typischen Kennzeichen germanischer Kriegergesellschaften ausging, dachte man natürlich an eine Heeresversammlung, die den neuen König wählte. Aber davon erfahren wir bei den Vandalen nichts, und es ist auch sehr unwahrscheinlich, dass das Königtum in dieser Form von einer breiten Zustimmung abhängig war. Sicher aber bedurfte das Königtum der Unterstützung des Adels, und dessen Gefolgschaften waren es wohl eher, auf denen dann die Zustimmung ‚des Volkes‘ beruhte.86 Bezeichnend ist jedenfalls, dass es für die Vandalen Hinweise auf eine feste und alte Regelung der Königsnachfolge gibt, wie sie den Goten offenbar fremd war. Hier haben wir eine sehr spezifische vandalische Tradition, die von König und Adel gemeinsam getragen wurde.87
Überhaupt darf man den König vom Adel nicht allzu sehr voneinander trennen, wie wir eben schon in der Bezeichnungsfrage (Hasdingen = vandalische Adlige = vandalische Königsfamilie) gesehen haben. König und Adel waren gemeinsam die hauptsächlichen Traditions- und Identitätsträger für den ganzen Stamm. Klassisch ist die Formulierung vom hier bewahrten Traditionskern,88 wobei man diese Metapher ebenso wenig wörtlich (im Sinne eines vor Veränderungen geschützten Inneren) wie ‚Identität‘ als etwas Statisches verstehen darf. Aber eine Tradition war schon allein durch die sprachliche Kontinuität gegeben (was natürlich das Erlernen der lateinischen Sprache nicht ausschloss), in der auch und gerade die Geschichte der eigenen gens (mündlich) überliefert wurde.89 Hiervon hat sich zwar bei den Vandalen nichts erhalten, wohl aber bei Langobarden und Goten. Sowohl die Langobardengeschichte des Paulus Diaconus als auch Cassiodors bzw. Jordanes’ Gotengeschichte überliefern einen Sieg über Vandalen als Beginn der traditionellen Erzählung der jeweiligen Stammesherkunft (origo gentis).90 Die vandalische Ursprungssage wird natürlich anders ausgesehen haben. Mit ihr zusammen wurden sicher auch Nachrichten über Großtaten sowie Sitten und Institutionen des Stammes überliefert.
Die Bedeutung von König und Adel für die Eigenständigkeit und für das Selbstverständnis einer gens zeigt sich im Umkehrschluss auch daran, dass es, wenn beide verschwunden waren, relativ leicht gewesen zu sein scheint, den Rest der gens einem anderen Stamm zu assimilieren. Auf diese Weise sind die Silingen vollständig in den Hasdingen aufgegangen, als König und Adel untergegangen waren, und im Grunde gilt dies auch für die Alanen, von denen nach einigen Jahrzehnten wohl nicht viel mehr übrig geblieben ist als ihr Stammesname und ein paar Personennamen.91
Leider wissen wir wenig über die Tracht der Vandalen (unterschied sie sich von der der Goten?) und über ihre Kampfesweise, gar nichts über Heiratssitten, Heldenlieder etc.; ihre sozialen und rechtlichen Praktiken bleiben so fast ganz im Dunkeln.92 Immerhin wurde im vandalischen Africa das spezifische (‚arianische‘) religiöse Bekenntnis als konstitutiv angesehen, und da dieses, wie im nächsten Kapitel ausgeführt wird, erst eine späte Errungenschaft des Gesamtstammes war, sind wir damit beim eminent wichtigen prozesshaften Aspekt der Ethnogenese. Denn diese war, wie gesagt, weder irgendwie prädestiniert noch irgendwann abgeschlossen, vielmehr eine dynamische Entwicklung, bei der die historische Umgebung eine zentrale Rolle spielte. Deshalb sucht die neuere Forschung auch den Begriff ‚Stamm‘ zu vermeiden (von ‚Volk‘ ganz zu schweigen), der auch durch den Zusammenhang mit der ‚Abstammung‘ in eine falsche Richtung weist. Allerdings muss man zugeben, dass die meist gewählte Alternative, der Quellenbegriff gens, eigentlich ähnlich gefährlich ist, jedenfalls wenn man die ‚genetische‘ Wurzel erkennt. Ethnos, die griechische Übersetzung von gens, wäre in dieser Hinsicht unverdächtig, könnte aber über die ‚Ethnologie‘ als Völkerkunde ebenfalls falsche Assoziationen wecken.93 Bleiben wir also bei dem hinreichend verfremdenden Terminus gens und halten fest, dass für die antike Begriffsbildung zwar sehr wohl die Vorstellung der Abstammungsgemeinschaft ursächlich war (noch stärker gilt dies für natio, im Gegensatz zur politischen Konstituierung des populus, besonders natürlich des populus Romanus), die Realität der spätantiken ‚Großstämme‘ aber eine ganz andere war.94
Konkret betrifft dies viele Seiten der ‚gentilen‘ Existenz der Vandalen. Vom Königtum war schon die Rede; auch wenn die Hasdingen niemals (wie der Terwinge Alarich und einige seiner Nachfolger) einen römischen Titel führten, ist doch klar, dass die in den ‚Wanderjahren‘ nötigen Kontakte mit Römern und anderen gentes und die immer wieder erforderlichen schnellen und weitreichenden Entscheidungen die Position des Anführers dauerhaft stärkten, ja seine Stellung neu formten. Dies gilt aber auch für andere Lebensbereiche, besonders für die Frage der Stammeszugehörigkeit. Wie auch immer sie sich in Mitteleuropa dargestellt haben mag, unter den historischen Bedingungen eines fast permanenten Umherziehens und Kämpfens und einer ebenso dauerhaften Bedrohung durch Hunger, andere ‚Barbaren‘, lokale Verteidiger oder römische Bewegungstruppen musste sie sich erheblich verändern, und zwar in Richtung einer sehr pragmatischen Offenheit. Es war geradezu überlebenswichtig, erlittene Verluste schnell durch Neuzugänge ausgleichen zu können. Nicht eine vandalische Herkunft oder gar eine Vertrautheit mit vandalischen Traditionen waren nötig, um in dieser Zeit ‚dazuzugehören‘, nur eine Unterwerfung unter den Befehl des Königs. Höchstwahrscheinlich haben davon auch enttäuschte oder entwurzelte Römer in Gallien und Spanien profitiert. Freilich hatte diese Flexibilität ihr Gegengewicht in der Hasdinger-Tradition, wie sehr sie sich auch realiter veränderte. Und die Abhängigkeit der ‚Vandalendefinition‘ von den historischen Bedingungen barg die Möglichkeit (was gern übersehen wird), dass diese bei Bedarf auch wieder enger gefasst wurde. So gehörte in Africa, wie gesagt, ein der Kirche der Romanen entgegengesetztes religiöses Bekenntnis dazu; es wurde zu einer Art Loyalitätsausweis, ja zum Abgrenzungsmittel gegenüber einer ‚nicht vandalischen‘ Umgebung.95