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5. Die Eroberung Karthagos (439)

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Die nächste Etappe der Vandalengeschichte beginnt mit einem Paukenschlag. Am 19. Oktober 43954 bemächtigten sich Geiserichs Vandalen im Handstreich der schwer befestigten Stadt Karthago (ihre Mauern waren erst gut zehn Jahre zuvor restauriert worden55), in der es wohl ebenso viel waffenfähige Männer gab wie Vandalen insgesamt.56 Wie war das möglich?

Die lakonisch knappen Quellen sprechen von List und Betrug Geiserichs unter dem Deckmantel des Friedens.57 Anzunehmen ist, dass man die Vandalen deshalb an die Stadt heran- und in sie hereinließ, weil man an ihre friedlichen Absichten und an ihre Vertragstreue glaubte. Vermutlich war die den Vandalen im Vertrag von 435 auferlegte Kooperation bislang akkurat geleistet worden; vielleicht hing ihre Ankunft sogar damit zusammen und schien so legitimiert. Dass die Annäherung der vandalischen Reiter in Karthago, wo das städtische Leben seinen üblichen Gang nahm, keinen Verdacht erregt zu haben scheint, dürfte darauf hindeuten, dass sie nicht zum ersten Mal in der Stadt waren.58

Karthago und seine Bewohner teilten jetzt das Schicksal der 429/430 n. Chr. eroberten Städte der afrikanischen Provinzen.59 Zerstört wurde ihre unumstrittene Hauptstadt jedoch nicht, denn sie war als neuer Königssitz ausersehen – somit war Karthago die erste römische Großstadt, die dauerhaft in der Hand von ‚Barbaren‘ blieb. Victor von Vita erwähnt allerdings die Zerstörung des Theaters und des Odeons (eines überdachten Konzertgebäudes), die in seiner Zeit mit der vandalischen Eroberung in Verbindung gebracht wurde.60 Unwahrscheinlich, dass diese Erinnerung schon nach 50 Jahren nicht mehr zuverlässig war. Es gibt zudem in einer Schrift des Zeitzeugen und karthagischen Bischofs Quodvultdeus eine Bestätigung, und wir wissen, dass das Gelände des Theaters später als Bestattungsplatz diente.61 Dass die Schäden jedoch bei Kampfhandlungen entstanden,62 ist wenig wahrscheinlich, da die Quellen von römischem Widerstand nichts wissen und ein weiterer Komplex in Karthago, der im Zuge der Eroberung in Mitleidenschaft gezogen wurde, mit den Theaterbauten in inhaltlicher Verbindung stand (aber wohl am anderen Ende der Stadt lag). Die Frage wird später noch einmal aufgegriffen.63

Was genau Geiserich zu diesem Überraschungscoup bewogen hat, wissen wir nicht. Machte einfach die Gelegenheit den Dieb? Oder sollte man vermuten, dass Westroms Einigung mit Theoderich I., die den Westgoten (den traditionellen Feinden der Vandalen) sehr weit entgegenkam, dem Vandalen den Eindruck vermittelte, isoliert und trotz des römischen Bündnisvertrages in Africa nicht sicher zu sein?64 Jedenfalls hat der König mit diesem eklatanten Rechtsbruch seine Karten keineswegs überreizt. Zwar hatte er nun in römischen Augen verständlicherweise jeden Kredit und jede Legitimität verspielt, Westrom aber hatte einfach keine Möglichkeit, ihn zur Rechenschaft zu ziehen – jetzt weniger als je zuvor. Denn die Vandalen hatten nun plötzlich nicht nur die gesamten Machtmittel der Proconsularis in der Hand (die „Seele des Staates“, wie ein Zeitgenosse klagte65), sondern mit Karthago auch die zweitwichtigste Stadt des Westens samt ihren Häfen und Schiffen. Und Geiserich wusste, wie er dies alles einzusetzen hatte: Er unternahm sofort Plünderungsfahrten nach Sizilien, Sardinien und Süditalien66. Dadurch demonstrierte er, wozu er jetzt in der Lage war und was Italien von einem vandalischen Feind künftig drohen würde.

Dabei kam es gar nicht so sehr darauf an, dass jede dieser Unternehmungen erfolgreich war; entscheidend war das Gefühl der Unsicherheit, das die vandalischen Schiffe im Frühjahr 440 n. Chr. verbreiteten.67 Zwar traf es nur die Küstenstädte; gerade die Häfen Siziliens und Sardiniens, der beiden dem Westreich noch verbliebenen ‚Getreidespeicher‘, waren aber durchaus wichtig.68 Man war alarmiert und sollte es auch sein. Doch letztlich handelte es sich bei diesen Attacken Geiserichs nur um Entlastungsangriffe zur Verteidigung seines gerade gewonnenen wichtigsten Beutestückes, Karthago und der Proconsularis, nicht etwa um Okkupationen.

Alles kam wieder einmal auf Konstantinopel an, und der Kaiser des Westens bat seinen Vetter dringend um Hilfe. Auch Theodosius war erbost und entschlossen, der barbarischen Treulosigkeit ein Ende zu machen69: Es wurde eine gewaltige Flotte bemannt und nach Sizilien entsandt. Geiserich ließ die vandalischen Schiffe nach Karthago zurückkehren, von wo aus er Gesandte ausschickte.70

Das Agieren dieser Expeditionsarmee ist vielleicht symptomatisch für die gesamte Erfolgsgeschichte Geiserichs: Im Frühsommer 440 trafen die Schiffe auf Sizilien ein.71 Fünf verschiedene Befehlshaber werden genannt. Zwar war die vandalische Flotte den byzantinischen Kriegsschiffen keinesfalls gewachsen (sie verschanzte sich also in Karthago), aber es kam niemand. Die byzantinischen Soldaten verzehrten monatelang das sizilische Getreide, und sonst geschah nichts.72 Es ist nicht überliefert, aber doch plausibel: Aspar hatte – schon die Zahl der Befehlshaber erleichterte das – mittelbar oder unmittelbar seine eigene Einschätzung der Vandalenfrage zur Wirkung gebracht, und die lautete: laissez faire! 73

Dass dies nur darauf zurückzuführen war, dass er niemandem einen Erfolg gönnte, den er selbst nicht errungen hatte, ist wenig glaubhaft. Schon 431–434 hatte er ja, so unsere Interpretation, eine von seinem Kaiser abweichende Sicht gehabt. Der konnte zwar den Befehl geben, die Ausführung lag aber bei seinen Generälen, und auf die war er – hierin unterschied ihn damals nicht viel vom Westkaiser – regelrecht angewiesen. Aspar scheint es auch nach der Eroberung Karthagos vorgezogen zu haben, mit den Vandalen zu rechnen, als das Westreich zu stabilisieren.74 Geiserichs Leistung war es, diesen tiefen Gegensatz erkannt und konsequent genutzt zu haben. Jedenfalls: Da die Nord- und Ostgrenzen durch Hunnen und Perser angegriffen wurden, gab es in den ersten Monaten des Jahres 441 einen guten Grund, das ganze Unternehmen abzubrechen.75

Valentinian war nun erkennbar völlig hilf- und chancenlos. Ihm blieb nichts anderes übrig, als dem Vandalen die gewünschte Anerkennung seiner Eroberung zu gewähren, was in den Vertrag von 442 n. Chr. mündete. Für Geiserich und die Vandalen wurde das Jahr 439 n. Chr., in dem sie Karthago eroberten, zum ersten Jahr einer neuen Zeitrechnung76 und eines eigenen Reichsverständnisses. Jetzt begann tatsächlich ein neuer Abschnitt der Vandalengeschichte, ja man hat zu Recht von einer Art Staatsgründung gesprochen.77

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