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Ein neuer Anfang

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Ich bin Alina, 16 Jahre alt und ich komme aus Köln. Eigentlich war mein Leben bisher völlig unspektakulär gewesen, bis mein Papa entschied, nach Japan zu ziehen und einen neuen Job als Personenschützer in der deutschen Botschaft anzunehmen. Im Flugzeug werfe ich einen Blick in die Selfie-Kamera meines Handys und richte meine langen, dunkelblonden Haare zurecht. Angst vor meinem neuen Leben habe ich nicht. Denn ich habe vor nichts Angst. Und die japanische Sprache und Schrift habe ich in weniger als einem Jahr gelernt. Trotzdem bekomme ich ein mulmiges Gefühl, als würde in diesem neuen Leben etwas auf mich warten, was ich mir niemals hätte vorstellen können.

»Willkommen in Tokio«, sagt mein Papa, während wir durch den großen, von Menschenmassen überfüllten Flughafen gehen.

Ich rolle mit den Augen.


»Boha, Papa! Das spricht man mit zwei langen »ooo« aus. Das wird schließlich mit den Hiragana to-u-ki-kleines-yo-u geschrieben.«

Der zwei-Meter große Glatzkopf, der aus der Masse doch ziemlich heraussticht, schaut mich grinsend an. Selbst der schicke schwarze Anzug, den er für seinen Job als Bodyguard trägt, kann seine muskulösen Arme nicht verbergen.

»Und überhaupt«, meckere ich weiter. »Wie stellst du dir vor, zwei Jahre in Japan zu wohnen, wenn du kein Wort Japanisch sprichst?«

Er zuckt mit den Schultern. »Dafür habe ich doch dich.«

»Nicht dein Ernst …«

»Wie weit bist du denn im letzten Jahr gekommen?«

Ich überlege kurz und halte dann an. Schnell hole ich mein Smartphone aus der Hosentasche und überprüfe den Stand meiner App.

»Ich spreche Nihongo auf dem Level B2 und kann aktuell 2333 Kanjis auswendig lesen und immerhin 450 davon schreiben.«

»Du kannst also Animes schauen und dabei gleichzeitig Pizza essen«, fügt Papa mit stolzem Gesichtsausdruck hinzu, als hätte ich gerade Kacken gelernt. Wenn er mit mir spricht, muss er sich immer so nach unten beugen, dass ich mir manchmal Sorgen mache, dass er dadurch Rückenprobleme bekommt. Im Gegensatz zu ihm bin ich gerade mal 1.50m groß und eher schmal und zierlich. Ich wiege wahrscheinlich nur ein Drittel von dem, was er auf die Waage bringt.

»Freust du dich schon auf deinen ersten Schultag?«, fragt Papa dann, während wir die große Halle verlassen und den richtigen Bus auf dem großen Platz davor suchen.

»Klar«, fauche ich sarkastisch. »Ich liebe Schule. Wer tut das nicht in meinem Alter? Wir müssen den Bus ろ百にじゅうに1 nehmen.«

Der Glatzkopf kratzt sich an seinem nicht vorhandenen Bart. »Welchen?«

»Den da!« Ich zeige darauf und verkneife mir ein weiteres Augenrollen. Wie stellt der sich das eigentlich vor, in diesem Land zurechtzukommen, wenn er ohne seine Zwergtochter hier nicht einmal in den Supermarkt gehen kann?

Wir gehen mit unseren großen Rollkoffern auf den richtigen Bus zu, während ich den ersten Blick auf dieses merkwürdige Verkehrssystem werfe.

»Ich bin verwirrt«, jammere ich. »Das fühlt sich so falsch an. Mein Gehirn platzt.«

»Wir fahren im Linksverkehr ja nicht selber Auto. In dieser Stadt gibt es einen guten ÖPNV.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Stell dir vor«, fügt Papa hinzu. »Hier kommt der Zug nicht eine Minute zu spät, es gibt überall Mobilfunkempfang und sogar die Kassiererinnen sind nett.«

»Yakuza, Schuluniformen, veraltete Rollenbilder …«, berichtige ich ihn. »Jedes Land hat seine Vor- und Nachteile!«

»Sushi!«, hält Papa dagegen und ich muss zustimmen. Ich liebe essen! Auch wenn ich trotzdem schlank wie eine Scheibe Toastbrot bin.

»Du kannst froh sein, dass ich so ein Sprachgenie bin!«, meckere ich meinen Vater an, als wir den großen Plattenbau erreichen, in dem sich unsere neue Wohnung befinden soll. »Ohne mich, hätten wir nie hierher gefunden.«

»Es liegt nicht nur daran.«

»ICH WEIß!«, fauche ich ihn mit scharfer Stimme an und baue mich vor ihm auf. »Das war so peinlich gerade, als du nicht in den Sitz gepasst hast.«

»Ich habe reingepasst!«

»Dann wäre er nicht nach zwei Haltestellen durchgebrochen!« Verdammt. Jemand muss es dem Glatzkopf sagen, bevor es zu spät ist. »Papa, für Japan musst du abnehmen! Die Menschen hier sind eben … etwas mehr so … かわいい2

Peinlich berührt schaut der Riese auf den Boden. »Ich habe einen Körperfettanteil von 9%. Was soll ich denn da abnehmen?«

»Du solltest aufhören, den ganzen Tag zu trainieren!«

»Als Bodyguard muss man …«

»Ja genau!«, unterbreche ich ihn scharf. »Du willst Bodyguard sein. Nicht Weltmeister im Waschmaschinenweitwurf!«

Statt auf die schnippische Bemerkung zu reagieren, dreht er sich auf einmal um 180 Grad. Ich erkenne warum. Wir versperren den Eingang des Plattenbaus und ein Mädchen in einer Schuluniform und einem Rucksack steht etwa drei Meter entfernt und schaut zu uns. Sofort gehen wir zur Seite.

»すみません3 «, entschuldige ich mich auf Japanisch und verbeuge mich dabei. »Wir haben dir den Weg versperrt.«

Das Mädchen hat lange schwarze Haare, sehr helle Haut und ist etwa so groß wie ich. Sie scheint in meinem Alter zu sein. Ihre Augen wirken überrascht. Hat sie vielleicht nicht damit gerechnet, dass ich mich, als Ausländerin, akzentfrei und korrekt in ihrer Sprache entschuldige?

Mein Papa schaut verwundert zu mir, als wir feststellen, dass das Mädchen immer noch keine Anstalten macht, an uns vorbeizulaufen. Ängstlich bleibt sie wie angewurzelt stehen und wirft verstohlene Blicke zu dem Riesen.

»Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben«, erkläre ich ihr lächelnd. »Mein Papa sieht vielleicht stark aus, aber er hat eine Schwachstelle.«

»Was?«, fragt sie mit großen Augen. »Eine Schwachstelle?«

»Er ist total kitzelig. Du musst ihn nur an der Seite berühren und er kreischt wie ein kleines Baby.«

Kurz schmunzelt das fremde Mädchen. Ich zeige auf den Eingang des zehnstöckigen Plattenbaus.

»Wohnst du hier?«, frage ich.

Sie nickt. Ich reiche ihr die Hand.

»Cool. Wir ziehen heute hier ein. Ich heiße Alina. Wir kommen aus Deutschland.«

Nach kurzem Zögern kommt sie einen Schritt auf mich zu und verbeugt sich, statt meine Hand zu greifen. Gerade, als ich peinlich berührt mein Patschhändchen wieder wegziehen wollte, packt sie dieses und gibt mir einen schlaffen Händedruck.

»Freut mich dich kennenzulernen«, sagt sie mit fast flüsternder Stimme. Ich glaube, ich habe noch nie ein so schüchternes Mädchen erlebt … »Ich heiße Nomi Hattori.«

»Freut mich. Ähm …« Ich fange an zu stottern und starre auf ihr linkes Auge. Jetzt, wo sie nähergekommen ist, fällt es mir auf. Die Iris ist weinrot, während ihr rechtes Auge fast schwarz ist.

»Das sieht ja cool aus«, staune ich. »Sind das Kontaktlinsen?«

Nomi reißt erschrocken die Augen auf und holt aus ihrer Umhängetasche einen kleinen Schminkspiegel. Kurz darauf hält sie sich das linke Auge zu und läuft aufgebracht an uns vorbei.

»Es tut mir leid!«, wimmert sie, öffnet die Tür mit einem Schlüssel und verschwindet im Gebäude.

Mein Papa und ich schauen uns verwundert an.

»Das lief gut oder?«, fragt er auf Deutsch. »Ich habe von eurer Unterhaltung zwar kein Wort verstanden, aber dein Japanisch funktioniert. Oder ist sie weggelaufen, weil du sie erschreckt hast?«

»Ich weiß nicht …«

Der Riese legt den Arm um mich und wir gehen mit unseren Rollkoffern hinein. Ich bin immer noch verwirrt. War es unhöflich von mir gewesen, ihre Kontaktlinsen anzusprechen? War Nomi das peinlich gewesen?

»Und du sagst, ich würde den Menschen hier Angst machen«, lacht Papa. Ich kneife ihn in die Seite und er kreischt im Treppenhaus wie ein Dudelsack im Stimmbruch.


Fear Of The Void Vol. 01

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