Читать книгу Abstufung dreier Nuancen von Grau - Kristiane Kondrat - Страница 10
ОглавлениеEs ist mein fester Vorsatz, bis an den Stadtrand zu fahren. Hier bin ich anscheinend noch mitten im Stadtkern, es ist helllichter Tag, und trotzdem sieht alles so aus wie bei meinem ersten Besuch zu Hause, als es bei meiner Ankunft später Abend war. Es war nach langer, fast endgültiger Abwesenheit mein erster Besuch zu Hause. Vielleicht ist es die Menschenmenge auf dem Platz, die mich daran erinnert.
Damals war ich spät am Abend angekommen und stand an jenem Platz im Zentrum, an dem ich umsteigen sollte. Ich konnte die Umsteigehaltestelle nicht mehr finden. Nach einer hoffnungsvollen Anreise mit vorweggenommener Wiedersehensfreude plötzlich dieses Gefühl der Fremdheit und Gefährdung.
Ein zerpflückter Menschenhaufen bewegte sich in jenem hartblauen Neonlicht, das die ganze Landschaft bläulich verfremdete, den großen mathematisch gepflasterten Platz, der an zwei Seiten von den parallelen Linien der Straßenbahngleise durchstrichen und neutralisiert wurde. Das beleuchtete Ahornlaub junger Bäume warf Scherenschnittmuster auf den Asphalt des Gehsteigs. Die Männer und Frauen auf dem Platz wirkten aufgescheucht bis erwartungsvoll erregt. Sie sprachen viel und gestikulierten lebhaft. Ich war schon lange nicht mehr in dieser Stadt gewesen, stand nun auf einem etwas erhöhten Platz, von dem aus ich alles überblicken konnte, und suchte mit den Augen nach den Kennzeichen einer Straßenbahnhaltestelle. Sie hätte hier in der Nähe sein müssen. Da waren wir immer eingestiegen, um bis an den Stadtrand zu fahren, wo die Häuser klein und die Gesichter der Leute immer die gleichen sind. Vielleicht war die Haltestelle verlegt worden, und ich suchte hier vergeblich. Es fuhr auch keine Bahn vorbei, als wären es tote Gleise.
In der Handtasche hatte ich noch zwei Münzen für die Fahrkarte, über mehr Geld in der Landeswährung verfügte ich nicht, meinen Koffer hatte ich am Bahnhof deponiert. Ich hoffte, die Haltestelle zu finden, hoffte auf eine späte Straßenbahn, die mich an den Stadtrand bringt, wo man auf mich wartete. Meine Handtasche mit den letzten Groschen fest umklammernd, wagte ich mich treppab auf den großen karierten Platz und versuchte durch die Menschenmenge hindurch auf die andere Seite zu gelangen, da ich dort die verschollene Haltestelle vermutete.
Die Leute hatten sich hier versammelt, um auf einen Kometen zu warten, der in Radio und Fernsehen angekündigt worden war. Vielleicht auch in der Zeitung, doch die Leute hier hielten sich mehr an das, was sie mit ihren Ohren hörten, und wollten es nun auch mit den Augen sehen. An das gedruckte Wort glaubten sie schon lange nicht mehr.
Ich hatte die Lokalzeitung dieser Stadt länger nicht mehr gelesen und seit einigen Tagen, seitdem ich unterwegs war, keinen Sender mehr gehört, so dass ich nicht im Bilde war über das, was in der Welt und im Weltall geschah. Die Menschen standen jetzt nicht mehr raunend umher, eine unruhige Bewegung, die in irgendeiner Ecke ihren Anfang genommen haben musste, vervielfältigte sich und überschwemmte den großen Platz. Grüppchen und einzelne verschoben sich, einem unbekannten Bewegungsgesetz folgend, auf dem Mathematikblatt, ohne Engpässe oder schwere Zusammenstöße zu verursachen. Die im Ahornschatten Gefangenen flossen aus ihrem Muster aus, mündeten in die Helle ein und ließen das Gewimmel auf dem Platz enger werden, so dass man die Karos nicht mehr erkennen konnte. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen, die andere Seite erreichen zu wollen.
Die Plattform, auf der ich gestanden hatte, war das Rechteck jener eklektischen Akropolis, die ich als Kind so andächtig bewundert hatte, ein Kirchenbezirk, zu dem vom großen Platz unendlich breite Stufen hinaufführten. Die Breitseiten und die Rückseite des heiligen Areals waren durch eine hohe Mauer gegen den Rest der Stadt abgeschirmt, die Gotteshäuser standen dicht gedrängt nebeneinander und blieben sich fremd. Ich ging die Stufen wieder hoch, auf die sich fremd gegenüberstehenden Gotteshäuser zu. Erst als ich oben war, stellte ich fest, dass meine Hände leer waren, jemand in der Menge musste mir im Gedränge die Handtasche entrissen haben. Ich konnte nun nicht mehr mit der Straßenbahn fahren, es hatte also auch keinen Sinn mehr, die Haltestelle zu suchen. Bei einer Fahrkartenkontrolle wäre ich ihnen ausgeliefert gewesen, man hätte mich nach meinen Papieren gefragt, und die waren am Bahnhof geblieben. Ohne Papiere war man vogelfrei. Was ich noch hatte, war eine Adresskarte in der rechten Jackentasche. Die aber nutzte mir jetzt nichts mehr. Mir fiel Andrea ein, doch ich wusste nicht mehr den Weg zu ihrer Wohnung.
Der gewaltige Bau und die Fremdartigkeit der byzantinischen Kathedrale, die sich an die linke Mauer des Tempelbezirks lehnte, erregten meine Neugier. Ich war früher nie in dieser Kirche gewesen, hatte mich immer gescheut, da hineinzugehen. Durch das weitgeöffnete Portal strömten Helle und Gesang heraus, man feierte einen Gottesdienst. Es zog mich hinein: Auf Zehenspitzen trat ich unter die segmentierten Rundbögen, blieb hinter einer gewundenen Säule stehen, die mich in ihrer Schlankheit nicht verdecken konnte. Trotzdem beobachtete mich keiner, vielleicht empfand man mich auch gar nicht als Eindringling.
Die riesigen Gestalten der Priester bewegten sich schnurgerade und langsam auf die Gläubigen zu. Sie spendeten Weihrauch aus silbernen Kelchen, die an silbernen Ketten hingen. Die eigenartige Musik dieser Ketten fesselte alle Versammelten und mich Anwesende. Eine Unmenge hoher, schlanker Wachskerzen brannten und verstärkten das Licht, das von den Wänden kam. Alles ringsum war in Gold gefasst und goldgetränkt. Auch der Gesang der Chöre war weißes und rotes Gold, sie sangen tief und hoch, und ich war lange Viertelstunden in diesem Gesang gefangen. Ich wäre verlorengegangen, hätte ich noch länger hier verweilt. Müde von dem östlichen Glanz, mit brennenden Augenlidern, verließ ich die Kathedrale auf Zehenspitzen, wie ich gekommen war. Erleichtert und froh, dass ich wieder draußen stand, hatte ich nicht gemerkt, dass mir jemand aus der Kirche gefolgt war.
Aus der Helle ins Dunkle getreten, sah ich überall schattenhafte Gebilde um mich herumschwirren, ohne klare Konturen wahrnehmen zu können. Die verschwommene Gestalt sah ich erst, als sie knapp neben mir stand und ich spürte, wie mich jemand berührte. Als die Gestalt davonrannte, wusste ich, dass mir etwas entwendet worden war. Meine Taschentücher waren noch da, doch die Karte mit den Adressen fehlte: Sie waren wieder auf meiner Spur. Ich hatte sagen hören, es wäre immer schon so gewesen, dass die Kirche ein Ort der Zuflucht, dass man hier vor Zugriffen sicher sei, dass Macht und rohe Gewalt hier nicht eindringen dürfe. So wünschte ich mir, dies Gesetz wäre noch in Kraft, und flüchtete in die Kirche nebenan.
Ein mildes Dämmerlicht kam von den Kerzen in den Nischen. Links vom Hauptaltar stand wie eh und je der Heilige Antonius, dem wir als Schüler vor schriftlichen Arbeiten Zettelchen mit der Bitte um Beistand zugesteckt hatten. Die Messe war schon zu Ende. Einige Frauen saßen noch in den Bänken, sie erhoben sich einzeln von ihren Plätzen. Die erste trug einen Parade-Reitanzug: rote Jacke, weiße Hose, blankgeputzte schwarze Stiefel und Reitkappe. Die anderen Frauen trugen Mantel und Hüte. Ich stellte fest, dass ich ohne Kopfbedeckung war. Die in den Bänken verbliebenen Frauen unterhielten sich flüsternd in einer mir unbekannten Sprache. Alle hatten abweisende, kalte Gesichter, jeder Muskel unverrutschbar eingerastet, und glitten, nachdem sie sich mit einem tiefen Kniefall bekreuzigt hatten, mit erhobenem Kinn und halbgeschlossenen Augen dem Ausgang zu. Wie sie so mit auf Halbmast gesenkten Lidern einzeln an mir vorbeigingen, wirkten sie so unwirklich, dass ich nicht den Mut hatte, sie anzusprechen und nach dem Weg zu fragen. Da kam als letzte eine Frau mit einem gutmütigen Bauerngesicht auf mich zu, lächelte freundlich und sprach mich in meiner Sprache an. Ich war froh, vertraute Worte zu hören und mich verständlich machen zu können. Die Frau schien zu ahnen oder zu wissen, dass mir etwas widerfahren sein musste, denn sie fragte, was passiert sei, ich könne es ihr anvertrauen. Da erzählte ich ihr von meinem Missgeschick. Sie wollte Näheres wissen, schien teilzunehmen und mir helfen zu wollen, fragte immer weiter nach Einzelheiten. Ich schilderte ihr alles genau, sie hörte mir geduldig und aufmerksam zu, ihre Augen weiteten sich, während ich erzählte. Als sie alles erfahren hatte, nickte sie mir einen kurzen Abschiedsgruß zu und entfernte sich durch die offene Kirchentür: Sie war nur neugierig gewesen. Und als ihre Neugier gestillt war, ging sie, ohne ein Wort zu sagen, weiter.
Mir fiel ein, dass mein Vater stets in einer dunklen Ecke der Kirche zu beten und dabei einzunicken pflegte. Ich hatte ihn immer wieder wachrütteln und nach Hause bringen müssen. Nun wollte ich gerade damit beginnen, alle dunklen Winkel der Kirche abzusuchen, da kam er mir bereits entgegen, zuerst nur sein Schattenriss, in dem ich ihn dann wahrnehmen konnte, so, wie er früher gewesen war. In der Kirche wurden alle Lichter einzeln gelöscht, das tat mein Vater selbst, den ich so spät wahrnehmen konnte, so spät nach seinem Schattenriss, da ich ihn für den Kirchendiener gehalten hatte. Es war auch der Kirchendiener, nur hatte ich nicht gewusst, dass mein Vater Kirchendiener geworden war.
Wir gingen hinaus und die Treppe hinunter, ich erzählte ihm, wie mir zuerst die Handtasche mit dem Kleingeld für die Straßenbahn und dann die Adresskarte abhanden gekommen waren. Er versprach mir zu helfen, die Tasche wiederzufinden, ging auf die Suche, verlor sich in der Menge auf dem großen Platz. Mein Vater kam nicht mehr zurück. Irgendwo aus der Menge kam mir dann meine Mutter entgegen, sie blieb aber nicht lange, sie sagte, sie müsse jetzt gehen, sie könne nicht länger bleiben. Sie hatte es sehr eilig, sie hatte es immer eilig gehabt, es war ihr nicht viel Zeit gegeben.
Mir war die kurze Begegnung mit ihr etwas peinlich, weil sie angefangen hatte zu weinen, und ich wollte nicht, dass sie vor den vielen Leuten hier weinte, deshalb erzählte ich ihr auch nichts von meiner gestohlenen Handtasche und der Karte. Sie wird sich wundern, dass ich sie nicht besuche, dachte ich. Doch ich hatte ja kein Geld und keine Adresse mehr.
Meine Handtasche hatte ich dann doch noch gefunden, sie lag am Straßenrand, viele waren darauf getreten, man sah das an den Fußspuren. Die zwei Münzen waren auch noch da, davon kaufte ich mir Eis beim Eismann, der seltsamerweise um diese späte Stunde noch dastand, unter einem Ahornbaum, abseits des Menschengewimmels. Haselnusseis kaufte ich mir, das war schon als Schulmädchen mein Lieblingseis gewesen. Erst als ich die Waffel herunterwürgte, Waffeln mochte ich nie, wurde mir klar, dass ich soeben mein Geld für die Straßenbahn verspeist hatte, dass ich nun über kein Fahrgeld mehr verfügte. Die Adresse fiel mir wieder ein, ich hätte keine Adresskarte mehr gebraucht, es war Delias Adresse, die mir einfiel, Delia hätte mir weiterhelfen können, die anderen zu finden, ich hätte hinfahren können und alle besuchen, auch den Friedhof. Ich hätte es tun können, wenn ich das Fahrgeld noch gehabt hätte.
Dann fiel mir ein, dass ich irgendwo noch Delias Schlüssel haben musste. Den hatte ich aufbewahrt und trug ihn stets bei mir, wo immer ich mich aufhielt. Delias Wohnung konnte man vom Zentrum der Stadt notfalls auch zu Fuß erreichen. Es war ein weiter Weg, doch auch wieder nicht so weit, dass man ihn nicht hätte bewältigen können: Ich war oft zu Fuß dort hingegangen und dann wieder nach Hause gekommen, wenn spät abends kein Bus mehr fuhr. Je weiter ich ging, desto vertrauter wurden mir die Straßen dieser Stadt wieder. Bekannte Straßenbilder kamen mir entgegen und weckten Erinnerungen an gegangene Wege und vergangene Ziele: Häuser und Wohnungen mit Namensschildern. Erleichtert atmete ich auf, als ich den Schlüssel in der linken Hosentasche mit den Fingerspitzen ertasten konnte.