Читать книгу Abstufung dreier Nuancen von Grau - Kristiane Kondrat - Страница 8
ОглавлениеSie hatte ganz harmlos und unscheinbar dagesessen, stumm eingepuppt. Mit unbeteiligten Fischaugen saß sie auf ihrem Klappstuhl, ins Leere stierend, sie saß ihr zerrinnendes Warten ab, regungslos wie in der Fotografie einer trostlosen Bahnhofshalle, in diesem wandumstellten Wartezimmer. Ein müder Schein des schrumpfenden Tages fiel durch die Fensterscheibe herein. Als er weitergezogen war und im Raum das elektrische Licht angeknipst wurde, weiteten sich plötzlich die Wände und strebten auseinander. Die in ihrer violetten Mitte festgeschnürte Frau wartete ihr raumträchtiges Warten zwischen den sich weitenden Innenwänden. Sie saß stumpf und unbewegt, nur ein klitzekleines Lauern in den Augenwinkeln des noch tiefschwebenden Meerestiers war da, ein Bläschen, das hochstieg, kurz auftauchte und an der Oberfläche platzte. Ihr Blick mit dem geborstenen Lauern sah aus wie der eines Kraken: Ab und zu zuckte das Meerestier zwischen den Aquariumwänden.
Die Sprechstundenhilfe war schon lange nicht mehr im Türspalt erschienen, um einen Namen auszurufen oder die mannigfaltigen Geschehnisse zu verkünden, die sich da draußen abgespielt haben mussten, die sich lange vorher angekündigt hatten, weil sie ständig sich ablösende Kunden, aber in keiner Weise kundig sind. Die Kunde wird sie jedoch hier nie erreichen, sie warten immer wieder vergeblich.
Der blasse, dicke Knabe neben ihr, der stilldicke Knabenstill, blass und fromm, er saß im Schweben, der Sohn eines Kraken. Er war mit seinem Klappstuhl verwachsen, der Klappstuhl schwebte mit. Die Mutter, in rosa Söckchen gezwängt, mit violettstrotzenden Adern, in denen das verbrauchte Blut pulsierte. Die Füße mit den rosa Söckchen waren eingezwängt in enge pechschwarze, glänzende Lackschuhe, einer davon entschieden in die linke Zimmerecke weisend.
Mit der kohlrabenrechten Schuhspitze, raumteilend und präzisierend, wies sie in eine bestimmte Richtung: Von ihrer Schuhspitze ging eine Linie aus, die den wartenden Raum in zwei Warteteile trennte. Es gab nun nach dieser Einteilung die rechts von der Schuhspitze Wartenden und die links von der Schuhspitze Wartenden. Die Hüften der Frau aber flossen fliederfarben und weit auseinander und übergossen sich unter der Schürze des modischen Dirndls. Aus dem Brusttuch kroch schließlich der langerwartete Regenwurm heraus, die Blindschleiche taub und stumm, es könnte auch eine kleine Schlange gewesen sein, ich glaube, es war eine Schlange. Das Tier schlängelte sich hoch, über den lilagespannten Busen nach unten, schlang sich um die festgeschnürte Taille, so fest, dass die Hüften bei jeder Bewegung immer weiter auseinanderzulaufen schienen, der Fladenrock ergoss sich und überschwemmte den ganzen Fußboden.
Man hatte es versäumt, die Überschwemmung einzudämmen, das Aquariumviolett in seine Schranken zu weisen, man hielt es immer noch für harmlos und ignorierte es, rosa und fliederfarben, wie es war, mit violett durchschimmernden Adern. Dann breitete es sich wie ein unflätiger Fladen aus und feuchtete die wenigen Möbelstücke an, die im Raum standen. Giftige Düfte stiegen hoch, da man es versäumt hatte, sie rechtzeitig zu neutralisieren, weil der spitze Schrei dazwischengekommen war, unerwartet hereingeplatzt durch die linke Wand.
Der Schrei hatte alles weggewischt, alle Möglichkeiten der Abwehr lahmgelegt, so dass die Gegenstände im Raum andere Farben bekamen, die Geräusche und Wörter eine andere Klangfarbe, auch die kleinsten kriechenden Laute, das Knistern, Räuspern, Hüsteln, Scharren, alles wurde untereinander vertauscht und unkenntlich gemacht, die weißen Wände waren violett, die violetten Hüften der eingeschnürten Frau gewitterblau. Der blasse Knabe schrak zurück. Neuankömmlinge drängelten zur Tür herein und ergossen sich ins Wartezimmer, lösten sich in der dunkelvioletten Feuchtigkeit auf, des Knaben weißes, glattgebügeltes Hemd leuchtete durch, brav und still saß er in seiner schwarzen Hose, mit dem Klappstuhl verwachsen, klapp und still stand der Knabenstuhl da, einsam zwischen den anderen Stühlen, schwarzweiß stumm saß der Knabe, mit einem gipsverlorenen Lächeln im Barockengelgesicht, der dicke, stille Knabe in des Wartezimmers Ecke, sockenrosa, wachsam die Mutter daneben, mit großen, zusammengezwängten Brüsten unter dem bunten Tuch.
Die Tür wurde draußen mit Tesafilm zugeklebt, auf dass keiner mehr hereindränge oder sich unerlaubt entferne, nur ein leiser Summton erhob sich darauf, sank, fiel und blieb liegen vor den angefeuchteten Schuhspitzen von irgendjemandem, der da war ein Wartender oder eine Wartende. Nach dem Schrei hörte sich das Säuseln und Summen wie die Stille an, die darauffolgende, erwartungsvolle, als Stille gemeinte Stille, wie Fliegeralarm mitten im Frieden. Dieser Warnton überheulte das Klappern der Schlange. Nach so vielen Verfälschungen, räumlichen und farblichen Mutationen achtete keiner mehr auf die fliederfarben- und violettgemusterte Schlange, die man sonst kaum hätte übersehen können. Nur der stille, dicke Knabe nahm sie für einen Augenblick wahr: Einen Augenblick stand Entsetzen in seinem Gesicht. Dann wurde es wieder engelhaft ruhig, er wird sich getäuscht haben. Er hatte sich jedoch nicht getäuscht: Die Schlange meldete sich nur, solange die anderen wegschauten, sie zeigte sich nur dem stillen, blassen Knaben, solange die anderen mit ihren Sinnen abwesend waren. Allein der Knabe war schwarzweiß geblieben und hatte nicht die tiefviolette Farbe des Raums angenommen wie die anderen Wartenden.
Als keiner mehr hinschaute, stürzte sich die Schlange hundeartig mit einem Satz auf das Stuhlbein des Knabenklappstuhls und biss ein Stück Holz aus. Sie bellte den Knaben kurz an und verschwand, sobald die anderen, vom Bellen wachgerüttelt, aufschauten. Es sah so aus, als wäre nichts geschehen im spätvioletten Raum. Sie alle dachten, sie hätten sich getäuscht, das Stuhlbein des Knabenklappstuhls jedoch war angebissen, es fehlte ein Stückchen Holz, eine kleine helle Wunde war im dunkelbraun gestrichenen Vorderbein sichtbar.
Die Wartenden waren bereits wieder eingeschmolzen worden in die violette Masse, als die Schlange ein zweites Mal angriff. Sie schnappte nach dem schwarzen Lackschuhfuß des Knaben, das braune Stuhlbein jedoch schlug aus mit seinem beschlagenen Huf und traf die Schlange mitten auf die Stirn, so dass sie jaulend zurückweichen musste.
Da keiner hinschaute, griff sie wieder an, diesmal ganz sanftesanft, mehlgepudert kam sie wieder und verstellte ihre Stimme, säuselte süßviolett mit schmaler Zunge, so dass ihr der Knabe für einen entscheidenden Augenblick glaubte, sich ihr auf die Art zuwandte, die man den Normalfall nennt und Antwort gab auf eine unflätige Knabenart, es aber im nächsten Augenblick bereute, denn die Schlange biss zu. Zum Glück bekam sie nur die Schuhspitze zu fassen, die der Knabe mit einem kurzen Schrei befreite, so dass die anderen Wartenden aufschraken und ihn sehr strafend anschauten: Die Schlange aber war weg und die harmlose, dösende Wartestille wieder eingetreten.
Solange ihn die Augen der Wartenden musterten, drohte ihm keine Gefahr von der Schlange, und so versuchte er diese Mitwartenden wach und bei Laune zu halten. Der dicke, blasse Knabe war nicht mehr still und kämpfte um sein Leben. Er wurde immer lauter, bis die Sprechstundenhilfe den Tesafilmstreifen von der Tür löste, sie öffnete, hereintrat, sich den blassen Knaben schnappte, um mit ihm durch die Tür zu verschwinden. Danach wurde die Tür wieder geschlossen und zugeklebt. Spät am Abend erst wurde sie wieder geöffnet, der Pförtner des Krankenhauses kam herein und schickte die noch verbliebenen Wartenden nach Hause. Die Sprechstundenhilfe und der Arzt seien schon längst nach Hause gegangen, sagte er. Ich befand mich unter den letzten, die den Warteraum verließen, schaute mich noch einmal im Raum um, um mich zu vergewissern, dass ich nichts liegengelassen hatte, und da sah ich sie: Die in das violette Mieder gezwängte Frau saß allein auf dem Stuhl und wartete weiter, ihr Rock floss immer noch aus ihrem Leib und bedeckte nun fast den ganzen Fußboden. Sie traf keine Anstalten, aufzustehen und den Raum zu verlassen. Ich ging.