Читать книгу Abstufung dreier Nuancen von Grau - Kristiane Kondrat - Страница 7
ОглавлениеDie Angst vor Wiederholungen hat sich in mir verstärkt, seitdem ich meinen Kopf wieder nach links und nach rechts drehen kann. Auch die Zeit hat seitdem angefangen, ihr Tempo zu beschleunigen. Und es gibt auch wieder Leute, die vorgeben, mich zu kennen, mich schon irgendwo gesehen zu haben. Wie diese Frau im Bett rechts vom Fenster. Sie will meine Erinnerung auffrischen. Heute morgen hat sie es schon einmal versucht, jetzt versucht sie es wieder.
Die neugieriglangweilige Frau rechts vom Fenster versucht mich wieder anzupeilen, ich schüttele, rüttele den Wortschwall ab. Nachdem die Betten gemacht worden sind und die Frau am Fenster einen zweiten Anlauf nimmt, heult schon der Rettungswagen draußen vor dem großen Tor und rettet mich. Er fährt zum Tor herein, die Treppe herauf, den langelangen Flur lang, fährt ein in unser Krankenzimmer, hält vor dem leeren Bett in der Mitte, niemand steigt aus, keiner steigt ein, es war falscher Alarm.
Die Tablettenschwester kommt herein, bringt auf ihrem Tablett die Pillen gegen den Unschlaf, gegen die kommende Unnacht, gegen den ablaufenden Untag. Die Oberschwester bringt mir die Krücken. Kurz darauf kommt eine Unterschwester, die mir zeigt, wie man damit vorankommt. Sie kommt besser voran als ich. Ich probiere es noch einmal und immer wieder auf dem langen Flur. Dann im Treppenhaus. Fünf Stufen hinauf und dann die fünf Stufen wieder hinab. Die Schwester sagt »Bravo«, die Nachmittagsschwester. Ich bin so stolz, dass ich mich am Abend mit meinen Krücken gleich zehn Stufen hochquäle. Und wieder hinunter.
Am nächsten Vormittag wieder. Die Vormittagsschwester sagt aber nicht »Bravo«. So schnell gewöhnt man sich an den Erfolg. Um die Mittagszeit gehe ich fünfzehn Stufen hoch, auf dass die Mittagsschwester »Bravo« sage. Sie sagt, dass »wir gut vorankommen«, sie ist stolz auf uns, sie ist überzeugt, mich motiviert zu haben, und wartet so lange unten am Treppenabsatz, bis ich zwanzig Stufen schaffe.
Schon schreiten wir den langen Flur auf und ab, ich und mein spärlicher Schatten, von einem spärlichen Licht verursacht. Vom Flurfenster hat man einen Ausblick auf die Hausdächer der Innenstadt, links der Schacht eines Innenhofs, rechts die tiefe Schlucht einer Straße, die von einer blauen Straßenbahn durchfahren wird.
Diese bedrückende Stille, die sich wie ein langgezogener Heulton anhört, alles, was hier geschieht, vollzieht sich in der Stille eines langgezogenen Heultons, der zu Besuchszeiten abgelöst wird von einem immerwährenden, abgedämpften, undramatischen Summton, einem Abschnitt der Zeitlosigkeit. Dieser Summton wird an einem Sonntag unterbrochen von der Ankunft eines Hubschraubers auf dem Hausdach. Er fliegt aber bald wieder weg, hatte sich verflogen, war auf einem nestlosen Dach gelandet.
Der Professor lächelt im Vorbeigehen die rechte Wand an, jetzt weiß ich, wie er aussieht, sie hatten alle von ihm gesprochen, an der kalten Flurwand kondensiert das skeptische Lächeln des weißen Mannes. Die Wand trieft. Nur kurz sehe ich die Frau im blaugrauen, samtschimmernden Morgenmantel unten am Treppenabsatz stehen und höre sie lachen. Ein Sonnenstrahl fällt aus dem langen Fenster hoch oben und trifft sie in voller Grelle. Sie lacht tötend laut, hysterisch, ohnmächtig, mit einem Schrei, der alles übertönen will, was ihr widerfährt. Sie ist außerstande, die Treppe hochzusteigen, und versucht nun, diese Treppe totzulachen. Die bleibt aber unberührt stehen, sie steinert schon über hundert Jahre hier und wird in abgewetztem Zustand jedoch standhaft weitersteinern. Keine Tageszeitschwester ist in der Nähe, und ich kann der Frau im blaugrauen Morgenmantel nicht helfen.
Die Wunde zerreißt das Gewebe aus sonntäglichen Summtönen, das Fieber meldet sich wieder, die ungnädige Schwester von den Schwestern verschleiert den Tischstuhl mit der verkrampften Einbuchtung, bitte locker, ganz locker, Nachtfalter schweben zum Fenster herein, lösen die Tagesfalter ab, die Vereinten Nationen walten ihres Amtes, Kanonendonner nähert sich, lichterloh schlägt eine Granate ein, doch die Vereinten Nationen walten weiter, am Bettfuß steht der Name. Der Vorsitzende hält eine Rede über den Frieden, eine Rede an die Wunde, an die Wände, die Nachrichten sind vorbei, und wir atmen erleichtert auf, wir müssen den Frieden festigen, wie geht es uns heute.
Die Neue, die heute freiwillig hier eingetroffen ist und neben der Tür liegt, hat ein Fernsehgerät mitgebracht. Jetzt geht dort einer durch den Sand, er geht ständig auf und ab, von einem Rand des Bildschirms zum anderen, er hat nicht viel Platz, es ist ein kleiner, handlicher Fernseher, der Mann, der da durch den Sand geht, hat nur eine kleine Fläche zur Verfügung, kann sich nur in der eng eingerahmten Landschaft bewegen, er geht über eine weite Sandebene, die in einem kleinen Rechteck eingefangen ist.
Jeden Tag das gleiche Zeremoniell der Visite: Geheimsprache, heute etwas feierlicher als am Vortag, der große Professor ist dabei, Beschwörungsformeln werden an die Assistenzärzte weitergegeben, alle sind mit Notizblöcken zur Zeugenaussage erschienen, die Presse ist geladen, sich vor dem Professor zurückziehende, kittelflatternde Schwesternschülerinnen verstecken sich in Nischen und flüstern, Pazifisten werden versackt, verschnürt und abgeliefert, es donnert und flammt hinter der Rede bei den Vereinten Nationen, ich erwache immer wieder aus dem gleichen Traum, die Patientinnen ziehen die Decke bis zum Kinn, die Oberschwester enthüllt sie wieder, bietet sie dem Professor an, Finger an die Wunde, der Professor schaut den Oberarzt bedeutsam an, der Oberarzt den Unterarzt, immer noch bedeutsam, der Unterarzt die Medizinstudenten, die Schwester schaut nichtssagend den Bruder an, nicht meine Schwester, nicht deine Schwester, Schwester schlechthin, nicht mein Bruder, kein Muttervater, sich im Schatten der Geräte versteckende Schwesternelevinnen.
Ich bin eingenickt und wache wieder auf, als ich die Tür höre: Mit dem Gipsabdruck eines Lächelns bringt die Oberschwester ein schlimmes Telegramm auf dem Tablett. Ihr Gang ist gerade, die Spur ihrer Schritte mit dem Lineal gezogen, zielschnurstracks eingestellt. Die korrektstraffe Haltung der Schulter ermöglicht die vorgeschriebene Spannung der weißen Kittelknöpfe über dem Busen. Sie bietet das Telegramm dar, doch keiner will es haben, die Patientinnen drehen sich um in ihren Betten und ziehen die weißen Decken über das freiliegende, ungeschützte Ohr. Demzufolge schaltet die Oberschwester das Licht aus und versucht es nochmal im nächsten Krankenzimmer: »Klingeln Sie die Nachtschwester, ziehen Sie die Notbremse, tasten Sie die Vernarbung ab.« Ich schlafe wieder ein, die Schwestern schweben irgendwo durch den Raum, Schwester Oberin, oben steht der Große Bär, den wir vergeblich anrufen: Kurz vor meinem Traum oder bereits darinnen schmiede ich Fluchtpläne.
Ich weiß nicht, welches der beiden so unterschiedlichen Prinzipien ausschlaggebend gewesen ist für meinen endgültigen Entschluss auszubrechen, das Tag- oder das Nachtprinzip, das Traumschweben ohne Krücken oder die harte Arbeit tagsüber im Treppenhaus. Sobald der Nachtfalter im Morgengrauen verschwunden ist und die weißen Tagesschmetterlinge sich noch nicht entpuppt haben, nehme ich heimlich meine scheintoten Kleider aus dem Schrank. Ich werde sie wieder zum Leben bringen, sie werden sich wieder bewegen. Die neugierigen Frauen schlafen noch, die Frischoperierte stöhnt ab und zu im Traum. Ich möchte in ihre Träume nicht eindringen, lasse sie alle schlafen, ohne einen Blick auf ihre schlafenden Gesichter zu werfen, möchte ihre Träume nicht beeinflussen, meine Absichten niemandem übertragen, meine Fluchtpläne nicht verraten. Da ich mit den Krücken keinen Lärm machen möchte, kann ich mich mit diesen sperrigen Plastikkonstruktionen unter dem rechten Arm nur sehr langsam fortbewegen, indem ich mich mit der linken Hand an dem jeweiligen Bettrand festhalte. Auf dem Flur muss ich nicht mehr so viel Vorsicht üben.
Die Treppe hinuntergehen habe ich in den letzten Tagen reichlich geübt, sie bereitet mir keine großen Schwierigkeiten mehr. Unten angekommen, bleibe ich vor dem Ambulatorium stehen, um mich ein bisschen auszuruhen. Die Tür steht einen Spalt offen. Ich nähere mich der Tür, um einen Blick in den dahinterliegenden Raum zu werfen.
Vielleicht sitzt sie immer noch da, die violette, zusammengeschnürte Frau mit dem blassen Jungen neben sich. Wer weiß, ob man ihr den Jungen wieder zurückgebracht hat, es sah damals so aus, als hätte man ihn für immer weggebracht. Vielleicht aber sitzt er wieder neben seiner Mutter und fürchtet sich. Oder die violett zugeschnürte Frau sitzt noch immer hier und wartet auf ihn. Durch den schmalen Türspalt sehe ich die Spitze eines schwarzen Schuhs, kann aber nicht feststellen, ob es ein Damenschuh, ein Herrenschuh oder ein Kinderschuh ist.