Читать книгу Abstufung dreier Nuancen von Grau - Kristiane Kondrat - Страница 6

Оглавление

Heute hat mir eine jener weißuniformierten Frauen geholfen, mich im Bett aufzurichten, was mir sehr peinlich war, auch deshalb, weil ich mich so ungeschickt angestellt habe. Sie ist sehr in Eile gewesen, es ist ihr viel zu langsam gegangen, ich muss ihr recht geben, es ist furchtbar langsam gewesen, ich habe mich kaum bewegen können und ihre Geduld über die Maßen strapaziert, worüber sie schließlich sehr ärgerlich geworden ist, und das mit Recht. Ich habe keinen guten Willen gehabt. Sie hat mich aufgefordert, guten Willen zu zeigen, ich habe es immer wieder versucht, meinen ganzen Willen zu mobilisieren, der Wille aber hat nicht gewollt, wie ich es gewollt habe und wie es die mit mir nicht verwandte Schwester gewollt hat. Jedesmal, wenn ich versucht habe, guten Willen zu zeigen, hat es verdammt weh getan. Ich weiß, dass mich die Schwester für einen Feigling hält, und kann nichts daran ändern, habe aber erleichtert festgestellt, dass weder die späte Studentin noch die Papierwarenhändlerin aus der Innenstadt hier sind, es sind ganz andere Patientinnen.

Die Unbekannte mir gegenüber will gleich wissen, wie es war und warum und ob der Arzt und wenn ja, wie er geschnitten habe. Ich täusche Müdigkeit vor und schließe die Augen. Sie wird mir ihre Fragen noch zweimal zuwerfen und sich, da ich die Bälle nicht aufgefangen habe, von mir abwenden, was mir sehr angenehm ist. Die Frau links von mir aber will immer wieder wissen, wie es zu dem Unfall gekommen sei. Sie versucht auf verschiedene Weise, es aus mir herauszubekommen. Vergeblich. Übrigens weiß ich es selbst nicht. Ich weiß von diesem Tag gar nichts mehr, erinnere mich nur an die Tage davor, an alle Tage davor, nur an diesen einen, den es dennoch gegeben haben muss, nicht mehr.

An der Wand gegenüber hängt ein Gekreuzigter, der tödlich Gefolterte, der an allen weißen Krankenzimmerwänden hängt. Bei meinen Kirchenbesuchen als Kind hatte ich es nie so richtig wahrgenommen, dass der Mann, der am Kreuz hängt, furchtbar leidet, ein Kruzifix war für mich zu heilig, um in ihm die Darstellung eines schmerzlichen, langsamen Sterbeprozesses zu sehen, es war kein Mensch, der da an Händen und Füßen angenagelt hing, es war das Göttliche schlechthin, Gesichtszüge und Wunden des Mannes waren nur Symbole, standen für etwas anderes, etwas, das man auswendig lernen und abends vor dem Einschlafen aufsagen musste, im Bett auf den Knien halblaut vor sich hinflüsternd, den Kopf nach oben gewandt. Dahin, wo er sein müsste, der in Dunst, Wolken und Licht wohnende alte Mann mit dem unendlich langen weißen Bart, der, selbst unsichtbar, auf einem unsichtbaren Stuhl mit hoher unsichtbarer Lehne auf einer sichtbaren Wolke thronte. Er hatte gütige blaue Augen und war in einen blauen Mantel gehüllt. Es könnte jede Wolke gewesen sein, die ich tagsüber am Himmel sah, ich wusste aber nie, welche es war.

An kalten Winterabenden zog ich mir im Knien die Decke über die Schulter, wenn ich betete. Nach den auswendig gelernten Sprüchen, die ich schnell ableierte, kam ich zu meinen ganz persönlichen Anliegen an den unsichtbaren alten Mann mit den blauen Augen. Ich hatte viele kleine Wünsche und einen großen, den ich jeden Abend ängstlich wiederholte: Dass meine Mutter, die ich sehr liebte, nie sterben und immer bei mir bleiben möge. Der alte Mann mit den himmelblauen Augen hatte mir versprochen, er werde das veranlassen, und er hat lange Zeit sein Wort gehalten, bis ich eines Tages das Beten verlernt habe. Dann hat er sein Versprechen vergessen, es war keiner mehr da, ihn daran zu erinnern.

Seitdem habe ich mich nicht wieder bei ihm gemeldet. Jetzt spüre ich die Blicke des an die Krankenzimmerwand Gekreuzigten und schaue zu ihm auf: Es war eine Täuschung der Sinne, er schaut über mich hinweg, schaut niemanden von den hier Liegenden an, er ist allein mit seinem furchtbaren Schmerz beschäftigt, und die hier liegenden Frauen sind auch jede allein mit ihrem eigenen Schmerz. Nur jene, denen es besser geht, sind neugierig, vom Schmerz der anderen zu erfahren. Die junge Türkin damals muss von ihrer Angst vor dem Eingriff so beherrscht gewesen sein, dass sie die von der Papierwarenhändlerin hochgehaltenen Schlagzeilen nicht einmal wahrnehmen konnte: Sie hatte nie darauf reagiert.

Ich befürchte wieder extreme Geister, die durch dieses Krankenzimmer spuken und sich in Kreuzverhören verdichten könnten. Als ich noch zu Hause in meiner alten Heimat war und mit meiner besten Freundin Delia in diesen kleinen Schmerzpausen des Beisammensitzens sprach, amüsierten wir uns oft über jene, die immer wieder unsinnig sinnlose Fragen stellten. Allein konnte ich schwer darüber lachen. Unsere langen Mäntel, die damals in Mode waren, hatten uns am Fliehen gehindert. Sie hätten uns aber auch so gekriegt. Jene. Oft ließen sie uns in der Stadt unterwegs entkommen, um später an unsere Türen zu klopfen. Sie wussten, dass ihnen keiner entwischen konnte, spielten „Katz und Maus« mit uns. Wir waren auf alle Fälle schuldig, auch wenn wir nicht damit einverstanden waren, uns nicht bekannt war, welchen Vergehens man uns anklagte. Das Warum und Wozu blieb uns immer verborgen, der Zwischenraum war ausgefüllt von unserem Alltag, der in diesem Sinn unwirklich war: Jeder spielte eine Rolle, an die er nicht glaubte.

Ich habe nie erfahren, was sie von uns wissen wollten. Sie befragten uns immer wieder, und es boten sich viele Gelegenheiten dazu. Sie wollten etwas erfahren, das es gar nicht gab, und waren sehr beharrlich. Sie, das waren jene dort, die ich nie beim Namen genannt hatte. Ich war mit dem Wissen aufgewachsen, dass es sie gibt, dass man aber ihren Namen nicht aussprechen dürfe, das bringe Unglück. Sie waren unberechenbar, nicht erfassbar, mit Logik war ihre Existenz, ihr Tun und die Art und Weise, wie sie es taten, nicht erklärbar, keine Logik der Welt konnte sie verständlich machen. Man konnte immer ihr Opfer werden, eine falsche Bewegung, ein falsches Wort am falschen Ort konnte einen dazu machen, man wusste jedoch nie, welche Worte als falsch einzustufen waren, welche Bewegungen an welchen Tagen als strafbar galten. Die Standpunkte, nach denen etwas als falsch oder richtig eingeordnet wurde, änderten sich von Tag zu Tag, manchmal wechselten sie auch im Laufe des Tages. Man konnte den Zeitpunkt eines Erdbebens vorausberechnen und rechtzeitig Maßnahmen zur Rettung der Menschen in diesem Gebiet einleiten. Das Wirken der Namenlosen jedoch konnte man nicht voraussehen, nie vorher wissen, wann sie demnächst um sich greifen und wen sie sich holen würden.

Eine Zeitlang hatte ich mich in meine Wohnung eingeschlossen und niemandem geöffnet. Ich dachte über alle möglichen Fragen nach, die sie mir noch stellen könnten, die sie bisher noch nicht gestellt hatten, suchte nach möglichen Antworten auf diese hypothetischen Fragen. Die Antworten mussten so formuliert sein, dass mir auch die Cleversten unter ihnen keine Schlinge daraus knüpfen konnten. Ich schrieb mir alle möglichen Antworten aller möglichen Fragen auf und begann sie auswendig zu lernen, wartete auf ein Klopfen an der Tür und wollte, sobald ich das Klopfen hörte, keine Bewegung mehr machen, meinen Atem ganz leise stellen, mich totstellen. Nicht öffnen. Mich totstellen, wie es manche Tiere tun, um zu überleben. Ich wollte nicht öffnen und lernte die möglichen Antworten auf die möglichen Fragen dennoch auswendig, um auf alles vorbereitet zu sein. Die wenigen guten Freunde, in die ich Vertrauen haben konnte, wussten, wie sie klopfen sollen.

Eines Tages, es war kurz nachdem jene Unaussprechlichen mich zum ersten Mal zu sich bestellt hatten, klopfte es. Ein unvereinbartes Klopfen. Ich war noch nicht dort gewesen, wollte es auch nicht tun, hegte die törichte Hoffnung, dass sie mich in Ruhe lassen würden, wenn ich nicht hinginge, wollte Zeit gewinnen, nach Ausflüchten suchen, entschlüpfen. Es klopfte unentwegt, obwohl ich mich bereits vor Minuten totgestellt hatte. Wusste man dennoch, dass ich zu Hause war? Selbstverständlich wusste man es. Die Unaussprechlichen wussten alles. Schließlich wurde es still, Schritte entfernten sich. Ich konnte nun die Schleusen öffnen und meinem unterdrückten Atem freien Lauf lassen. Geräuschvoll und lange durchatmen. Einige Tage später erfuhr ich, dass es der Mann gewesen war, der immer wieder zum Holz hacken kam. Ich hatte lange Tage kein Kleinholz mehr für meinen Ofen. Bis ich ihn zufällig auf der Straße traf und wir einen Holzspalttag in der Woche, zu einer bestimmten Uhrzeit, vereinbarten. Später, als ich bereits jenseits der Landesgrenze war, hat sich einiges von dem damals Erlebten auf eine andere, jedoch ähnliche Weise wiederholt, jedoch ohne dass die Notwendigkeit von Kleinholz jemals wieder eingetreten wäre.

Abstufung dreier Nuancen von Grau

Подняться наверх