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Dass alles bleibt, wie es ist

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Catanias große Prachtstraße, die Via Etnea wird von der Porta Uceda gegen das Hafengelände abgeschlossen. Das Tor ist ein wuchtiger Barockbau. Etwas düster wirkt es, das kommt von den dunklen Steinen, aus denen die Fassade besteht. Nicht weit davon trifft man noch einmal auf den Namen, da heißt ein Platz nach Uceda. Gemeint ist Juan Francisco Pacheco, Herzog von Uceda. Er war Spanier und vertrat am Ende des 17. Jahrhunderts als Vizekönig seinen König auf Sizilien. Jahrhundertelang, von 1302 bis 1713, gehörte die Insel zu Spanien. Auch die von 1735 bis 1860 herrschenden Bourbonen waren Spanier. Am Platz der Vier Ecken (Quattro canti) in Palermo haben sie ihre Herrschaft in Stein hauen lassen. Dort grüßen gleich vier spanische Könige vom Sockel, darunter Karl V., der aber nur als deutscher Kaiser so hieß, als Carlos I. war er spanischer, als Carlo I. neapolitanisch-sizilianischer König.

Nur eine winzige Veränderung hat der Schriftsteller Federico De Roberto (1861–1927) vorgenommen: Uzeda nennt er ein in Catania ansässiges Adelsgeschlecht. Nicht, dass sein Buch ein Schlüsselroman wäre, aber die Namensgebung verweist doch auf die geschichtliche Wirklichkeit. Die Uzedas der Fiktion gehören zur sizilianischen Hocharistokratie, stammen aus Spanien und rühmen sich, dass ihre Vorfahren enge Vertraute der spanischen Könige waren. Sie sind „die Familie der Vizekönige“, der Roman hat denn auch den Titel Die Vizekönige (I Vicerè). Den Umstand, dass sie gewissermaßen Zugewanderte sind, nehmen sie als Ausweis ihrer Vornehmheit, ein bezeichnender Zug des sizilianischen Adels, glaubt man einer Szene des Romans. Da muss die Familie desjenigen, der etwas gelten will, mit den Normannen, den Staufern oder eben den Spaniern auf die Insel gekommen sein. De Robertos Werk ist zwar eine Familienchronik, aber es ist vor allem ein historischer Roman, der zwischen 1855 und 1882 spielt. Es sind dies entscheidende Jahre für Sizilien, turbulente Jahre, Jahre der politischen, staatlichen und sozialen Neuorientierung. Was die Zeit prägt, ist die italienische Einigungsbewegung, das Risorgimento. Am Beispiel des Hauses Uzeda will De Roberto zeigen, wie sich die alte sizilianische Machtelite zu den Herausforderungen der Epoche stellte.

Der Anschluss an Italien ist ein großes Thema der sizilianischen Literatur, was nicht weiter verwundert, denn schließlich handelt es sich um das mit Abstand bedeutendste Ereignis in der jüngeren Geschichte des Landes. Gleich vier Romane befassen sich damit, neben De Robertos Die Vizekönige sind das Giuseppe Tomasi di Lampedusas Der Leopard, Das Lächeln des unbekannten Matrosen von Vincenzo Consolo und Die Alten und die Jungen von Luigi Pirandello. Immer wieder nehmen sie Bezug auf als bekannt vorausgesetzte historische Daten. Um im Folgenden ständige Wiederholungen zu vermeiden, sollen hier die wichtigsten dieser historischen Ereignisse aufgeführt werden.

Nach dem Wiener Kongress (1815) war die Apenninhalbinsel aufgeteilt in mehrere Staaten und Herrschaftsgebiete. Der Norden, die Lombardei und Venetien, war in der Hand der Österreicher; den Nordwesten mit Turin als Hauptstadt nahm das Königreich Sardinien-Piemont ein; die Mitte einschließlich der Stadt Rom gehörte zum Kirchenstaat; der Süden, das Königreich Neapel, auch „Königreich der beiden Sizilien“ genannt, wurde beherrscht von den Bourbonen; daneben gab es noch einige unabhängige Herzogtümer, darunter das der Toskana. Wie in anderen Teilen Europas entstand auch in Italien eine Bewegung, die die nationale Einheit herstellen wollte. Deren Hauptakteure sind: Giuseppe Mazzini (1805–1872), er war der Theoretiker und vertrat demokratisch-republikanische Ideen mit sozialrevolutionärem Einschlag; Giuseppe Garibaldi (1807–1882), die wohl populärste Figur, er war ein Berufsrevolutionär und setzte als einer der ersten erfolgreich eine Guerillataktik ein, er versuchte, die Vorstellungen Mazzinis umzusetzen; Graf Camillo di Cavour (1810–1861), so etwas wie ein italienischer Bismarck, war ein liberal-konservativer Staatsmann, erster Minister des Königs von Sardinien-Piemont, und sorgte für die machtpolitischen und diplomatischen Voraussetzungen des Zusammenschlusses; Viktor Emanuel II. (1820–1878), König von Sardinien-Piemont, war eine Art Symbolfigur, er verschaffte der patriotischen Bewegung das Ansehen legitimer Herrschaft und wurde erster König der konstitutionellen Monarchie Italien.

Nach einigen erfolglosen Aufständen unter Beteiligung Mazzinis und Garibaldis gelang 1859 ein Sieg gegen Österreich. Dieses musste die Lombardei räumen, die sich Sardinien-Piemont anschloss. Am 4. Mai 1860 schiffte sich Garibaldi mit etwas über 1000 Freiheitskämpfern in Genua ein. Am 11. Mai landete das Expeditionskorps in Marsala auf Sizilien. Es begann der legendäre „Zug der Tausend“. In der Schlacht von Calatafimi gelang den „Rothemden“ – so bezeichnet nach ihrer Bekleidung – ein Sieg gegen eine Übermacht bourbonischer Truppen. Bis zum August 1860 nahmen sie die ganze Insel ein. Allerdings kamen ihnen dabei lokale Erhebungen zu Hilfe. Die Aufständischen schlossen sich Garibaldi an, der eine Diktatur auf Sizilien errichtete. Noch im gleichen Sommer setzte er aufs Festland über und schlug mit seinen Revolutionsverbänden in der Schlacht am Volturno das bourbonische Heer; das bedeutete das Ende des Königreichs der beiden Sizilien. Bereits im Oktober 1860 entschied sich das Volk von Sizilien in einer Abstimmung mit 99,5 Prozent für den Anschluss an das Italien Viktor Emanuels. Garibaldi trat als Diktator zurück. Im März 1861 erfolgte die Proklamation des Königreichs Italien. 1866 wurde Venetien in den neuen Staat eingegliedert. Mit der Eroberung des Rumpfkirchenstaates 1870 war die Vereinigung Italiens abgeschlossen, und Rom wurde zur Hauptstadt des vereinigten Italien. Garibaldi, der an revolutionären Ideen festhielt und sich gegen den von Cavour konservativ ausgerichteten Staat stellte, wurde bereits 1862 am Aspromonte von königlich-italienischen Truppen besiegt. Er wurde verwundet, gefangen gesetzt und verurteilt, später jedoch begnadigt.

Doch zurück zu De Robertos Roman Die Vizekönige: Die Uzedas stehen als Teil der alten Ordnung auf der Seite des bourbonischen absolutistischen Regimes. Sie sind, wie könnte es anders sein, erzkonservativ eingestellt – wenn man bei ihnen von einer Einstellung überhaupt reden kann, denn eigentlich treten sie für gar nichts ein, es sei denn für ihren eigenen Vorteil. Insbesondere die männlichen Vertreter dieser Sippschaft sind gesinnungs- und gewissenlos, korrupt, herrschsüchtig und besitzgierig. Vorgeführt wird eine drei Generationen umfassende Galerie ausgemachter Schufte. Sie haben sich seit Jahrhunderten komfortabel eingerichtet im Land: Der Palast, in dem sie residieren, ist so geräumig, dass eine größere Versammlung bequem in einen Nebenflügel Platz findet, und zu ihrem Besitz gehört die bescheidene Anzahl von sechzehn Landgütern. Natürlich haben sie die allerfeinsten Umgangsformen. Über einen Landedelmann, der sich von seinen Töchtern duzen lässt, können sie nur die Nase rümpfen. Wie jemand anzureden ist, der Vater, der Onkel, der Cousin, ist streng geregelt. Aufgewachsen in einem schier unermesslichen Reichtum und gewohnt, dass ihren Wünschen und Launen nachgekommen wird, fühlen sie sich anderen Menschen weit überlegen und behandeln diese mit einer schon beleidigenden Herablassung, wenn sie nicht gerade etwas von ihnen brauchen.

Ehernes Gesetz ist, dass der Besitz zusammengehalten wird. Er bleibt, von den nicht unbeträchtlichen Deputaten für die übrigen Familienmitglieder abgesehen, in der Hand des ältesten Sohnes. Dafür sorgt der „Fideikommiss“, eine alte, vor allem in europäischen Adelshäusern geltende Satzung privaten Rechts, die die Erbschaft festlegt. Diese Maßnahme dient natürlich auch dem Erhalt von Einfluss und Macht. Gleichwohl gibt es unter den Familienmitgliedern um die Besitzansprüche erbitterten Streit. Eintracht ist ohnehin nicht ihre Sache, vielmehr herrschen Neid, Missgunst, Untreue, Verrat, Intrige und Betrug, hinzukommen noch skandalöse Liebesaffären, kurz: Der Roman hat alle Zutaten, die die Nachrichten aus dem Leben der Reichen und Vornehmen für das gemeine Publikum so aufregend machen. Dass die Clanmitglieder unschönen Trieben verfallen sind, führt De Roberto – er zählt wie Verga und Capuana zur Gruppe der Veristen – in gut naturalistischer Manier auf Erbfaktoren zurück. Die „Vizekönige“ sind „degeneriert“, ihr Blut ist „dünn“ geworden. „Diese alte spanische Rasse, halb mit griechischen, halb mit sarazenischen Elementen vermischt, hatte schon längst ihre ursprüngliche Reinheit und ihren Wesensadel verloren.“

Seinen Reichtum und seinen sozialen Rang verdankt dieses korrumpierte Geschlecht einem despotischen System, das die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ausplündert und in die Armut treibt. Man sollte meinen, dass mit der Beseitigung der bourbonischen Herrschaft auch der Niedergang der Uzedas besiegelt ist. Aber gerade das geschieht nicht. Sie, die doch die eigentlichen Stützen des alten feudalen Machtgefüges waren, behaupten sich auch in dem neuen Staat, in einem Staat, der früheres Unrecht beseitigen will und seinen Bürgern Freiheit und soziale Reformen versprochen hat. Wie es dazu kam, warum es in Sizilien keinen wirklichen Fortschritt gab, welche Machenschaften dazu führten, das versucht De Roberto zu entlarven. Der Machterhalt gelingt den Uzedas gerade durch ihre Charakterlosigkeit, gelingt dadurch, dass sie sich hemmungslos opportunistisch verhalten.

Federico De Roberto wurde zwar in Neapel geboren, ist aber in Catania aufgewachsen, von wo seine Mutter stammte. Die Schauplätze seines Romans kannte er also sehr genau. Vor Augen hatte er auch einen gewaltigen Gebäudekomplex, der oberhalb der Stadt thront, das Benediktinerkloster San Nicola. Die Lage ist fast schon symbolisch, denn der Konvent war ungeheuer reich und mächtig. Er gehörte zu den größten Grundbesitzern Ostsiziliens. Den Mönchen fehlte es an nichts; an ein Luxusleben waren sie ohnehin gewöhnt, denn sie stammten aus den ersten Familien des Landes. Die unheilige Allianz von klerikalen Kreisen und Feudaladel ist ein Bestandteil von De Robertos Sittengemälde. Das Fazit des Buches ist bitter: „Siehst du, früher als es noch Vizekönige gab, waren die Uzedas Vizekönige; heute gibt es Abgeordnete, und da zieht unser Onkel ins Parlament ein […] Früher kam die Macht unserer Familie von den Königen; heute kommt sie vom Volk. Es hat sich gar nicht so viel verändert: nur die Vorzeichen sind vertauscht“, lässt De Roberto einen der Uzedas sagen. Das mündet schließlich in einen Geschichtspessimismus: „Die Geschichte ist nichts anderes als eine ewige Wiederholung; denn die Menschen waren und sind stets die gleichen. Nur die äußeren Bedingungen verändern sich.“

Auch Fabrizio Corbera Fürst von Salina, ist ein großer Herr, ein Fürst, einer, der mit dem König in Neapel von gleich zu gleich verkehrt. Er ist ebenso herrisch, ein Tyrann, vor dessen Zornesausbrüchen die Familie und die Dienerschaft zittern. Sie fügen sich ihm, dem Gebieter über Menschen, Land und Schlösser. Groß, kräftig und blond – das Erbe seiner deutschen Mutter –, ist er auch eine imposante Erscheinung, ein Mann, der seine Umgebung überragt. Kurz, er ähnelt dem Tier, das er in seinem Wappen trägt, er ist Der Leopard, den Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896–1957) mit seinem Romantitel verewigte. In Fabrizio Corbera Fürst von Salina, wirken noch die gewalttätigen Instinkte seiner Vorfahren. Auch ihre Allüren pflegt er. Er liebt Hunde, Pferde und die Jagd. Und doch nimmt er für sich ein, ja, er weiß diejenigen, die mit ihm umgehen, zu bezaubern, auch den Leser. Er hat nämlich Geist, und das unterscheidet ihn von seinen bornierten Standesgenossen, deren Wissen zumeist nicht über einige, die Familie betreffende genealogische Kenntnisse hinausreicht und die trotz des Raffinements der Lebensführung die Interessen von Pferdeknechten teilen. Dabei hat Don Fabrizio keinen einfachen Charakter; in ihm bekämpfen sich zwei Regungen, die eine, seine deutsche Mitgift, besteht in der Neigung zu abstrakten Ideen und zu einem gewissen moralischen Rigorismus. Die andere, die auf seinen sizilianischen Vater zurückzuführen ist, beruht auf einer starken Sinnlichkeit und einer Trägheit, die den Dingen ihren Lauf lässt und die die Sizilianer gern als Hinterlassenschaft der Araber ausgeben. Ungewöhnlich für einen Mann seiner Gesellschaftsschicht ist die Beschäftigung mit Astronomie, mit mathematischen Berechnungen der Sternenbahnen. Sie hat ihm internationale Anerkennung und Ehrungen eingebracht, und in seinem Palast in Palermo hat er sich ein Observatorium eingerichtet. Dass er sich keinen Illusionen über die politische und gesellschaftliche Entwicklung hingibt, dazu verhilft ihm sein scharfer Intellekt. Und es sind seine geistigen Fähigkeiten, die ihn in die Lage versetzen, Verständnis aufzubringen für Ansichten, die nicht die seinen sind. Er besitzt eben nicht die Engstirnigkeit seiner Kaste; die hochfahrende Art des Grandseigneurs ist gemildert, und es zeigt sich die Gutherzigkeit, die den Grund seines Wesens ausmacht. Der Zauber, der von ihm ausgeht, kommt zu einem guten Teil von seinen tadellosen Manieren. Sie bewahren ihn vor unbedachten Ausbrüchen seines heftigen Temperaments. Aber die guten Manieren bewirken weit mehr, sie verleihen dem Leben, selbst den gewöhnlichen Verrichtungen, Schönheit und Glanz. Durch sie wird aus einer „gemeinsamen Mahlzeit nicht notwendig ein Orkan von Kaugeräuschen und Fettflecken“, wie ein zum Gutsbesitzer aufgestiegener Bauer erstaunt feststellt. Und die Sorgfalt, die man auf seine Kleidung verwendet, findet nicht unbedingt ihren Grund in eitler Gefallsucht und in einem Hang zu Äußerlichkeiten. Es kann sich darin auch der Respekt und die Rücksichtnahme für das Gegenüber ausdrücken, ein Eingehen auf den Mitmenschen, den man nicht abstoßen, beleidigen, beschämen oder übertrumpfen will. So wird vom Fürsten berichtet: „Er zog nicht den Abendanzug an, um die Gäste, die offensichtlich keinen besaßen, nicht in Verlegenheit zu bringen.“ Wahre Höflichkeit und gefällige Umgangsformen beruhen auf Feingefühl, beruhen auf dem Takt, der aus der Aufmerksamkeit für den Anderen hervorgeht. Natürlich fällt etwas davon auf den zurück, der darüber verfügt, er zieht die Sympathien auf sich. Der Autor sagt das mit einem Bonmot: Ein Mensch mit guten Manieren übe „eine Art vorteilhaften Altruismus“ aus. Don Fabrizio führt das Leben eines sizilianischen Magnaten von altem Adel. Er und seine Familie bewohnen einen prunkvollen Palazzo in Palermo. Und im Sommer, wenn sie aufs Land ziehen, residieren sie in einem nicht weniger imposanten Schloss. Dass diese Welt in die Brüche gehen wird, darüber kann sich der Fürst nicht hinwegtäuschen. Die Vorboten der Veränderung sieht er auf den Bergen vor Palermo, da brennen schon die Wachtfeuer garibaldinischer Aufständischer. Damit setzt die Romanhandlung ein. Es ist der Abend des 12. Mai 1860. Am Tag zuvor ist Garibaldi auf Sizilien gelandet, am 27. Mai wird er Palermo einnehmen.

Schon durch seine Herkunft ist das Weltbild des Fürsten von Salina konservativ geprägt. Das monarchische Prinzip hält er für den Garanten der Ordnung, des Rechts, des Glaubens, der Ehre und des Eigentums. Freilich weiß auch er, dass diese Idee von Herrschaft die richtigen Repräsentanten benötigt, denn die Idee selbst nimmt Schaden, wenn sich keine Personen finden, die sie überzeugend verkörpern. Dass die bourbonischen Könige dazu nicht geeignet sind, davon ist er überzeugt. Sie sind nur schwache Figuren, deren Regime längst morsch geworden ist. Eine Erneuerung ist also unausweichlich. In Garibaldi nun sieht er weniger den Patrioten, als vielmehr den Vollstrecker der politischen Programmatik Mazzinis. Wenn sich dessen demokratische Vorstellungen durchsetzen, argwöhnt er, so wäre er nicht mehr der „Fürst von Salina“, sondern nur noch der „Herr Corbera“. Seine Überlegungen nehmen eine bestimmte Wendung durch seinen Neffen Tancredi. Tancredi ist gewandt, charmant, liebenswert und – gerissen, aber vor allem ist er jung und voller Tatkraft. Auch er ist ein Fürst, aber völlig mittellos. Bei ihm, dem verwaisten Sohn der Schwester, vertritt Don Fabrizio die Vaterstelle, und zwischen beiden, zwischen Onkel und Neffen herrscht ein herzliches Einvernehmen. Tancredi hat beschlossen, sich den Garibaldinern anzuschließen und zum Abschied sagt er seinem Onkel einen Satz, der diesen ins Nachdenken bringt und der wie ein Schlüssel für das Verständnis der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung Siziliens wirkt: „Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass alles sich verändert.“

Den Übergang in die neue Zeit markiert die Volksabstimmung vom Oktober 1860. Ausführlich schildert der Roman dieses Ereignis, aus gutem Grund, denn es ist schicksalhaft für die weitere Entwicklung Siziliens. Nicht allein deshalb, weil damit der Anschluss an Italien vollzogen wurde, sondern auch deshalb, weil die Art, in der die Entscheidung herbeigeführt wurde, das politische Handeln auf der Insel prägte. Zu diesem Schluss kommt jedenfalls Lampedusa. Das überwältigende Votum für Italien − 99,5 Prozent der Wähler stimmten mit Ja – beruhte auf einem Betrug, das heißt, das Wahlergebnis war massiv gefälscht. Die historischen Zeugnisse sprechen für diese Darstellung. Das einfache Volk – ein hoher Prozentsatz bestand aus Analphabeten – wusste noch nicht einmal, worum es bei dem Plebiszit überhaupt ging. Viele hielten „Italia“ für die Frau des Königs. Dass die Sizilianer betrogen wurden in der historischen Stunde, in der sie dazu aufgefordert waren, ihre Zukunft aktiv zu gestalten, habe das politische Leben nachhaltig gelähmt, so Lampedusa.

Wer die Fälscher waren, macht der Roman ebenfalls deutlich. Sie gehören zu einer neuen Klasse von Emporkömmlingen und Geschäftemachern, die sich nicht scheren um Anstand, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit. Ihnen geht es einzig um hemmungslose Bereicherung, um die Anhäufung von Geld, Besitz und Macht, und sie schrecken auch nicht vor dunklen Machenschaften zurück, vor Lüge und Betrug. Einer dieser Parvenüs ist Don Calògero, listig, durchtrieben, geschäftstüchtig. Und obwohl der Fürst von Salina „dieses Häufchen von Schlauheit, schlechtsitzenden Kleidern, Gold und Ignoranz“ herzhaft verachtet, paktiert er doch mit ihm. Er kann sich der Einsicht nicht verschließen, dass Menschen wie Don Calògero zur neuen Herrenschicht gehören. Zwischen der schönen Tochter des Neureichen und seinem Neffen arrangiert er eine Hochzeit. Tancredi gelangt so in den Besitz eines großen Vermögens und kann eine steile Diplomatenkarriere im Königreich Italien machen, die seinen ehrgeizigen Ambitionen entspricht. Das, was er als Losung ausgegeben hatte, dass nämlich alles sich verändern müsse, damit alles bleibt, wie es ist, hat sich also bewahrheitet. Die Vertreter der Adelskaste nehmen auch weiterhin die obersten Ränge in der Gesellschaft ein. Dass er sich bei diesem Handel nicht „herrenmäßig“ benommen habe, muss sich Don Fabrizio allerdings eingestehen. Er weiß auch, dass er einer der letzten seines Standes ist, eines Standes freilich, dessen Mitglieder durch Untätigkeit, Gedanken- und Verantwortungslosigkeit ihren Niedergang selbst verschuldet haben. „Wir waren die Leoparden, die Löwen: unseren Platz werden die kleinen Schakale einnehmen, die Hyänen“, stellt er resigniert fest.

Lampedusa schildert die Welt des sizilianischen Adels mit einem leisen Humor, der nicht zuletzt den Reiz des Buches ausmacht. Das Vergnügen daran lässt sich am besten durch Beispiele wiedergeben. „Er rieb das Ohr des Hundes so kräftig zwischen den Fingern, dass das arme Tier aufwinselte – geehrt, ohne Zweifel, aber leidend.“ Und als dem Hauskaplan eine ausnehmend schöne junge Frau vorgestellt wird, fallen ihm Verse aus dem nicht gerade züchtigen Hohen Lied ein. „Pater Pirrone, in aller Heiligkeit nicht unempfindlich gegenüber weiblichem Zauber, in dem er wohlgefällig einen unleugbaren Beweis für die Güte Gottes erkannte, fühlte all seine Widerstände vor der milden Wärme der Anmut dahinschmelzen; und er murmelte ihr zu: ‚Veni sponsa de Libano‘. (Danach musste er ein wenig dagegen ankämpfen, dass ihm nicht andere, glutvollere Verschen wieder ins Gedächtnis kamen.)“ Und doch spürt man in der Darstellung die Trauer um das Verlorene. Die Zeichen des Verfalls machen sich allenthalben schon bemerkbar, und es ist eine versunkene Welt, die Tomasi di Lampedusa heraufbeschwört, es ist die Welt seiner Vorfahren, denn der Fürst des Romans hat seinen Urgroßvater zum Vorbild. Er selbst hat den Verfall schmerzhaft erfahren, denn was ihm blieb von seiner Kindheit, das, woran er hing, wurde ausgemerzt. Als er in den 1950er-Jahren den Leoparden niederschrieb, gab es das Palais der Familie in Palermo nicht mehr. Es war von alliierten Bomben zerstört worden. Und von dem Landsitz in Santa Margherita Bélize, dem Donnafugata des Romans, stand nach einem Erdbeben nur noch eine unbewohnbare Ruine.

Die Vergänglichkeit und der Tod sind auch Thema des Romans, nicht nur in der Hinsicht, dass es um den Niedergang eines Adelsgeschlechts geht. Das Verlangen nach dem Tod sei ein Charakterzug der Sizilianer, ist Lampedusa überzeugt. Wenigstens äußert sich so der Fürst gegenüber einem Gast aus dem Norden. Dieser „Piemontese“, wie er leicht abschätzig genannt wird, ist ein Vertreter der neuen italienischen Regierung. Ihm, der kaum Verständnis für die Verhältnisse auf der Insel aufbringen kann, legt Don Fabrizio auseinander, was nach seiner Erkenntnis die Wesensart der Sizilianer ist. Man darf annehmen, dass die Romanfigur die Meinung ihres Autors wiedergibt. Die Sizilianer hätten ein Bedürfnis nach Schlaf, nach Vergessen, und das sei schließlich nichts anderes als Todessehnsucht. Das habe zu tun mit der Geschichte des Landes und mit dessen Natur. Es seien immer Fremde gewesen, die die Insel beherrscht hätten: Griechen, Römer, Byzantiner, Araber, Normannen, Staufer, Spanier. Die Eindringlinge hätten ihre Kultur, ihre Verwaltung und ihren Regierungsapparat mitgebracht, nichts sei auf dem Boden Siziliens und aus dem Tun seiner Bewohner entstanden; das Land sei immer eine „Kolonie“ gewesen. Aus dem Bewusstsein der Fremdbestimmung und der damit verbundenen Lethargie ließen sich auch andere Eigenheiten erklären, das für den Außenstehenden so unbegreifliche Nebeneinander von bitterer Armut und verschwenderischem Reichtum und die auch heute noch dem Reisenden begegnende Verschlossenheit bei gleichzeitiger Neigung zur Redseligkeit. Und was nun die Natur beträfe, so sei diese bestimmt von schroffen Gegensätzen und von einem mörderischen Klima. Alle, die Romanfiguren und der Autor selbst, stehen unter dem Bann eines Landes, das beherrscht wird von einer „mächtigen“, „gewaltsamen“, „grausamen“ Sonne, das immer noch das „Hirtenland Sizilien“ ist, „wo jede Erinnerung schwindet“, eine „duftreiche, archaische Welt“, die Lampedusa in suggestiven Ansichten festgehalten hat.

„Habent sua fata libelli“, „Bücher haben ihr Schicksal“, sagt man. Das des Leoparden passt zu der eher resignativen Haltung seines Verfassers. Zwei große italienische Verlage lehnten das Manuskript ab, sodass Tomasi di Lampedusa seinen Roman zurückzog. Dass er überhaupt gedruckt wurde, verdankt sich dem Umstand, dass er – mehr oder weniger zufällig – dem renommierten Schriftsteller Giorgio Bassani in die Hände fiel. Der erkannte die Qualität des Buches und sorgte für seine Veröffentlichung. Es wurde in kürzester Zeit ein Riesenerfolg. Davon hatte sein Urheber freilich nichts mehr, er erlebte noch nicht einmal die Drucklegung seines Werkes. Er starb vorher an Krebs. Der Opulenz seiner Schilderungen entspricht die grandiose Verfilmung Luchino Viscontis. Ein backenbärtiger Burt Lancaster gibt Don Fabrizio sein Löwenhaupt, Alain Delon ist ein liebenswürdig spöttischer, agiler Tancredi und Claudia Cardinale verleiht der Tochter des Don Calògero eine jugendlich blendende Schönheit. Dass er ein solches Fest der Sinne entfesseln könnte, daran hat der blasse, verschlossene Lampedusa sicher nicht gedacht, der, angetan mit einem verschlissenen Umhang, in einem palermitaner Café an seinen Texten saß und ein Sizilien beschwor von glutvoller Pracht und wollüstiger Trägheit, ein Land üppig und morbide, dann wieder karg und von einer unbegreiflichen archaischen Strenge, ein Land, von dem er sagte, es sei „ohne Erlösung“.

Bisher war immer nur von Fürsten und anderen Aristokraten die Rede, davon, wie die Herren die große geschichtliche Wende des Risorgimento erlebt haben. Aber was war mit den einfachen Menschen, mit den Bauern und Tagelöhnern, mit den Handwerkern und Arbeitern? Schließlich waren sie es, die sich erhoben haben, und nur durch ihren Einsatz konnte es zu einem Umsturz kommen. Gerade auf sie setzte Garibaldi, denn dass er Sizilien zum Ausgangspunkt für seinen Kampf um die Einheit Italiens wählte, beruhte auf einem genauen politischen Kalkül. Obwohl es auf der Insel starke Autonomiebestrebungen gab und obwohl ein italienisches Nationalbewusstsein nicht sonderlich entwickelt war, konnte man doch die wiederholten Bauernunruhen, die Tradition bewaffneter Banden und die gegen das Regime in Neapel gerichtete Stimmung für die vaterländische Sache nutzen. Daraus geht schon hervor, dass sich die Interessen des sizilianischen Volkes nicht unbedingt mit denen der Revolutionäre aus dem Norden deckten.

Indessen, woher weiß man überhaupt etwas darüber, welche Motive die einfachen Leute hatten, darüber, was sie fühlten und was sie wollten? Sicher nicht aus den Geschichtsbüchern, denn die werden von den Gebildeten geschrieben, nicht von Bauern oder Arbeitern. Und die sogenannten historischen Quellen, die Augenzeugenberichte, die Memoiren und Briefe, die diplomatischen Noten, politischen Manifeste und Gerichtsprotokolle stammen auch nicht von Menschen aus den unteren sozialen Klassen. Damit wird ein Problem benannt, dem sich Vincenzo Consolo (1933–2012) mit seinem Roman Das Lächeln des unbekannten Matrosen stellt. Freilich, dessen Hauptperson ist erneut ein Adliger, nämlich ein Baron von Mandralisca.

Diesem Namen begegnet man wieder, wenn man nach Cefalù kommt. Dort erhebt sich der Normannendom vor dem wuchtigen, die Stadt überragenden Felsklotz, der der Stadt den Namen gab: Kopf, griechisch kephalé. Wenn man nun dem Dom den Rücken zukehrt, den sich absenkenden Platz hinuntergeht und den Corso Rugero überquert, gelangt man in eines der Altstadtgässchen, die zum Meer hinabführen. Es ist ein eher unscheinbares Schild an einem auch nicht weiter auffallenden Haus, das auf eine Sehenswürdigkeit hinweist, der die Touristen vor dem Dom meistens keine Beachtung schenken, auf das Museo Communale Mandralisca. Enrico Piraino, Baron von Mandralisca (1809–1864), kein anderer als die Romanfigur, war der Gründer des Museums. Dieses besteht im Wesentlichen aus seinen Sammlungen, die er seiner Vaterstadt vermachte. Zu sehen sind Reste römischer Mosaiken, griechische Vasen, antike Münzen, Uhren und Möbel aus dem 19. Jahrhundert, flämische, italienische und sizilianische Gemälde vom 15. bis zum 18. Jahrhundert und schließlich, ja auch das, Mineralien und Schnecken. Das Museum ist die Gründung eines Mannes, der ein Menschenfreund war, der seine Schätze nicht für sich behalten, sondern sie der Allgemeinheit zugänglich machen wollte. Glanzstück der Sammlungen ist ein Gemälde aus der Renaissance, das Bildnis eines Unbekannten von Antonello da Messina (um 1429/1430–1479). Von ihm, dem einzigen sizilianischen Maler aus dieser Zeit, der einige Berühmtheit erlangte, sind nur wenige Werke erhalten. Wie im richtigen Leben erwirbt auch im Roman der Baron von Mandralisca das Porträt; und beide, das Bild und der Käufer, haben Consolo zu seinem historischen Roman inspiriert.

Das Porträt zeigt das Brustbild eines Mannes, der sich dem Betrachter nur halb zuwendet. Er trägt ein dunkles, am Kragen und an der Brust weiß abgesetztes Gewand und eine schwarze, die Stirn bedeckende Kappe. Der Mann steht am Beginn seiner mittleren Jahre. Forschend, aus den Augenwinkeln schaut er den Betrachter an, mit einem stechenden Blick seiner kleinen schwarzen Augen. Das Bemerkenswerteste aber ist sein Lächeln. „Der ganze Gesichtsausdruck hielt für immer jenes zarte, flüchtige und unbeständige Gekräusel der Ironie fest, den sublimen Schleier einer herben Schamhaftigkeit, hinter dem intelligente Wesen ihr Mitleid verbergen. Diesseits des leichten Lächelns wäre dieses Gesicht der kraftlosen Erschlaffung, der Unlust und Verschlossenheit, nahe einer dem Schmerz entspringenden Absenz, verfallen, jenseits hätte es sich zum offenen sarkastischen, mitleidlosen Lachen oder zu dem – allen Menschen gemeinsamen – mechanischen befreienden Gelächter verzerrt und verzogen.“

Und nun beginnt ein Spiel mit der Ebenbildlichkeit, denn dem Baron von Mandralisca begegnet ein Matrose, der ganz so aussieht wie der Mann auf dem Porträt. Dieselben Gesichtszüge kehren wieder bei einem Kaufmann, bei einem Verschwörer und bei einem Oberst der garibaldinischen Armee. Wie sich herausstellt, sind der Matrose, der Kaufmann und der Verschwörer dieselbe Person. Es handelt sich immer um den Freiheitskämpfer Giovanni Interdonato, der sich in verschiedenen Kostümierungen vor den Häschern der Bourbonen verbirgt; auch er eine historische Gestalt. Der Offizier ist sein Vetter, der ihm zum Verwechseln ähnlich sieht. Aber dass das Lächeln, der prüfende, mitfühlende Blick noch einmal erscheint, bezeugt, dass die Vergangenheit nichts Abgeschlossenes ist; die Geschichte ist nicht einfach das Gewesene, das, was einst sich zugetragen hat und die gegenwärtige Generation nichts mehr anginge. Die Menschen früherer Zeiten richten Fragen und Mahnungen an die Gegenwart. Und so gesehen ist das Bildnis aus einer längst vergangenen Epoche höchst lebendig. Es entfaltet eine Wirkung auf den Betrachter, der sich angesprochen fühlt. Mandralisca will es zu einem bestimmten Zeitpunkt so erscheinen, als verzöge sich das Gesicht zu einem „bösartigen sardonischen Grinsen“, habe also nicht mehr den Ausdruck mitfühlender Anteilnahme, den er sonst an ihm gewahrte.

Umgekehrt wirkt auch die Gegenwart zurück auf die Vergangenheit und verleiht ihr eine bestimmte Bedeutung. Denn welche Mahnung, welchen Vorwurf und welche Fragen das Lächeln enthält, ergibt sich aus der aktuellen Situation. Der Matrose mit dem Gesicht des Mannes aus der Renaissance weist Mandralisca auf das Elend eines Arbeiters aus den Bimssteingruben von Lipari hin. Und der Oppositionelle Giovanni Interdonato – eine Person mit dem Matrosen, wie wir uns erinnern – macht den Baron zum Mitwisser der Verschwörung gegen die Bourbonenherrschaft. Er wird dadurch empfänglich für die Ungerechtigkeit der bestehenden Verhältnisse und zunehmend kritischer gegenüber seinen Standesgenossen. Er fragt sich, wodurch der Adel seinen Reichtum, seine Macht und seine Privilegien überhaupt verdient habe.

Ausgerechnet sein Interesse für ein Gebiet, das fernab jeder Politik liegt, lässt ihn zum Augenzeuge und unmittelbar Betroffenen der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen werden. Er hat sich auf einen entlegenen Zweig der Zoologie verlegt, auf die Malakologie, die Weichtierkunde mit der Spezialisierung auf Schnecken. Bei einer Exkursion in die Berge der Madonie – es ist der Mai 1860 und Garibaldi steht vor Palermo – gerät er in die Wirren einer Bauernrevolte. Die aufständischen Bauern und Hirten richten unter den Bürgern und Honoratioren des Ortes Alcàra Li Fusi ein schreckliches Massaker an. Erst nach Wochen machen garibaldinische Truppen den anarchischen Zuständen ein Ende. Die Aufrührer werden gefangen genommen und vor Gericht gestellt. Sie erwartet die Todesstrafe. Der Oberst, der die Soldaten befehligt, auch er, wie schon vermerkt, eine Reinkarnation des Porträts, spricht von „bestialischen Gesellen“, sie seien „keine Menschen“, sondern „wilde Tiere, Hyänen“. Er macht sie sogar zu Anhängern der Bourbonen, was sie zuallerletzt sind. Immerhin gehört auch der Offizier zu einer revolutionären Bewegung, sogar zu einer, die behauptet hat, sie vertrete die Sache des Volkes. Hier nun beginnen die Probleme Mandraliscas. Dass es die Bluttaten gegeben hat, darüber kann auch er nicht hinweggehen. Er hat die grausam verstümmelten Leichen gesehen. Er weiß aber auch, dass die Gewalt ein Akt der Befreiung ist von Menschen, die lange auf das Übelste geschunden, gequält und gedemütigt wurden; auch davon ist er Augenzeuge. Er wird zum Anwalt der Bauern; denen, die sich nicht artikulieren können, versucht er, eine Stimme zu geben.

Beziehungsreich wie das Lächeln ist auch die Schnecke, von der im Buch viel die Rede ist. Zunächst gibt sie nur das Forschungsobjekt des Barons ab. Aber sie ist nicht nur das, sie ist auch ein Symbol, schillernd und mehrdeutig. Dessen Grundbedeutung geht einem auf, wenn man sich an die Redeweise erinnert „sich in sein Schneckenhaus verkriechen“. Das tat Mandralisca, als er sich der zweckfreien Wissenschaft verschrieb. Die Mollusken sind seine Passion, und er will sich als Gelehrter einen Namen machen. Das ist aber nichts anderes als eine Form des Eskapismus, ein Rückzug in das abgehobene Gebiet reiner Wissenschaft. Indem er sich der Gesellschaft entzieht, verhält er sich bloß negierend, und was er tut, ist eigentlich destruktiv. Auch dafür steht die Schnecke, für die Kräfte der Negation und der Zerstörung, denn sie ist gefräßig, vernichtet Pflanzen und ganze Kulturen, sogar von Aas ernährt sie sich. Sie ist demnach im Bunde mit den Mächten der Verwesung und des Todes. Das Licht scheut sie, im Dunkeln hat sie ihr Wesen. Und so gehört das finstere Verlies, in dem die Aufständischen aus den Bergen der Madonie auf ihren Prozess warten und dessen Mauern ihre Inschriften tragen, zum Reich der Schnecke. Die gewundene Form ihres Hauses kehrt wieder im Grundriss des Kerkers. Ausführlich beschreibt ihn Consolo, und er sagt auch, wo diese Anlage sich befindet, nämlich in dem gedrungenen, zylindrischen Turm des Kastells, das oberhalb seiner Vaterstadt Sant’Agata di Militello liegt. Die Schnecke ist demnach auch ein Sinnbild für das Ausweglose, das Labyrinthische.

Mandralisca, durch den Bauernaufstand zum Umdenken bewogen, erkennt, dass nicht nur sein Leben unter dem Zeichen der Schnecke stand. Für ihn fallen darunter alle Handlungen, Bestrebungen und Einrichtungen, die es zulassen, dass Menschen im Elend und in Knechtschaft leben. Auch die hehren Ideale der italienischen Patrioten zählen dazu, und „eine Schnecke ist auch dieses Lächeln“ des Unbekannten, deshalb, weil es eine Haltung vornehmer Distanziertheit einnimmt. Schließlich kommt Mandralisca zu dem Befund: „Das Eigentum […] ist die größte, ungeheuerlichste, alles verschlingende Schnecke, die stets ihre Kreise ziehend durch die Welt gekrochen ist.“ Er kann daraus nur folgern, dass er zum Handeln verpflichtet ist. So will er eine Schule gründen, damit die Menschen in die Lage versetzt werden, für sich zu sprechen und für sich zu entscheiden. Sein Vorbild, der historische Mandralisca, hat sich tatsächlich politisch betätigt. Er war während der Revolution von 1860 Vorsitzender eines Distriktkomitees in seiner Heimatstadt Cefalù. Auch eine Schule hat er gegründet, wenigstens sollte sein Vermögen in eine solche Einrichtung fließen und zudem in ein Hospital, wie seinem Testament zu entnehmen ist. Dass er seine Sammlungen der Allgemeinheit geschenkt hat, wurde schon berichtet.

Zwanzig Jahre nach der Vollendung der italienischen Einheit hatte sich die vaterländische Begeisterung merklich gelegt. Viel hatte sich nicht verändert auf Sizilien. Weiterhin herrschten Armut und Unterdrückung, nur dass an die Stelle der alten Herren neue getreten waren. Weder konservative noch fortschrittliche Regierungen hatten es verstanden, die Lage des einfachen Menschen, insbesondere die der Landbevölkerung und der Grubenarbeiter in den Schwefelminen, grundlegend zu verbessern. Das provozierte geradezu die Entstehung einer neuen politischen Kraft, die der „Fasci“, der Arbeiterbünde, welche sich als Teil der sozialistischen Bewegung begriffen. Die Auseinandersetzungen zwischen den politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen, denen ein Bankenskandal zusätzliche Brisanz verlieh, sowie der Aufstand der Fasci 1894 geben den Stoff ab für Luigi Pirandellos (1867–1936) Roman Die Alten und die Jungen (I vecchi e i giovanni). Die Handlung spielt in den Jahren 1892 bis 1894; die Schauplätze sind Agrigent und Rom.

Die für die Epoche typischen Haltungen vertreten drei Geschwister aus der Fürstenfamilie Laurentano; sie stehen im Mittelpunkt des Geschehens. Ihr Vater Don Gerlando war ein glühender Patriot, was ihm einen Sitz im sizilianischen Parlament von 1848 und die Feindschaft der Bourbonen eintrug. Das Vaterland, für das er kämpfte, war aber nicht Italien, „sondern ein autarkes Königreich Sizilien mit einem sizilianischen König […] Danach richtete sich damals das Streben aller guten Sizilianer“, sagt einer seiner Söhne. Als das scheiterte, musste der Fürst, wie andere Nationalisten auch, ins Exil nach Malta gehen. Aus Kummer über die desperate Lage seines Landes beging er Selbstmord, nicht ohne als Vermächtnis einen Abschiedsbrief zu hinterlassen, in dem er seine drei Kinder auffordert, sich für sein „heiliges Anliegen“ einzusetzen. Damit sind wir bei den Akteuren des Romans.

Im Gegensatz zum Vater ist Don Ippolito, der Erstgeborene und Erbe, ein treuer Gefolgsmann der Bourbonen. Für ihn sind die Revolutionäre von 1848 und 1860 nur Unruhestifter und „Pöbel“. Er lebt im freiwilligen „Exil“ auf seinem Landgut Colimbetra, wo er sich archäologischen Studien widmet. Dieses Refugium ist allerdings komfortabel ausgestattet. Bewacht wird es von einer fünfundzwanzig Mann starken Truppe, die der Fürst in bourbonische Uniformen steckt, schon um äußerlich seine Gesinnung zu bekunden. Ausgerechnet mit einem Profiteur der Einheit, mit dem reich gewordenen Bankier und Schwefelgrubenbesitzer Flaminio Salvo verbündet sich Fürst Ippolito, auch in der Weise, dass er, trotz seines vorgerückten Alters, dessen Schwester heiratet. Sie fördern einen windigen Rechtsanwalt, der als Parlamentsabgeordneter ihre Interessen in Rom vertreten soll, die Interessen des Kapitals, der Feudalaristokratie und der Kirche. Auch bei Pirandello machen also der alte Adel und die neue Klasse von Spekulanten gemeinsame Sache.

Don Ippolito feindlich gegenüber steht seine Schwester Caterina Auriti-Laurentano. Sie hat sich schon als junge Frau auf die Seite der Revolutionäre von 1860 geschlagen und einen von ihnen, Stefano Auriti, geheiratet. Da diese Ehe nicht standesgemäß ist, wurde sie enterbt. Ihr Mann ist in der Schlacht bei Milazzo, mit der Garibaldi Sizilien endgültig unter seine Kontrolle brachte, gefallen. Der Sohn Roberto tritt das politische Erbe seines Vaters an und will sich in Rom für die Ziele der Patrioten und gegen restaurative Bestrebungen einsetzen. Caterina, stolz und unbeugsam, lebt lieber in Armut, als Almosen von ihrem begüterten Bruder anzunehmen. Sie ist eine verbitterte Frau, denn die Opfer, die sie und ihre Familie gebracht haben, führten auch nicht annähernd zu dem, was sich die Kämpfer der Einheit erhofft hatten. Pirandello lässt sie das Fazit aus dreißig Jahren Zugehörigkeit Siziliens zum Königreich Italien ziehen: Zu „einem Trümmerhaufen waren in Sizilien all die Illusionen, all die glühenden Überzeugungen, die den Aufstand genährt hatten“, zusammengebrochen. „Arme Insel, die man behandelte wie erobertes Gebiet! Arme Inselbewohner, die man behandelte wie Barbaren […] Die Leute vom Kontinent waren eingefallen, um sie zu zivilisieren.“ Rechte wie linke Regierungen beschuldigt sie „der Fälschung und Unterschlagung von Dokumenten“, der Anstrengung „schändlicher politischer Prozesse“, der „widerrechtlichen Aneignung“, der „Betrügerei“, der „Erpressung“, der „skandalösen Begünstigung“, der „Verschwendung öffentlicher Mittel“, des „zügellosen Klientelismus“ und der „Wahlmachenschaften“.

Dieser Schwall von Vorwürfen und Anschuldigungen hat einen realen Hintergrund. Ohne Rücksicht auf die Eigenheiten Siziliens, auf die ökonomischen Strukturen und die gewachsenen sozialen Beziehungen wurden dem Land eine Verwaltung, ein Finanz- und Militärwesen nach dem Vorbild Piemonts aufgenötigt. Präfekten, Beamte und Polizisten aus dem Norden, die kaum Kenntnisse besaßen von dem neuen Verwaltungsgebiet, sollten dieses Programm durchsetzen. Historisch belegt ist, dass es Sizilien im vereinten Italien wirtschaftlich schlechter ging als zur Zeit der Bourbonen. Das traf vor allem die kleinen Leute. Hinzu kam, dass die Regierungsmaßnahmen als Behördenwillkür empfunden wurden. Als sich Widerstand regte, machten die Administratoren vom Festland moralische Defekte der Sizilianer für die Unzufriedenheit verantwortlich, anstatt nach den sozialen und wirtschaftlichen Ursachen zu fragen. Nur durch den Einsatz von Militär und Polizei könne man die Insulaner zur Räson bringen, glaubten sie. Die ab 1863 ausbrechenden Revolten wurden blutig niedergeschlagen. Von einem der Generäle, der die dafür abkommandierten Truppen befehligte, sind die Worte überliefert, Sizilien habe „den Weg vom Barbarentum zur Zivilisation noch nicht ganz durchlaufen“. Den meisten Sizilianern erschien es so, dass die eine Fremdherrschaft nur die andere abgelöst hatte. Das mussten Patrioten wie Donna Caterina umso schmerzlicher empfinden, als sie in dem Bewusstsein lebten, dass von Sizilien die Einheit der Nation ausgegangen war, dass es das Land war, „das sich als einziges bedingungslos in einer großzügigen Geste Italien geschenkt hatte, und von diesem Italien zum Dank nichts anderes zurückbekommen hatte als Elend und Missachtung.“

Der zweite Bruder, Cosmo Laurentano, hält sich ganz heraus aus den gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen. Er lebt zurückgezogen in einer verfallenden Villa am Meer, die zu bewohnen, ihm sein Bruder Ippolito gestattet. Er ist vertieft in philosophische Betrachtungen. Die Welt und das Leben hält er für Trug, für eine barmherzige Täuschung, die es den Menschen ermöglicht, zu leben und sich Ziele zu setzen. Die Verwicklungen seiner Geschwister ins Zeitgeschehen betrachtet er aus der Distanz einer stoischen Geisteshaltung. Ihm ist es vorbehalten, ein resignatives, illusionsloses Urteil über die verschiedenen Bestrebungen abzugeben. Er ist eine der einsamen, außerhalb der Gesellschaft stehenden Gestalten, die typisch sind für Pirandellos spätere Werke, und er spricht wohl auch am ehesten die wahre Meinung seines Autors aus.

Lando, der Sohn des Don Ippolito, ist einer der Repräsentanten der „Jungen“. Zu seinem Vater ist er auf Distanz gegangen. Er sei „einer von ihnen“, „ein Fürst und zugleich Sozialist“, sagen die Arbeitervertreter im Distrikt Agrigent. Lando gibt sein mondänes Leben in Rom auf, um mit der Unterstützung seiner linken Genossen aus der Hauptstadt in Sizilien einen sozialistischen Umsturz herbeizuführen. Er ist der Meinung, dass die „Alten“ versagt haben, dass sie die nationale Erhebung „wie gierige Krämer und diebische Spekulanten ausgenutzt haben“, und die politisch-weltanschauliche Differenz ist zugleich ein Generationenkonflikt. Die Revolution – Pirandello denkt wohl an den Aufstand von 1894 – schlägt jedoch fehl.

Am Ende steht der totale Misserfolg. Weder ihre politischen noch ihre persönliche Ziele haben die Protagonisten erreicht, die Alten nicht und nicht die Jungen. Als eine „Parabel des Scheiterns“ hat ein Rezensent den Roman bezeichnet. Er ist ein breit angelegtes Panorama der sizilianischen Gesellschaft mit einer Fülle von Figuren aus allen Bevölkerungsschichten, und neben der politischen Aktion gibt es Liebschaften, Intrigen und Verrat. Der in Agrigent gebürtige Pirandello war ein Zeitzeuge. Den Bankenskandal erlebte er als Student in Rom, und von der Gründung der „Fasci“ und den Arbeiterunruhen war seine Familie direkt betroffen, denn sie besaß Schwefelgruben auf Sizilien, ging aber bankrott. Mitleidlos analysiert er die Schwächen seiner Landsleute. Sie sind „entweder lebensunfähig oder mutlos oder servil“. Es herrschen „Trägheit, Elend und Unwissenheit“, woran „ein bisschen die Sonne schuld“ ist. Und der dem gebildeten Bürgertum entstammende Pirandello schildert die Menschen vom Land, die zum Markt in die Stadt kommen, als handele es sich um einen fremden Eingeborenenstamm, unbegreiflich und exotisch. Da erscheinen „grobe, ungeschliffenen Kerle […] mit erdbraunen, verbrannten Gesichtern, mit gierigen Wolfsaugen, in ihren schweren Festkleidern […] Sie redeten alle durcheinander mit schrillen gutturalen Lauten und offenen, langgezogenen Vokalen.“ Und in den Dörfern sind „Bluttaten an der Tagesordnung, sei es offen oder durch gedungene Helfer, bei Raufhändeln oder aufgrund wohlgeplanter Rache, und ebenso die Raubüberfälle und der Viehdiebstahl und die Entführungen und Erpressungen“. Aber diese „Wildheit“ ist für Pirandello keineswegs zurückzuführen auf eine nicht weiter erklärliche Mentalität und schon gar nicht auf eine prinzipielle moralische Schwäche. Der Grund dafür liegt in der „Armut“, in der „primitiven Unwissenheit“, in den „unvorstellbaren Mühen des Daseins“. Um im Land tatsächlich etwas zu verbessern, hätte man die sozialen Verhältnisse von Grund auf ändern müssen. Da ist auf der „einen Seite das feudale System, die Gewohnheit die Bauern wie Tiere zu behandeln, und der Geiz und der Wucher; auf der anderen der uralte, bittere Hass auf die Signori und das absolute Misstrauen gegen die Gerechtigkeit.“ Auch den Sozialrevolutionären gelingt es nicht, „die harte Schlacke jahrhundertealter Dummheit, bewehrt mit Misstrauen und tierischer Verschlagenheit, zu durchbrechen, die das Denken der Bauern und Schwefelarbeiter Siziliens umschloss“.

Luigi Pirandello, Literaturnobelpreisträger von 1934, ist wohl der bekannteste sizilianische Autor. Insbesondere seine Theaterstücke, vor allem Sechs Personen suchen einen Autor, haben ihn weltberühmt gemacht. Von seinen Werken hat nur der Roman Die Alten und die Jungen einen direkten Bezug zu Sizilien. Der findet sich allenfalls noch in der umfangreichen Sammlung von Erzählungen mit dem Titel Novellen für ein Jahr (Novelle per un anno). Dargestellt werden meistens Situationen, die die gewöhnliche Art zu denken und zu urteilen herausfordern oder infrage stellen. Es tauchen die Käuze, Narren und skurrilen Gestalten auf, die Pirandello gerne in seiner Heimat ansiedelt. Den größten Teil seines Lebens hat er in Rom zugebracht, als Professor für Literatur, als Theaterleiter, als Schriftsteller. Sein Elternhaus, das auf den Höhen vor Agrigent liegt, wurde wieder instand gesetzt und zu einem Museum und einer Gedenkstätte umgestaltet. Von dort hat man einen phantastischen Blick auf das Meer, das hier das „afrikanische“ heißt. Die Landschaft mit der Aussicht auf das Meer muss Pirandello geliebt haben, immer wieder kommt sie vor in seinen Erzählungen. Gleichwohl, seiner Vaterstadt, die er nur mit ihrem alten arabischen Namen „Girgenti“ nennt, hat er ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Sie sei ein „armseliges Nest“, in dem „bleierne Langeweile“ und „trostlose Leere“ herrschten. Einen der Schauplätze des Romans, das Haus der Donna Caterina, erreicht man über „schmale, verwinkelte, ansteigende Gässchen mit schlecht gepflasterten, oft verschmutzten Stufen, in denen es nach verschiedenen Gerüchen stank, die aus den Läden drangen – Läden, dunkel wie Höhlen“. Etwas von der Atmosphäre kann man noch heute erspüren, wenn man von der Hauptstraße, der Via Atenea, den Berg hinauf in Richtung Dom geht.

Sizilien

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