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Die Männer des Südens
ОглавлениеSie reden nicht über Fußball, nicht über Autos und Politik, sie reden nur über Frauen, das ist ihr einziges Thema. Aber die Unterhaltung dreht sich nicht etwa um die Angetrauten, um deren Fehler oder Vorzüge, auch nicht um Geliebte, um Frauen, die ein Rendezvous gewähren, ein Verhältnis eingehen oder Schluss machen mit einem Mann. Die Frauen, die Gegenstand der Gespräche sind, gibt es so eigentlich gar nicht. Anlass für eine Unterhaltung sind ganz normale Frauen, solche, wie sie an einer Caféhausterrasse vorübergehen, die Auslagen eines Schaufensters betrachten, in der geöffneten Tür eines Busses stehen oder auf einer Parkbank sitzen. Unversehens werden diese Frauen in Vitaliano Brancatis (1907–1954) Roman Don Giovanni in Sizilien (Don Giovanni in Sicilia) von 1942 zu fabelhaften Wesen, die nichts Alltägliches mehr haben, die bezaubern durch einen Blick, eine Geste, das Wippen des Rockes, eine verrutschte Bluse. Anblicke wie diese setzen die Vorstellungskraft einer Gruppe von Freunden in Gang, jungen Männern, die auf der Suche nach solchen Sensationen durch Catania streifen. Man kennt sie aus südlichen Städten, diese Cliquen von Flaneuren, die mit Kennermiene die weiblichen Passanten mustern. Doch diese hier sind schon etwas Besonderes, denn sie belassen es beim Reden. Ihre Jagden führen nicht zu wirklichen Begegnungen, und was sie so leidenschaftlich bereden, sind nur erträumte erotische Abenteuer. Sicher, sie kennen auch reale Beziehungen zu Frauen. Dafür zuständig ist ein alter Gnom, der ihnen ungeahnte weibliche Reize anpreist und sie in finstere Gassen bringt, zu Wesen, deren Schönheit erst bei einer spärlichen Beleuchtung zur Geltung kommt. Diese Begegnungen enden immer so wie bei dem schon etwas älteren Freier, der schwört, nie mehr eine derartige Höhle betreten zu wollen, worauf die Gunstgewerblerin entgegnet: „Also bis morgen“.
Die Freundesgruppe schart sich um Giovanni Percolla. Ganz jung ist er nicht mehr, schon vierzig. Umsorgt wird er, wenn man von dem Dienstmädchen einmal absieht, gleich von drei Frauen, seinen Schwestern, die allesamt unverheiratet sind. Sie fühlen sich als Kriegerwitwen, denn die Männer, die sie hätten ehelichen können, seien im Krieg, gemeint ist der Erste Weltkrieg, geblieben, behaupten sie. Diese biografische Glosse dient vor allem der Hebung des eigenen Selbstbewusstseins. Zu Hause führt sich Giovanni auf wie ein Pascha, und seine Schwestern behandeln ihn mit „Ehrfurcht“. Sie sorgen dafür, dass er zu genau festgesetzten Zeiten sein Essen bekommt, dass er stets saubere Wäsche und sein Waschwasser die richtige Temperatur hat. Ängstlich wachen sie über sein Mittagsschläfchen, das ihm heilig ist. Sein Geld verdient er im Geschäft des Onkels, und abends lungert er mit den Kumpanen herum.
Brancatis Don Juan ist eine bestimmte Spielart dieses Typus, die spezifisch sizilianische, folgt man dem Autor. Die Huldigung der Frau beläuft sich eher auf ein Huldigungsritual als auf eine Eroberungspraktik. Da benimmt sich der echte, der spanische Don Juan, der seine erste literarische Prägung in De Molinas Drama fand, ganz anders. Der setzt alles daran, um eine Frau zu besitzen. Er ist völlig skrupel- und gewissenlos, schert sich weder um Glauben noch um Moral, und wird selbst zum schäbigen Betrüger, der die Frauen mit leeren Versprechungen ködert. Die schönste und reinste Verkörperung des Verführers, des Herzensbrechers, der mitreißt und verzückt, ist zweifellos Mozarts Don Giovanni, wenn man dabei weniger an die Handlung, als vielmehr an die Musik denkt. Der Werbende hat es nicht nötig, zu billigen Tricks zu greifen, er wirkt allein durch den Schmelz und die Glut des Sinnlichen, durch seine Leidenschaftlichkeit, die jede Überlegung außer Kraft setzt. Und wer könnte schon Mozarts Musik widerstehen: „Reich mir die Hand mein Leben […]“ Es gibt sogar einen nordischen Don Juan. Den hat der dänische Philosoph Sören Kierkegaard erfunden. Es handelt sich um einen kalten Verstandesmenschen, der verführerische Arrangements entwirft und es genießt, wenn sein Kalkül aufgeht. Aber vermutlich würde keine Frau in eine solche Falle tappen, denn es fehlt der Gefühlsüberschwang, das Feuer leidenschaftlichen Begehrens, und Kierkegaard war nur ein Philosoph.
Die sizilianischen Don Giovannis sind von einem anderen Schlag, sie haben entschieden zu viel Gefühl und berauschen sich an ihren eigenen Schwelgereien. Zunächst aber gehören sie zu einer italienweiten Spezies, zu der des „Papagallo“. Der Papagallo ist einer, der damit beschäftigt ist, Goldkettchen und Sonnenbrillen zu tragen, um damit, an Meeresküsten blonde Touristinnen zu bezirzen – nichts als sole und amore. Er ist ganz von sich überzeugt und hält sich für unwiderstehlich. Aber er stellt nur die Trivialausgabe des Don Giovanni dar und ist, nun ja, rechtschaffen komisch. Wie man hört, soll diese Unterart im Aussterben begriffen sein. Etwas mehr Format haben die sizilianischen Gigolos schon. Sie entwickeln geradezu dichterische Fähigkeiten und statten die Frauen mit Eigenschaften aus, die nur ein phantasiebegabter Mann an ihnen gewahrt. Ihr Verhalten gegenüber dem Weib wird bestimmt durch das Spiel der Vorstellungen, nicht durch rohen Aktionismus. Mit dem Dichter teilen sie das Wissen darum, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil des tatsächlich erlebten oder bloß imaginierten erotischen Vergnügens in der Absicht besteht, davon zu erzählen, zumal in Catania, „wo man Gespräche über Frauen mehr als die Frauen genoss“. Darin steckt auch die melancholische Weisheit, dass die Lust etwas ungemein Flüchtiges ist und dass davon nur bleibt, was geistig verarbeitet wurde.
Die Frau als Obsession nimmt bei Don Juan die Form an, dass ihm die Eroberung alles bedeutet. Um sein Ziel zu erreichen, ist er bereit, die Regeln des Anstands, die Normen der Sittlichkeit und die Gebote des Glaubens zu verletzen. Für ihn sind die Liebe und die Moral getrennte Gebiete, darin ist er ein Machiavellist, und die Bedenkenlosigkeit im Einsatz der Mittel macht das Dämonische und Abgründige dieser Gestalt aus. Die italienische Literatur, die Literatur überhaupt, kennt eine Form der Liebe, die im genauen Gegensatz dazu steht, den Petrarkismus. Es ist eine gewisse Laura, von der Francesco Petrarca ganz eingenommen ist. Seine Gedichte besingen sie, ihren Blick, ihren Gang, ihre Stimme. Immer neue Vorzüge entdeckt er an ihr, schon der Name hat etwas Kostbares, lässt an l’oro (Gold) und l’aura (Hauch) denken. Aber zu einer wirklichen Liebesbeziehung kann es gar nicht kommen, diese Liebe verträgt sich nicht mit der gemeinen Realität, zu vollkommen, zu edel, zu schön, zu tugendhaft ist die Angebetete, und das weiß natürlich auch Petrarca. Er oder vielmehr das Ich seiner Poeme ist der Typus des romantischen Liebhabers, der die Frau verklärt zu einem ätherischen Wesen, sie – und hier ist der Begriff wörtlich zu nehmen – anhimmelt. Petrarca ist nicht der Erste, der diesem Empfinden Ausdruck verleiht, das taten vor ihm schon die Minnesänger, und die Romantiker sind deren legitime Nachfahren. Nicht ganz unnütz ist hier die Anmerkung, dass selbst die tapfersten Ritter zuweilen etwas Erholung von der „Anhimmelei“ benötigten. Dazu begaben sie sich in die Badestuben, und da, mein Lieber, fanden sich Mägde, die ein ganz anderes Verständnis von der Liebe hatten.
Weil sie nur aus der Distanz lieben, wären die sizilianischen Don Giovannis am Ende Romantiker, was darauf hinausliefe, dass sie gar keine Don Giovannis sind. Aber dazu sind sie wieder zu wenig zartfühlend, denn von ihnen wird gesagt: „Während im übrigen ihre Erfahrung im Auskosten wollüstiger Phantasien ungeheuer war, hätte man ihre wirklichen Abenteuer mit Frauen an den Fingern einer Hand abzählen können. Ihre Vergangenheit als Don Juans ließ sich in zehn Minuten berichten.“ Sie vollbringen ihre Liebestaten mit den Augen, und es liegt einiges in diesen Blicken, sie sind „schleichend, hinterhältig, klebrig, feuerglühend“, jedenfalls alles andere als reinen Sinnes. Giovanni Verga soll, als er auf diese Verhaltensweisen angesprochen wurde, sich so geäußert haben: „Von wegen Romantiker […], wir sind Balkonschwängerer.“
Unseren Don Giovanni aus Catania erwischt es dann doch. Er verliebt sich in eine umschwärmte Schönheit, und blond ist sie auch noch. Sie hat nur einen Fehler, sie stammt aus Mailand. Ihr gegenüber verhält sich Giovanni ausnehmend schüchtern, geradezu gehemmt. Er bekommt kaum ein Wort heraus, und es bedarf einiger Unterstützung, bis es soweit ist, dass die beiden Händchen halten. Schließlich heiraten sie; zuvor hat sich die Braut, die Frau aus dem Norden, einige Freiheiten ausbedungen. Die Hochzeit bringt eine weitere Unannehmlichkeit mit sich, nämlich die, nach Mailand zu ziehen. Dort ist es neblig und kalt. Die Menschen sind ungeheuer geschäftig, das Leben ist „aktiv“, „rasch“ und „zielbewusst“. Der arme Giovanni muss diesen Lebensstil annehmen, er wird „ganz allmählich ein anderer, „dürr wie ein Dauerläufer“, und morgens duscht er kalt. Freilich, die Damen in Mailand sehen das anders, für sie ist er eine Art zoologischer Rarität, ein Sizilianer, der zu den „Männern des Südens“ gehört. Von denen erwarten sie, dass sie wild und unbezähmbar sind. Giovanni bringen sie in allerlei verfängliche Situationen, um ein wenig die Asche von der Glut zu pusten. Der empfindet das aber als zudringlich und taktlos, auch als unmoralisch, denn er ist im Grunde ein anständiger Kerl und ein treuer Ehemann. Den Erwartungen der „Nordländerinnen“ genügt er also nicht. Was passiert, als er bei einem Ferienaufenthalt zurückkehrt in sein Sizilien, wird hier nicht erzählt.
Dass schon der Anblick eines hübschen Gesichtes oder einer weiblichen Wade das Blut der Männer in Wallung bringt, hat natürlich mit der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch uneingeschränkt herrschenden Sexualmoral und der von ihr geforderten strikten Geschlechtertrennung zu tun. Im Norden, wo sich Männer und Frauen ungezwungener begegnen, ist nicht gleich jeder Blick und jede Berührung aufgeladen mit einer versteckten erotischen Botschaft. Umgekehrt halten es die Sizilianer für einen Mangel an Vitalität, dass die Norditaliener „ruhig und unbekümmert“ bleiben, wenn sich eines dieser „Himmelsgeschöpfe“ zeigt. Sie müssen „aus Holz“ sein, so die Schlussfolgerung. „Ich möchte nur wissen, warum das Weib eine solche Macht über uns haben muss“, sagt eine von Brancatis Figuren. Die Antwort darauf deutet sich in der Replik an: Die Macht der Frau resultiert aus dem „spröden und unangreifbaren Bild“, das man von ihr hat.
Die Befangenheit in erotischen Zwangsvorstellungen ist das große Thema von Vitaliano Brancati. Das Phänomen, das Brancati darstellt, hat den Namen gallismo erhalten, was man in etwa mit Gockeltum übersetzen kann. Gemeint ist damit eine sehr südländische Auffassung von Männlichkeit, die eine Reihe von Verhaltensmustern, Vorstellungen, Ritualen und Benimmregeln umfasst. Damit setzt sich auch ein weiterer Roman Brancatis auseinander: Schöner Antonio (Il Bell’Antonio). Dieser Antonio ist ein außergewöhnlich schöner Mann, er ist so schön, dass die Frauen ihn umschwärmen, ja bedrängen. Und selbst die Männer müssen bei allem Neid zugeben, dass er blendend aussieht. Er hat nur einen Mangel, den, dass er nicht vollziehen kann, was man von einem Mann erwartet, kurz, er ist impotent. Und das ist, glaubt man Brancati, das Schlimmste, was einem Mann auf Sizilien widerfahren kann. Antonio bringt damit nicht nur Schande über sich, sondern über seine ganze Familie. Aber die schon neurotische Besessenheit von der männlichen Sexualkraft ist nicht nur komisch, sie ist weniger harmlos, als man meint. Durch die Überbewertung der Potenz werden die moralischen Maßstäbe verrückt. Wenn Impotenz als die größte Schande gilt, wenn sie aufgefasst wird wie eine Schuld, die schwerer wiegt als ein Verbrechen oder eine schlimme sittliche Verfehlung, dann stimmen die ethischen Werte nicht, die in der Gesellschaft gelten. Das ist der Punkt, an dem die Burleske umschlägt in bitteren Ernst. Es war nach Brancatis Überzeugung die Befangenheit in groben, geradezu pubertären, wenig durchdachten Vorstellungen, die die Sizilianer anfällig machte für die Lehren des Faschismus. Da dieser „an die rohe, primitive und rückständige Seite des italienischen Volkes appellierte, galten ihm Körperkraft und Männlichkeit als die wesentlichen Tugenden gegenüber geistigen und charakterlichen Eigenschaften“, schrieb ein Kritiker. Und im Roman heißt es: „Für jeden Menschen aus einem anderen Land wäre es [die Impotenz] ein gleichgültiges Missgeschick gewesen. Aber für uns nicht! Für uns ist es eine Tragödie! Denn wir denken immer nur an eines, an das. Und inzwischen treibt uns ein Tyrann mit einem Fußtritt in den Hintern in den Krieg […]“.
Brancati widmet sich seinem Thema mit Humor und der dazu nötigen Delikatesse. Bisweilen ist seine Komik etwas drastisch. „Der Professor Callará isst seit einer Woche nichts, weil ihm […], was immer er zum Munde führt, nach Kacke schmeckt. Wenn er so weitermacht, stirbt er“, plaudern die Nachbarn. Aber wie jeder wirkliche Humorist weiß auch Brancati, dass das Lächerliche und das Tragische nahe beieinander liegen: „Die tiefste Spur, die sein Erdenwandel bisher zurückgelassen hat, ist die Höhlung in seinem Sofa.“
Auf Fotografien sieht Vitaliano Brancati aus, als käme er geradewegs aus einem seiner Romane: tiefschwarze Haare; ein kokettes Bärtchen auf der Oberlippe; dunkle, traurige Augen, aber auch Augen, die gewöhnlich „glutvoll“ heißen – ein Bild von einem südländischen Schwerenöter. Geboren wurde er in dem Örtchen Pachino südlich von Noto. Als seine Heimat sah er jedoch Catania an, wohin er schon als Kind gekommen war. Die Stadt erscheint in seinen Büchern: der Blick über die Dächer hinüber zum Ätna, die „kurze, aber unendlich schöne Via Crociferi“, die Straßenzüge, die sich den Hügel hinunter zum Meer senken und die anderen reizvollen Orte. „Wie ich diese Erde liebe“, lässt er eine seiner Figuren sagen, und er meint damit sicher auch sich selbst. Aber gestorben ist er im Norden, in Turin. Zu Beginn seiner Schriftstellerei war er Faschist, hat sich dann aber schnell besonnen und wurde in Rom Mitglied systemkritischer Intellektuellenzirkel. Neben den Romanen hat Brancati Dramen und vor allem Drehbücher fürs Kino geschrieben. Einer seiner Romane wurde auch verfilmt, und, wen wundert es, Marcello Mastroianni – etwas träge, leicht schläfrigen Blickes – spielt den „schönen Antonio“.
Er lebt im Norden, hat Frau und Kind und eine Arbeit. Sizilien, seine Heimat, hat er fast vergessen. Er heißt Silvestro Ferrauto und ist der Ich-Erzähler in Elio Vittorinis (1908–1966) Roman Gespräch in Sizilien (Conversazione in Sicilia). Silvestro durchlebt gerade eine Phase resignativer Erstarrung und der Orientierungslosigkeit, die nicht aus seiner persönlichen Lage resultieren, sondern daraus, dass er „die Menschheit“ – der Hintergrund ist das faschistische Italien – „für verloren“ hält. Als ihn sein Vater dazu auffordert, die Mutter zu besuchen, macht er sich auf in den Süden, angetrieben von der vagen Hoffnung, neue Perspektiven zu gewinnen. Was so, mitten im Winter, beginnt, ist eine Reise in die eigene Vergangenheit, ist eine Reise zu sich und zu den Wurzeln.
Silvestro kommt in ein dörfliches, zeitloses Sizilien. In der kalten Luft „vermengten sich Dudelsackmusik mit dem Gebimmel von Ziegenglocken. Es war ein kleines Sizilien, zusammengehäuft aus Mispelbäumen und Dachziegeln, Felshöhlen, schwarzer Erde und Dudelsackmusik“. Mit der Mutter, einer tatkräftigen, nüchternen Frau, unterhält er sich lange, und sie reden auch über den Vater, der die häusliche Enge verlassen hat, um seine Leidenschaft für das Theater auszuleben. Aber nicht nur mit der Mutter, auch mit anderen führt Silvestro Gespräche, auf der Straße, in einer Taverne. Diese Gespräche sind weniger Unterhaltungen als vielmehr ein Zusammenfügen von Stimmen, die sich zu Grundfragen des Daseins äußern, zu Fragen, über die Silvestro noch nie nachgedacht hat. Er wird verwiesen auf „die Kränkungen, die der Welt zugefügt werden, die Ruchlosigkeit und die Verknechtung, die Ungerechtigkeit zwischen den Menschen und die Entwürdigung der Menschheit und der Welt durch das irdische Leben.“ Das Bekenntnis eines Mannes, den er schon auf der Bahnfahrt getroffen hat, geht Silvestro so nahe, dass er es zu seiner Maxime macht: „Ich glaube, daß der Mensch für andere Dinge reif ist, […] Dinge, die für unser Gewissen in einem neuen Sinne zu tun wären.“ Die Partner der Unterredungen sind weniger konkrete Personen als vielmehr allegorische Figuren, Verkörperungen von Botschaften, und in Vittorinis Darstellung vereinigen sich realistische und symbolische Elemente. Das gilt auch für die Gestalten der Eltern. In ihre Darstellung hat Vittorini Autobiografisches einfließen lassen, wenngleich sie auch sinnbildlich überhöht sind. Die Mutter vertritt den Typus des praktischen, lebensklugen Menschen. Sie kennt sich aus mit den fundamentalen Dingen des Daseins, mit Essen, Geburt, Krankheit und der Liebe. Ihren Mann, also Silvestros Vater, nennt sie einen „Narren“, denn er schreibt Gedichte, spielt Theater. Er steht für einen anderen Aspekt des Daseins, er verkörpert die Kunst. Dieser kommt die entscheidende Funktion zu, die Wahrheit über die Welt und das Leben auszusprechen. Indem sie das Wesen der Dinge erfasst, trägt sie etwas dazu bei, die ewige Wiederholung von Schuld, Wahn, Zerstörungen und Verletzungen zu beenden. Die Kunst bannt die „Trugbilder der Geschichte“. Nur aus der symbolischen Bedeutung von Mutter und Vater wird die zunächst rätselhafte Schlussszene des Romans verständlich. Als sich Silvestro von der Mutter verabschieden will, trifft er sie dabei an, wie sie einem weinenden Greis, seinem Vater, die Füße wäscht. Das Füße-Waschen ist bekanntlich eine Geste der Demut und der Unterwerfung; das Weinen ist die Regung von jemanden, der empfänglich ist „für das Leid der gekränkten Welt“. Die Mutter erkennt also – so ist diese Szene wohl zu deuten – die Bestrebungen des Vaters, des Künstlers an. Und wenn man jetzt fragt, ob denn der Ich-Erzähler auf seiner Reise eine Orientierung gewonnen hat, so muss die Antwort lauten: Er hat sich besonnen auf die einfachen, maßgeblichen Wahrheiten des Lebens, und er hat erkannt, was die geistige Durchdringung des Daseins durch die Kunst leistet. Die Heimkehr nach Sizilien, die Begegnung mit der Vergangenheit helfen Silvestro, zu sich zu finden.
Der 1941 erschienene Roman wurde in Italien als antifaschistische Manifestation verstanden, sein Autor 1943 als „Volksfeind“ inhaftiert. In der Tat gibt es deutliche Anspielungen, die die Überwachung der Bevölkerung durch Geheimagenten anprangern. Aber auch die Rückbesinnung auf fundamentale humane Werte konnte einer Partei nicht passen, die diese Werte im Namen der Nation und der Rasse außer Kraft gesetzt hatte. Das Bekenntnis der Romanfigur zu seiner Herkunft, zu Sizilien und zu seinen Eltern fand im Nachkriegsitalien großen Anklang, denn es zeigte, dass es möglich war, gerade in der Hinwendung zur eigenen Vergangenheit Perspektiven für die Zukunft zu gewinnen. Gerade das Land im tiefen Süden – nicht der Norden –, gerade das rückständige, ländliche Sizilien hat die Kraft, Werte und Leitbilder zu vermitteln. Das ist die unausgesprochene Botschaft des Romans. Der in Syrakus geborene Elio Vittorini gehörte dem linken Spektrum an. Nach einer technischen Ausbildung ging er nach Oberitalien, arbeitete aber vor allem als Journalist und als Übersetzer aus dem Amerikanischen. Er war eine Zeit lang Mitglied der Kommunistischen Partei und leitete sogar vorübergehend deren Zentralorgan Unità. Die Verbindung von realistischen und symbolischen Elementen, wie sie sich in Gespräch in Sizilien findet, machte Vittorini zum Begründer des italienischen Neorealismus.