Читать книгу Der Nörgg, das Purzinigele und die Nichte der Nixe - Kurt Lanthaler - Страница 10
DER DRACHE VON MUNTATSCHINIG (UND DAS SELTSAME SCHICKSAL DES SAGENSAMMLERS)
ОглавлениеOben über Schluderns, am Eingang des Matscher Tales, zwischen Muntatschinig und Kartatsch, wohnte ein Drache. Lebte sein meist gemächliches Leben und war respektiert in der Gegend. Gefürchtet aber waren die Matscher Raubritter. Mit denen der Drache sich allerdings im Waffenstillstand befand. Was die schlaueren Schludernser wiederum das Gleichgewicht des Schreckens nannten.
Zurück zum Drachen. Der war, verglichen mit anderen Kollegen seiner Zunft, zum Beispiel dem badiotischen vom Sas dla Crusc, also dem Kreuzkofel, eigentlich ein recht genügsamer wie freundlicher. Zweimal im Jahr ein Ochs und zwischendurch ein paar Schafe oder Ziegen (Ziegen eher weniger gern, wegen des gewissen haut goût derselben, das allen ernstzunehmenden Köchen gewisse Zusatzkenntnisse abverlangt), wenn also seine menschliche Umgebung dem Drachen von Muntatschinig den halbjährlichen Ochsen sowie das halbe Dutzend Schafziegen, auf das man sich, sozusagen per Handschlag, als Menüplan geeinigt, zukommen ließ, und das alles in vernünftig zeitlichem Abstand, und nicht alles auf ein Mal, was in der ersten Zeit seiner Anwesenheit am Berg über Schluderns oben einmal vorgekommen war und den Muntatschiniger Drachen vor erhebliche organisatorische wie kühltechnische Probleme gestellt hatte, sowie zu einer Magenverstimmung, und also in der Folge verständlicherweise zu einer Allgemeinverstimmung geführt hatte – sobald also diese anfänglichen Probleme ausgeräumt gewesen waren, war es relativ friedlich geworden in der Gegend. Bis auf die Matscher. Und, wie gesagt, verglichen mit seinem Kollegen vom Sas dla Crusc.
Dem, sagten die Badioten, regelmäßig nach Jungfern- wie Knabenfleisch war; der, sagte der Drache vom Sas dla Crusc, durchaus mit Ziegen oder Altkühen zufrieden gewesen wär, an einen Ochs hätte er sich nicht einmal zu denken gewagt, weil nämlich, und da lag die Krux für den Drachen vom Sas dla Crusc und das Kreuz für den Kreuzkofeldrachen: weil nämlich die Badioten schon gehabt hätten, zumal einige von ihnen reiche Bauern, aber eben … nicht geben … wollten.
Den Obervinschgern um Schluderns, Muntatschinig und Kartatsch herum und bis nach Liachtawerg und Söles hinüber auf der anderen Talseite aber war das gleichgültig. Sie hielten sich ihren Drachen gut, und sie wollten ihn sich behalten. Besser der, als so einer wie der andere. Noch besser natürlich gar keiner, weil ein Ochs und sechs Ziegenschaf im Jahr, das ist schon ein ordentlicher Zehent. Andererseits bot der Drache von Muntatschinig, zumindest indirekt, einen gewissen Schutz vor den Raubzügen gewisser Matscher Ritter. Die sich nämlich bei Nacht nicht mehr recht auf den Weg ihr Tal hinaus trauten. Und bei Tag waren Raubzüge eben deutlich weniger erfolgreich. (Zumindest in jenen Zeiten.)
Das hätte noch ewig so weitergehen können, also sozusagen bis in unsere Zeiten, wenn nicht eines Tages ein sehr neugieriger Studierter, also einer, der behauptete, er sei ein Studierter, aus dem nun wirklich fernen Bautzen oder Botzen oder wie die Ansiedlung seiner Meinung nach heißen sollte, in der, immer seiner Behauptung nach, mehrere hundert Leute lebten, und zwar ganz ohne Drachen, dafür aber mit einem Bürgermeister, was nun alles geradezu ins Märchenhafte geriet, und ihm also von keinem Obervinschger abgenommen noch für bare Münze, nachdem er aber eine solcherne, nämlich bare Münze, auf den Tisch des Wirtshauses gelegt, konnte man ihm seinen Wunsch, nach erstens einem Stück Braten (es gab stattdessen Schwarzplentnen Riebel), zweitens einem Schluck Wein (es gab stattdessen Leps) und zuallerletzt, drittens, einen Blick auf den ebenso wohlberühmten wie sagenhaften Drachen von Muntatschinig – konnte man ihm nicht abschlagen, der Münze wegen.
Der Abend wurde noch lang. Der gelahrige Botzner hatte eine weitere Münze auf den Tisch gelegt und an seinen Tisch hinzugebeten, also fand sich diesmal tatsächlich Wein statt des Lepses, und so saß man zusammen und trank, und um weiter zusammensitzen und trinken zu können, ließen sich die Schludernser auch die ein oder andere Red des Gelahrigen aus Botzen gefallen. Der anfing zu erzählen von der eigenartigen Sumpfgegend nördlich von Botzen, wo Wein wachse und Mais und Maulbeerbäume und Seide. Und weiter sprach er, immer lauter ausholend, während Wein nachgeschenkt wurde:
Die Seidenzucht gibt indeß überall fröhliche Anzeichen und wälscher Fleiß weiß die Cocons zu zeitigen, und den Miasmen der Luft mehr zu widerstehen als dem deutschen Worte, das sie in der Regel nach zwei Menschenaltern ganz germanisirt hat. Lose Sagen und Mährlein flattern und hüpfen auf diesem Gebiete wie die regellos pfeifenden Sumpf- und Schilfvögel mit ihren bunten Schwingen, von Nachtwandlern ohne Kopf, von Riesen, die Steine aus den Schluchten schleudern, von kugelartigen Ungethümen, die sich den Fuhrleuten zur Nachtzeit in den Weg legen, und vom giftigen Athem fürchterlicher Drachen. Es lohnt wohl der Mühe, sie zu sammeln, wenn auch nur zu beweisen, wie eigenthümlich der Volksgeist dichtet beim edelsten Wein in fieberhafter Luft. ***
Dann war aber auch gut, nach solch wirrem Gerede des Gelahrigen, und es war spät und also verabredete man sich auf den allerfrühesten Morgen. Um den Muntatschiniger Drachen aufzusuchen. Und ihm, außer der Reihe und vom Botzner bezahlt, ein Schaf zu bringen.
Die ersten paar Minuten oben beim Drachen von Muntatschinig vergingen noch wie gehabt. Der Drache besah sich das Schaf, das ihm da abgelegt worden war. Nickte mit dem Kopf. Und wollte, wie immer, sich schon wieder zurückziehen, und die Obervinschger auch, da trat der Botzner Gelahrige vor und dachte, er müsse den Drachen ansprechen.
Der aber erzürnte sich fürchterlich, daraufhin, und spie, was man seit ewigen Zeiten bei ihm nicht mehr gesehen, meterlanges Feuer und fauchte und schlug den gepanzerten Schwanz auf den Felsen, daß die Funken stiebten. Und dann sagte er: »Du hast heut nacht laut genug geredet, beim Wein, du Nichtsnutziger von da ganz unten irgendwo. Wird sein, daß ihr da einen Würgemeister habt (der Drache war nicht mehr der Jüngste und hatte es etwas am Gehör), aber deswegen hab ich noch lang keinen giftigen Atem. Und nun: Hinweg mit dir.« Und nochmal Fauch.
Da rannte der Gelahrige halsüberkopf den Berg hinunter. Und ward nicht mehr gesehn. Der Muntatschiniger Drache aber zwinkerte den Schludernsern zu.
Seither gibt es einmal jährlich just an diesem Tag ein Extraschaf. Das sich der Muntatschiniger Drache und die Obervinschger friedlich teilen.
*** in: Beda Weber. Die Stadt Bozen und ihre Umgebungen. Eberle’sche Buchhandlung, Bozen 1849