Читать книгу Die Speckbemme und Konrads Radtouren - Kurt Thümmler - Страница 7
VATER UND MUTTER
ОглавлениеUm die nächste Ecke befand sich die Sackgasse, in welcher Konrad wohnte. In dieser Sackgasse standen genau acht Mehrfamilienhäuser. Am Abschluss dieser Straße befanden sich einige Eisenbahnergärten und gleich daneben verliefen die Rangiergleise des Oberen Bahnhofs.
Konrad bog in seine Straße ein und erreichte kurz danach sein Heim. Dieses befand sich im Mehrfamilienhaus seiner Großmutter Amanda. In diesem Haus wohnte die gesamte Familie seiner Mutter – ein Wahnsinn. Konrad kannte es nicht anders.
Die Oma Amanda hatte sechs Kinder. Fünf davon, einschließlich Ehepartner und Kinder, wohnten in diesem Haus. Eins davon war die Mutter von Konrad sowie zwei weiteren Geschwistern, und diese wohnten im ersten Stock des Vorderhauses. Es gab noch ein Hinterhaus, in welchem im zweiten Stock Tante Hilde, die zweitälteste Tochter von Oma Amanda, mit ihrem Ehemann Erich, Sohn Wilfried und Tochter Rita wohnten. Konrad bewunderte seinen Onkel Erich, denn der war Boxer. An den Wochenenden boxte er meist um ein Brot als Siegprämie. Damit war seine Familie erst einmal versorgt. Tante Hilde, seine Ehefrau, war immer dabei, wenn Erich boxte. Für das kleine Nest war das immer ein besonderes Ereignis. Onkel Erich wurde immer berühmter. Später gründete er sogar einen Boxklub in der Stadt, mit zunehmendem Erfolg. Konrad bewunderte ihn.
Desgleichen dessen Sohn Wilfried, welcher fast zehn Jahre älter als Konrad war. Als Boxer zu feige, aber gegenüber Schwächeren der Größte. Wilfried bekam von seinem Vater alles: einen echten Lederfußball, Skier, Fahrrad, Karl-May-Bücher usw. usw. Wenn Willi mit seinem mit Schuhcrem gewichsten, steinharten Fußball auf der Straße auftauchte, haben wir Stifte uns schleunigst verkrümelt.
Einmal hat er Konrad dazu bewegt, sich ins Tor, das war das Eingangstor des Hauses, zu stellen. Willi läuft Anlauf und schießt, Konrad vergeht vor Angst, der Ball kommt geflogen, aber nicht aufs Tor, sondern ans Fenster von Oma Amanda. Konrad fühlt sich gerettet. Willi haut ab. Amanda taucht mit einem Knüppel bewaffnet auf und jagt ihm nach. Natürlich kriegt sie ihn nicht, was bei allen anderen Kindern unbändige Heiterkeit auslöst. Amanda kehrte fluchend zurück. Konrad musste das kaputte Fenster zum Glaser zur Reparatur bringen.
Amanda hatte viele Enkel im Haus. Da waren die beiden erstgenannten. Konrad hatte noch einen großen Bruder und eine ältere Schwester. Des Weiteren gab es noch die zwei Söhne von Tante Edeltraut, Heinz und Dieter (Dille). Dille war ein Jahr jünger als Konrad und meist dessen Spielkamerad. Heinz war der ältere Bruder von Dille. Konrads Bruder Günter und Heinz waren auch fast gleichaltrig und hielten zusammen gegen Willi. Willi war überall unbeliebt – ein brutaler Kerl, von allen gefürchtet und gehasst.
Eigentlich hassten sich alle untereinander in dem Familienhaus der Oma Amanda, der Erbengemeinschaft Wirt. Nur die Mutter von Konrad war der ruhende Pol, bei ihr heulten sich alle aus, außer Amanda, die schimpfte nur, einmal auf diesen, einmal auf jenen.
Da waren auch noch zwei Onkel von Konrad im Haus. Der eine Onkel, Harry, war ein Erfolgsmensch und Glückspilz. Kam im Krieg beizeiten in amerikanische Kriegsgefangenschaft nach USA-Texas und kam von dort, dick und fett gemästet, nach Kriegsende nach Hause. Dem jüngeren Onkel, Rudi, ging es im Krieg irgendwo in Griechenland auch gut und er kam nach Kriegsende auch wohlbehalten wieder nach Hause.
Bloß Konrads Vater hatte es böse erwischt. Der kam als Krüppel aus dem Krieg zurück, beide Füße hatte er verloren, erfroren. Damit war der Leidensweg in der Familie Konrads vorprogrammiert. Schwerkriegsbeschädigt, das heißt keine Rente in der DDR, sondern leichte Hilfsarbeit für wenig Geld anzustreben. Wobei es in dieser Zeit ohnehin zu wenig Arbeit gab, vor allem für Kriegsversehrte.
Dann hatte Konrads Vater doch Arbeit in der örtlichen Schokoladenfabrik gefunden. Wenn er in der Schule oder auch von seinen Freunden gefragt wurde, was sein Vater sei, sagte er immer Schokoladenmacher. Irgendwie stimmte es ja auch.
Die Mutter war Hausfrau und ergänzte die schmale Haushaltskasse mit Nähen. Die Überlebensgrundlage der Familie bildete der Schrebergarten. Dieser befand sich innerhalb einer großen Gartenanlage „Am Wasserturm“, zirka fünf Minuten Fußweg von zu Hause entfernt. Für die Mutter war das Fahrrad das wichtigste Verkehrs- und Transportmittel. Es war ein Vorkriegsmodell und hatte schon viele Jahre auf dem Sattel. Dahinter war ein riesengroßer Gepäckträger angebracht. Bis zu einem bestimmten Alter wurde Konrad auf diesem in den Garten gefahren. Heimwärts musste er meist laufen, da der Gepäckträger dann Erntegut und anderes tragen musste. Für Konrad war es immer ein herrliches Erlebnis, wenn er auf dem Gepäckträger, welcher mit einer alten Decke etwas abgepolstert wurde, saß und die Welt an ihm vorüberflog. Zu schnell war die Fahrt immer vorbei. Die Gartenanlage befand sich praktisch auf der anderen Seite der bereits beschriebenen Eisenbahnstrecke. Die Querung der Strecke erfolgte für Fußgänger mittels einer kleinen Unterführung, der sogenannten Mausefalle. Radfahrer mussten vorher absteigen und laufen. Für Konrad war das das Zeichen, dass der Garten gleich erreicht war. Es war der erste Garten im ersten Gang der Anlage. Deshalb war er auch etwas größer als die anderen Gärten, nämlich siebenhundert Quadratmeter. Die anderen maßen nur sechshundert. Für einen Schrebergarten galten die Gärten als groß und der von Konrads Eltern als sehr groß, was Konrads Mutter aber nicht genügte, denn abwechselnd bearbeitete sie noch ein kleines Feld an der Berliner Bahnstrecke und eins am Werkstättenteich. Manchmal bearbeitet sie auch noch den Garten der Oma Amanda, welcher nicht weit von Konrads Garten entfernt lag. Konrads Mutter war ständig im Einsatz und wurde meist von den anderen kräftig ausgenutzt, vor allem von Amanda. Diese hatte die Charaktereigenschaft, mit Konrads Mutter solange schönzutun, bis der Garten gemacht war. Anschließend brach sie einen Streit vom Zaun und fuhr dann die Ernte mit Hilfe der anderen Familienmitglieder ein. Vor allem Konrads Cousin Wilfried bediente sich in Amandas Garten ständig. Ernten ohne anbauen, war seine Devise. Offensichtlich hatte er diesen Charakterzug von Amanda geerbt.
Als Konrad im Vorschulalter war, nahm seine Mutter ihn überall mit hin. Zuerst ging es in den Garten am Wasserturm. Sein großer Bruder, acht Jahre älter, und seine große Schwester, vier Jahre älter als Konrad, ließen sich im Garten nur selten blicken. Unter dem Vorwand, sie müssten für die Schule lernen, hatten sie nie Zeit, überhaupt für die Arbeit. Und wenn an den Sonntagen die ganze Familie im Garten zusammen war, faulenzten sie nur. Konrads Schwester Ruth saß die meiste Zeit auf der Schaukel. Der große Bruder Günter las andauernd, sogar beim Essen. Vom Vater wurden ihm dafür mehrmals Schläge angedroht, was er aber doch nicht wahrmachte. Die bekam dann Konrad.
Die Mutter rackerte sich auch sonntags im Garten ab, die Arbeit riss auch nicht ab. Siebenhundert Quadratmeter Nutzfläche mussten bearbeitet werden. Die Statuten des Gartenvereins ließen keine Faulenzerflächen (Rasenflächen) zu. Nur eine kleine Gartenlaube und eine kleine Sitzfläche waren erlaubt.
Konrads Vater sah man in seinen jüngeren Jahren seine Versehrtheit kaum an. Er trug Prothesen und lief an nur einem Spazierstock. Täglich ging er so zur Arbeit und wieder zurück. Anschließend meist in den Garten. Nicht nur Obst und Gemüse galt es hier anzubauen, auch die Kleintierzucht war eine wichtige Ernährungsquelle in der Nachkriegszeit. Konrads Vater war, trotz seiner Behinderung, meist mit dem Bau von Kaninchenbuchten, Hühnerställen und Zwingern beschäftigt. Konrad wollte von klein auf immer mithelfen, ob bei der Gartenarbeit oder beim Kaninchenställebauen. Diese mussten so konzipiert sein, dass die Kleintierhaltung auch über den Winter den entsprechenden Nutzen brachte. Da ging es auch im strengsten Winter in den Garten die Kaninchen und Hühner füttern. Und die Winter waren ausgerechnet in der Nachkriegszeit bitterkalt. Da waren die Kaninchen nicht nur wichtige Fleischlieferanten, sondern auch Felllieferanten.
Konrads Mutter konnte alles. Wenn der Vater ein Kaninchen geschlachtet und das Fell abgezogen hatte, spannte die Mutter es auf einen Rahmen und bestreute es mit Alaunsalz. Dann blieb es erst einmal liegen bis es zum Gerben bereit war. Nachdem die Mutter das Fell stundenlang gegerbt hatte, solange bis das Leder ganz weich war, nähte sie eine Mütze, Handschuhe oder eine Jacke aus dem Fell. Nichts hielt wärmer, als die Fellsocken aus Kaninchen. Leider haperte es am Hosen- oder Schuhenähen aus Fell, das können nur die Eskimos. Hosen und Schuhe waren ein Engpass in der Nachkriegszeit. Auch die Jungen trugen im Winter lange Strümpfe und kurze Hosen. Konrad konnte kaum die Schuhe von seinen älteren Geschwistern übernehmen, da der Altersunterschied zu groß war und deren Schuhe meist völlig verschlissen waren. Neue Lederschuhe gab es gar nicht. Es gab nur alte Bestände, die immer wieder geflickt wurden. Oft waren Schuhe ein beliebtes Tauschobjekt für Lebensmittel.
Es war wieder so ein harter Winter. Im Wohnhaus waren die auf der Treppe befindlichen Klos durch Unachtsamkeit der Bewohner eingefroren. Zur Strafe mussten alle ihre Notdurft auf Eimern und Schüsseln verrichten und anschließend über die Hofmauer aufs nachbarliche Gärtnereigrundstück entsorgen. Was für eine Schweinerei. Allerdings war es so kalt, dass alles gleich gefror und nicht einmal Zeit zum Stinken hatte. Im Frühjahr konnte der Gärtner den gesamten Kot dann als Dünger für seine Kürbisse verwenden. Das wurden wahre Riesen.
Um das Überleben der Haustiere im Garten zu sichern, baute Konrads Vater ein unterirdisches Hühnergelass, welches ebenerdig mit Glasfenstern abgedeckt war. Die Hühner konnten aus ihrem Außenzwinger durch eine Öffnung unterhalb der Kaninchenbuchten in die frostfreie Höhle gelangen. Die Kaninchenbuchten wurden mit Holzverschlägen, welche nur zum Füttern geöffnet wurden, gesichert. Zum Warmhalten wurden die Buchten mit viel Stroh ausgefüttert. Durch all diese Maßnahmen ist kein Tier erfroren, sondern zur richtigen Zeit geschlachtet und gegessen worden.
Für Konrad war das Schlachten immer sehr spannend. Da fiel jedes Spielzeug aus der Hand, wenn ein Kaninchen geschlachtet wurde. Angangs wehrte sich die arme Kreatur, ahnend, was auf sie zukommt, mit allen Mitteln. Wehrlos hing es dann an der Hand des Vaters mit seinen Hinterläufen. Mit zwei bis drei kräftigen Schlägen mit einem Knüppel hinter die Ohren des Hasen war Ruhe, das Tier war betäubt. Anschließend schnitt der Vater dem Tier die Kehle durch und ließ das Blut in eine Schüssel laufen. Dann spannte er den Körper mit gespreizten Beinen zum Fellabziehen und zur weiteren Bearbeitung an der Küchentür auf. Für Konrad war das unheimlich interessant, wie sein Vater das machte. Felle, die nicht für den Eigenbedarf bestimmt waren, wurden zum Fellhändler gebracht. Hierfür gab es ein paar Mark, die Konrads Mutter dringend für die knappe Haushaltskasse brauchte.
Konrad war meist dabei, wenn die Mutter einkaufen ging. Die klägliche Zuteilung auf Lebensmittelmarken war schnell aufgebraucht, also gab es beim Fleischer nur Wurstzippel, das waren die Wurstenden. Die Fleischermeisterin gab sie billig ab, aber nicht umsonst. Konrad hatte sogar eine Patentante, die mit ihrem Mann einen kleinen Lebensmittelladen führte. Hier kaufte Konrads Mutter meist das Lebensnotwendigste ein. Meist ließ sie anschreiben. Konrad bekam immer einen Bonbon. Die Patentante war lieb und auch mit der Mutter immer freundlich. Ihr Mann betrieb im städtischen Stadtgraben eine Fischzucht. Einmal im Jahr wurde abgefischt, das war ein großes Ereignis für die kleine Stadt. Viel Volk versammelte sich am Ufer des Stadtgrabens. Dieser war ein offener Ring. Die Fischer konnten somit mit Netzen von der Mitte aus nach beiden Grabenenden die Fische treiben, bequem mit Keschern fangen und in große Handwagen verladen. Massenweise Fische war die Ernte für ein Jahr Arbeit. Der größte Teil der Fische wurde sofort vor Ort verkauft. Ein großer Teil wurde an die örtliche Fischbackstube geliefert, ein weiterer ging in den Laden zum Verkauf über mehrere Tage und Wochen. Selbstverständlich kam auch bei Konrads Familie Fisch auf den Tisch. Alle konnten sich wenigstens einmal richtig satt essen, vor allen Konrad, der hatte immer Hunger.
Wenn die Mutter Kartoffeln gestoppelt hatte, gab es Kartoffelpuffer. Wenn die Kartoffeln alle waren, gab es Puffer aus den Schalen von den letzten Kartoffeln. Die schmeckten eklig, machten aber ein wenig satt.
Brot war auch nicht immer da. Um etwas Ähnliches zu schaffen, fuhr die Mutter mit dem Fahrrad, und Konrad auf dem Gepäckträger, raus aufs nächste Getreidefeld zum Ährenlesen. Bei glühender Hitze wurde das abgeerntete Feld nach Ähren abgesucht, welche beim Mähen und Ernten abgefallen waren. Dabei stachen die Halmstoppeln Konrads kleine Waden blutig beim Gehen über das Feld. Konrad ertrug es, genau wie die Mutter, stillschweigend. Ein Sack musste mit Ähren voll werden, sonst lohnte sich das alles nicht. Sie waren auch nicht alleine auf dem Feld. Manchmal tauchte auch ein niederträchtiger Bauer auf und vertrieb die Menschen von seinem Feld.
Wenn es gut ging, hatte Konrads Mutter nach vielen Stunden den Sack voll Ähren und band ihn auf den besagten Transportgepäckträger des Fahrrades. Jetzt schob sie das Fahrrad, denn Konrad nun auch noch aufs Rad, weil er nicht mehr laufen konnte. Meist waren das einige Kilometer. Von Zeit zu Zeit setzte die Mutter ihn ab und sie machten eine Pause am Feldrand. Völlig kaputt und verschwitzt kamen sie im Garten an. An der Wasserpumpe und dem dazugehörenden Bassin kühlten sich beide erst einmal gründlich ab. Gegessen wurde Obst, vor allem Süßkirschen Ein riesiger Kirschbaum war der Liebling Konrads. Jedes Jahr trug dieser Baum eine Unmenge der herrlichsten Früchte. Konrad war schon auf dem Baum, pflückte und aß abwechselnd Kirschen. Die Mutter nahm sich kaum Zeit zum Essen. Sie bereitete schon das Dreschen der Getreideähren vor. Hierzu wurden die gesammelten Ähren ausgebreitet und mit dem Dreschflegel kräftig bearbeitet, bis alle Körner aus den Ähren gedroschen waren. Anschließend wurde mit einem Tuch darüber gewedelt, um die leichten Rückstände der Ähren vom Korn zu trennen. Mittels Sieb wurde zu guter Letzt das reine Getreide gewonnen. Der ganze Sack brachte schließlich das klägliche Ergebnis von zirka einem halben Kilogramm reinen Getreide. Das lohnte sich natürlich für die Weiterverarbeitung noch lange nicht und somit waren für die folgenden Tage noch weitere Einsätze dieser Art von Konrads Mutter geplant, denn wenn einmal die Bauern begannen, die Felder umzupflügen, war alles zu spät.