Читать книгу Die Speckbemme und Konrads Radtouren - Kurt Thümmler - Страница 9
REISE NACH BERLIN
ОглавлениеIrgendwann war es soweit, wir fuhren allesamt nach Berlin. Um Geld zu sparen fuhr man mit dem Personenzug, dritte Klasse auf Holzbänken. In der Heimatstadt von Konrads Vater mussten sie das erste Mal umsteigen in den Zug, welcher sie bis nach Berlin bringen sollte. Obwohl wir fünf Personen waren, hatten alle anfangs einen Sitzplatz auf den harten Holzbänken. Damals war es noch Usus, dass Kinder aufstanden, wenn die Zusteigenden ältere Leute oder Frauen waren. Man stelle sich vor, das bis zirka vierzig Haltepunkte des Zuges für die Kinder ein dauerndes Aufstehen und Hinsetzen war, worüber sie aber in Anbetracht der harten Holzbänke nicht immer böse waren.
Die Eltern blieben die ganze Fahrt sitzen, außer sie mussten mal aufs Klo und das war ein unbeschreibliches Abenteuer, dessen Beschreibung der Autor lieber weglassen will. Und die Fahrt zog sich hin, Stunde um Stunde. Auch die Landschaft war langweilig, kilometerweit Kiefernwald. Der Zug hielt an jedem Briefkasten, mehr war meist nicht zu sehen in Preußen – ein langweiliges Land. Nach Stunden hörten die Wälder plötzlich auf, die Bahn überquerte Wasserläufe, passierte große Seen und die ersten Häuser von Berlin tauchten auf. Die bis dahin alle Reisenden beherrschende Lethargie verwandelte sich plötzlich in eine Euphorie. Alle wollten ans Fenster und die ersten Eindrücke aufsaugen von Berlin, von Westberlin. Von Berlin war für die Ostdeutschen, damals schon DDR-Bürger, natürlich nur Westberlin interessant.
Der Zielbahnhof des besagten Zuges lag irgendwo in Westberlin. Von diesem Bahnhof waren alle weiteren Reiseziele mit der S-Bahn zu erreichen. Dafür waren die Ortskenntnisse von Konrads Mutter absolut nützlich für die weitere Reise. Konrads Mutter hatte viele Jahre ihres Lebens in Berlin bei ihrer Tante Klara verbracht, deren Familie, genau wie die von Konrads Oma Amanda, nach dem Ersten Weltkrieg aus ihrer Heimat Posen vertrieben worden war. Die einen waren in einem Nest in Sachsen gelandet (Amanda) und die anderen in Berlin (Klara).
Zuerst sollte aber der ehemalige Kriegskamerad von Konrads Vater aufgesucht werden. Irgendwie war das Haus schnell gefunden. Es befand sich in einer Gegend, die vom Krieg nicht betroffen war, eine hässliche Straße mit hässlichen fünfstöckigen Wohnhäusern mit noch hässlicheren Hinterhäusern, welche von winzigen Hinterhöfen unterbrochen waren. Und in so einem Hinterhaus im Erdgeschoss wohnte der besagte ehemalige Kriegskamerad von Konrads Vater. Kein Sonnenstrahl erreichte den Hof, geschweige die Wohnung. Obwohl Konrads Familie nicht aus dem Reichtum kam, war aber diese Wohngegend absolut beängstigend, sodass der Besuch recht kurz ausfiel.
Ein Stadtbummel durch Charlottenburg schloss sich an. Auf der nächsten Hauptstraße sah das schon ganz anders aus, da war schon der Wohlstand ausgebrochen, es gab alles was das Herz begehrt. Nagelneue Autos, Motorräder und tolle Fahrräder beherrschten das Straßenbild. An den Autos stach Konrad ein Globus über dem Kühler der meisten Fahrzeuge ins Auge. Opel-Olympia lautete der Schriftzug am Kotflügel dieser Autos, was ihm zwar nicht viel sagte, aber die Häufigkeit dieser Automarke erkennbar machte; und was waren die Autos schön. Konrad träumte von einem Fahrrad, sein Bruder Günter wünschte sich einen Fotoapparat. „Du brauchst Schuhe“, sagte die Mutter. Schwester Ruth träumte von schönen Stoffen für ein Kleid zur bevorstehenden Konfirmation oder von einem fertigen Kleid. Es gab alles. Die Eltern hatten andere Sorgen, nämlich der Kauf von Lebensmitteln, weshalb die Familie eigentlich nach Berlin gefahren war. Für die Kinder war das unwichtig, obwohl sie dauernd Hunger hatten, vor allem auf die herrliche Schokolade und andere Süßigkeiten, die sie überhaupt nicht kannten. Auch Kaugummi aus Amerika – etwas ganz tolles. Stundenlag konnte man darauf herumkauen.
Wie Konrads Eltern das mit dem Geld gemacht haben, das wusste er noch nicht, interessiert Kinder auch nicht. Günter bekam das meiste, ein paar neue Schuhe, die brauchte er unbedingt. Echte Lederschuhe mit Kreppsohle, das war damals der absolute Renner. Was gab es da alles in Westberlin.
Obwohl noch viele Häuser stark beschädigt waren, gab es trotzdem schon viele Läden in Häusern, wo die Obergeschosse gar nicht mehr da waren. Händler, die keinen Laden hatten, präsentierten ihre Waren auf Tischen auf der Straße. Konrad hätte alles gebrauchen können, was er sah, vor allem Spielzeuge aller Art. Cowboy-Ausrüstungen mit Spielzeug-Colts. Und Wasserpistolen hatten es ihm besonders angetan. Eine Wasserpistole aus durchsichtigem Kunststoff wollte er haben und bettelte die Eltern solange an, bis sie nachgaben und diese kauften. Sie war schön verpackt und wurde vom Händler nicht vorgeführt. Zu Hause kam dann die große Enttäuschung für Konrad, die Wasserpistole funktionierte nicht. Da half kein Schütteln oder Stoßen, auch kein Gebet – das Ding wollte nicht.
Die Familie war aber noch in Berlin, das heißt Westberlin. Für die Eltern galt es nun, das wenige Geld was sie hatten für Lebensmittelkäufe einzusetzen. Der Renner waren Bücklinge, eine Kiste. Dann kamen Rollmöpse, auch eine große Dose, dran. Und dann war das Westgeld auch alle, wie Konrad mitbekam. Ruth bekam damals noch nichts. Für sie sollte später einmal Stoff für ihre bevorstehende Konfirmation gekauft werden, aber darauf musste erst wieder streng gespart werden. Im Laufe des Aufenthaltes und der Gespräche der Großen bekam Konrad mit, dass unser Ostgeld erst in Westgeld umgetauscht werden musste, und das das Ostgeld viel weniger wert war als das Westgeld.
Beladen wie sie waren, konnten sie dieses Mal Tante Klara nicht besuchen und fuhren an dem Tag spät abends wieder nach Hause. Die eingekauften Bücklinge und Rollmöpse reichten nicht lange, die nächste Berlinreise stand an.
Dieses Mal fuhren sie mit einem D-Zug, weil dieser in Ostberlin endete und wir zuerst Tante Klara und Familie aufsuchen wollten. Konrads Mutter erzählte einmal, dass die Tochter von Tante Klara mit Namen Emmi mit ihrem Mann kurz nach dem Krieg bei uns aufgetaucht war, um ein paar Kartoffeln zu ergattern – wir hatten aber selber nichts. Mittlerweile hatte sich das Blatt erheblich gewendet, jetzt sind wir die Bettler.
Tante Klara und ihre Familie wohnten in Berlin-Mahlsdorf. In einer herrlichen Siedlung besaßen sie ein schönes Einfamilienhaus auf einem großen Grundstück mit einem Gartenhaus, in welchem Klaras Tochter Emmi mit ihrem Mann sehr luxuriös wohnte. Konrads Mutter hatte einmal erzählt, dass Emmi dazumal einen Verlobten hatte, welcher als Maurer erheblich am Bau des besagten Einfamilienhauses und des Gartenhauses beteiligt war. Anschließend hatte Emmi ihm den Laufpass gegeben, wonach der arme Mann nach Amerika auswanderte.
Nach stundenlanger Reise mit dem Zug, der S-Bahn mit mehrmaligen Umsteigen – bloß gut, dass Konrads Mutter sich in Berlin so gut auskannte – zuletzt mit der Straßenbahn, die direkt vor Klaras Haus eine Haltestelle hatte, kamen sie endlich an. Die Begrüßung durch Tante Klara war relativ herzlich. Konrad fand sie sehr ähnlich seiner Oma Amanda, genauso ausgemergelt, so vom Leben gezeichnet und auch im Alter voller deutscher Unrast. Kaum hatte sie alle untergebracht, hatte sie schon keine Zeit mehr für ihren Besuch. „Wenn ihr Hunger habt, müsst ihr euch nehmen, ich esse beizu.“ Genau das war der Spruch, den Konrad noch sehr oft in seinem Leben hören wird.
Konrads Mutter ist teils bei ihrer Mutter Amanda in D … und teils bei ihrer Tante Klara in Berlin aufgewachsen, je nachdem, wer sie am meisten zur Arbeit brauchte. Klara hatte nicht nur das Haus mit großem Garten, nein, sie hatte noch ein größeres Grundstück in Berlin-Glienicke.
1903 wurde Konrads Mutter in der Provinz Posen, in den ehemaligen deutschen Ostgebieten, geboren, aus denen schon nach dem Ersten Weltkrieg die Deutschen vertrieben worden waren und das dann polnisch wurde. Da war Konrads Mutter fünfzehn Jahre alt, fast erwachsen. Geboren wurde sie als uneheliches Kind von ihrer Mutter Amanda. So tragisch kann das nicht gewesen sein, denn Amanda hat kurz danach einen neuen Mann gefunden und noch weitere fünf Kinder geboren. Sie waren eine alte Eisenbahnerfamilie, wie es damals viele gab. Eisenbahner mit eigener Landwirtschaft. Kam ein Zug, wurde die Hacke fallen gelassen und das Signal gestellt. War der Zug durch, griffen wieder alle zur Hacke oder molken die Kuh oder taten, was so auf einem Bahnhof mit angeschlossener Landwirtschaft zu tun war. Alle waren Eisenbahner, außer Konrads richtiger Großvater, der sollte Gutsinspektor gewesen sein, erzählte manchmal die Mutter. Amanda war eine bildschöne Frau, als sie jung war, was Konrad auch an dem Bild, welches Krieg und Vertreibung überlebt hatte und bei ihr im Wohnzimmer hing, feststellen konnte, als er größer war.
Es gab auch Lokführer in der Verwandtschaft. Ein Onkel Adolf tauchte einstmals in D … auf und besuchte Konrads Mutter. Sie hatten sich viel zu erzählen aus der alten Heimat und von den noch lebenden Verwandten. Wo und wie sie lebten. Für Konrad war das wahnsinnig interessant.
Nicht alle Verwandten von Konrads Mutter waren Eisenbahner. Einer war Förster, Onkel Ernst. Konrad hatte ihn bei einem Besuch bei Tante Klara kennengelernt, er war ein Bruder von Amanda und Klara. Förster und Jäger in den riesigen Wäldern Posens war er einstmals – ein Traumberuf. Die Mutter erzählte ihm, dass Onkel Ernst von den Nazis verhaftet worden war, weil er sein gesamtes Waffenarsenal aus seiner Heimat nach Berlin mitgeschleppt und nicht gemeldet hatte, was wahrscheinlich als illegaler Waffenbesitz geahndet wurde. Seitdem war Onkel Ernst ein wenig irre, sagte meine Mutter, was Konrad auch spürte, vor allem an den irren Augen. Dann erzählte er Schauergeschichten vom Teufel, den er auf der Jagd gesehen hätte und andere Geschichten, bei denen es Konrad grauste und die Mutter abmildern musste mit den Worten: „Der Onkel ist ein bisschen verrückt, das brauchst du nicht alles glauben, was er erzählt.“ Damit beruhigte Konrad sich wieder, aber Angst hatte er doch vor Ernst.
Ernst hatte auch noch eine unverheiratete Tochter und lebte mit dieser in einer Wohnung. „Ein armes Ding“, sagte die Mutter immer, wenn sie diese traf oder an sie dachte. „Sie hat viel zu leiden unter ihrem verrückten Vater.“ Dazu kam, dass sie auch noch behindert war, sie lahmte ein wenig.
Tante Klaras Mann hatte Konrad nie kennengelernt. Er war auch Eisenbahner, Stellwerksmeister, wie es hieß. Offensichtlich hatten die Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten auch schon nach dem Ersten Weltkrieg einen angemessenen Wertausgleich, entsprechend ihrer alten Besitzungen, in der neuen Heimat erhalten. Die einen, Amandas Familie, war in D … gelandet und hatte ein großes Mehrfamilienhaus erworben. Die anderen sind in Berlin hängengeblieben und haben ein tolles Einfamilienhaus gebaut. All das kostete doch viel Geld.
Tante Klara wohnte allein in ihrem Einfamilienhaus, der Ehemann war schon lange tot, der Sohn gefallen und im Gartenhaus wohnte die Tochter mit ihrem Ehemann, ohne Kinder. Sie waren Neureiche, hatten in Berlin-Köpenick einen Rundfunkladen mit Reparaturwerkstatt, ein Renner in der damaligen Zeit. Zeitlich begrenzt, da der Laden im Osten lag, aber damals dachte noch keiner daran, dass das einmal Schluss sein könnte. Kuhne hießen sie und hatten sogar schon oder noch ein Auto mit weißen Reifen, erinnerte sich Konrad. Eine tolle Mercedes-Limousine, die in der modernen Tiefgarage im Vorderhaus stand und täglich zur Fahrt zum Geschäft von Herrn Kuhne genutzt wurde.
Als die Familie den beiden zur Begrüßung ihre Aufwartung machte, empfing sie eine eisige Kälte der Ablehnung. Nicht einmal Konrads Vater, von dessen Schwerbeschädigung sie wussten, boten sie einen Sitzplatz an, sodass sich der Besuch schnell erledigt hatte. Mit diesem Herrn Kuhne hatte Konrads Familie in der Zukunft nie wieder etwas zu tun, außer Ruth, welche in späteren Jahren für den Herrn interessant wurde. Aber das ist eine andere Geschichte.
Tante Klaras Sohn war im Zweiten Weltkrieg gefallen. Er war in Apolda verheiratet und hinterließ Ehefrau und einen Sohn. Und genau dieser Sohn machte alle Hoffnungen von Amandas gesamter Familie zunichte, die alle auf das Filetstück Tante Klaras scharf waren. Damals lebten aber noch alle Berliner.
Konrad und der Haupterbe Tante Klaras, Henry, lernten sich irgendwann in den Ferien kennen. Sie waren fast gleichaltrig. Schöne Tage verlebten sie gemeinsam auf dem Grundstück. Nicht nur das Gartenhaus, sondern auch eine romantische Gartenlaube galt es zu ergründen. Dabei entdeckten sie ein riesiges Hornissennest. Henry griff zu einem Knüppel und fing an, es zu zerstören, worauf die Hornissen ausschwärmten und sie angriffen. Mit Händen und Beinen wehrten sie die Angriffe ab. Henry bekam verdienterweise die meisten Stiche ab, bis wir uns im Haus in Sicherheit gebracht hatten.
Am nächsten Tag gab Tante Emmi Henry fünfzig Mark in die Hand mit dem Auftrag, ein Päckchen Kaffee in Westberlin einzukaufen. Das war nichts Besonderes, da liefen wir Knirpse los, ohne Hemmungen. Das waren noch echte deutsche Jungen, die die letzten Jahre des Krieges miterlebt hatten, da ist doch der Einkauf von Kaffee in Westberlin ein Klacks, so dachten die beiden. Natürlich wurde der Auftrag auch ausgeführt, was Tante Emmi auch besonders hervorhob. Es war selbstverständlich, dass Sechsjährige sich von Ostberlin aufmachten, um in Westberlin Kaffee einzukaufen, für Tante Emmi, der Neureichen, ohne eigene Kinder.
Auch Tante Emmi wurde nicht alt. Sie starb noch vor ihrer Mutter. Welch eine Tragödie – alle tot, nur Tante Klara und ihr Enkel Henry lebten noch.
Wir machen einen Sprung in die Neuzeit, als Konrad erwachsen war und mit seiner damaligen Freundin und heutigen Frau ein letztes Mal Tante Klara besucht hatte. Sie empfing uns völlig vereinsamt, alle waren tot, außer ihr Enkel. Geistig umnachtet versuchte sie eine Unmenge von Wollknäueln und Lumpen auf einem Tisch zu ordnen – ohne Ergebnis. Zu guter Letzt fischte sie einen alten Fuchspelz aus ihrem Haufen und übergab sie den beiden. Das war das Letzte, woran er sich in Verbindung mit Tante Klara erinnern konnte. Berlin war damit für Konrad vorläufig kein Thema mehr.