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Kapitel 2 Nichts für Mädchen
ОглавлениеIch legte Lancelot das Schlittengeschirr um den Hals und verspannte die Riemen. Der alte Wallach war ein dunkelbrauner Kaltblut-Mix, mit Sicherheit das geduldigste Kutschpferd der Welt und neben Dalibor das einzige Pferd auf dem Sturmhof, das keine reine Abstammungslinie vorzuweisen hatte. Sein freudiges Schnauben, als ich das Tor öffnete und frischer Wind in den Stall hineinwehte, entlockte mir trotz meines Kummers ein Lächeln. Lancelot liebte seinen Job und konnte enorme Kräfte aufbringen. Selbst wenn die langen Behänge an seinen Beinen mit dicken Eiszapfen verzottelt waren, zog er den kleinen Einspänner noch im Trab den Berg hinauf.
»Ich weiß, Dalibor, ich wünschte auch, es wäre anders. Aber immerhin sind wir heute Morgen schon gemeinsam unterwegs gewesen.« Ich kitzelte mein Pferd zur Aufmunterung an den Nüstern, weil es mich wie immer etwas beleidigt ansah, wenn ich es nicht mitnahm. Doch mein Ausflug führte mich ins Dorf und ich konnte mich schlecht vor den Leuten auf einem Pferderücken zeigen. Kutschieren wurde für Frauen gerade noch so geduldet.
Ich hatte Novak gesagt, dass ich zum Markt fahren würde, woraufhin ich prompt diverse Aufträge erhalten hatte, die erledigt werden mussten. Plötzlich flog die Tür auf, die vom Waschraum in den Stall führte. »Warte, ich komme mit!«, rief Julie.
»Du willst mit zum Einkaufen?«, fragte ich überrascht. Ich war ziemlich sicher, dass ihr Vorschlag kein Hilfsangebot sein sollte, und machte mir prompt Sorgen, dass sie meine Pläne durchkreuzen könnte.
»Die Schneiderin stellt heute ihre neuen Stoffe für den Prinzenball vor, und ich werde nicht warten, bis mir eines der anderen Mädchen den schönsten weggeschnappt hat.« Julie ignorierte meinen genervten Blick. Ihre Wangen leuchteten rosa unter der gleichfarbigen Pudelmütze hervor. Sie trug eine ebenfalls rosa glitzernde Wolljacke und silberne Schneeboots. Bestimmt hatte sie Novak um Geld für ein Kleid angebettelt, und ich würde wetten, dass er ihr, ohne zu murren, etwas gegeben hatte. Julie bekam immer, was sie wollte.
Ergeben nickte ich. Mir blieb sowieso nichts anderes übrig. »In Ordnung.«
Hoffentlich würde ich sie im Dorf möglichst schnell wieder loswerden, damit ich all meine Vorhaben umsetzen konnte! Ich kletterte auf den Kutschbock und half ihr hoch, um mir wenigstens ihre Nörgeleien zu ersparen.
Doch kaum war sie oben, ging es auch schon los: »Uff, ist das unbequem!« Sie verdrehte die Augen, als sie neben mir auf die Sitzbank plumpste. Unbequem war eines ihrer Lieblingswörter. In Julies Welt war so ziemlich alles unbequem, jegliche Art von Arbeit ebenso wie die kleinste körperliche Anstrengung, die nichts mit Posieren für ein Foto zu tun hatte.
Ich schnalzte mit der Zunge und Lancelot trabte los. Der Weg ins Dorf dauerte eine knappe Viertelstunde, in der ich gerne vor mich hinträumte und die Ruhe der verschneiten Felder um mich her genoss. Das Land des ewigen Schnees hatte einen seltsamen Charme. Einerseits liebte ich die trotzige Kälte, das Knistern der Eisflächen und die Stille, in der man jeden noch so leisen Schritt wahrnahm; andererseits wusste ich genau, welche Gefahren sich dahinter verbargen. Der Schnee war ein gefährlicher Freund, der sich jederzeit gegen einen wenden konnte. Man durfte ihm niemals vertrauen.
»Wie hältst du das nur aus?«, fragte Julie nach wenigen Minuten gereizt.
»Was denn?«, erwiderte ich irritiert.
»Na, dieses öde Geschaukel.« Sie rieb ihre dicken Fäustlinge aneinander, obwohl ich mir kaum vorstellen konnte, dass sie darin fror. Meine Fingerspitzen kribbelten bereits von der Kälte, aber öde war diese Fahrt allenfalls wegen Julie.
»Ich komme jede Woche zweimal hier entlang«, klärte ich sie auf. »Ich bin es also nicht anders gewohnt.« Offenbar hatte sie bisher nicht bemerkt, wie oft ich ins Dorf fuhr und vor allem für sie Einkäufe und Besorgungen erledigte.
»Wenigstens ein Polster hätte ich mir mitnehmen sollen. Ich bekomme bestimmt blaue Flecken von den Schlaglöchern auf dieser holprigen Strecke.«
Verwundert suchte ich die glatte Schneedecke nach Bodendellen ab.
»Jiri hat erzählt, dass heute ein Treffen im Prinzenchalet stattfindet. Bestimmt sind dort eine Menge gut aussehender Jungs!«, plapperte Julie weiter. Ich warf ihr einen Seitenblick zu. Sie konnte innerhalb von Sekunden das Thema wechseln, ohne auch nur einen Gedanken an den vorherigen Satz zu verschwenden. »Würdest du nicht auch gerne mal mit einem Prinzen tanzen?«
Ich schnaubte und schüttelte den Kopf. »Nein, wirklich nicht.« Mir reichten Julies ausführliche Berichte über Probleme mit Jungs völlig aus. Ich war mir sicher, dass ich nichts weniger in meinem Leben brauchte als Liebeskummer. Und die Prinzenanwärter fand ich sowieso durchweg unsympathisch.
»Du bist echt seltsam«, kommentierte meine Stiefschwester. In ihren Augen war ein Leben ohne Jungs vermutlich noch öder als eine Schlittenfahrt.
Ich zuckte mit den Schultern. Sollte sie denken, was sie wollte. Julie hatte zwar alles, was sie brauchte, aber sie wusste dennoch nicht, was ihr fehlte. Um nichts auf der Welt hätte ich einen Ausritt mit Dalibor gegen eines ihrer Kleider getauscht. Und der Tanz mit einem der »Prinzen«, wie die arroganten Typen genannt wurden, die für das Eispferde-Rennen nominiert waren, rangierte noch weiter unten auf meiner Wunschliste.
Als ich die ersten Dächer der Häuser hinter dem Schneewall auftauchen sah, atmete ich erleichtert auf. »Soll ich dich direkt bei der Schneiderin absetzen?«, fragte ich hoffnungsvoll.
»Nein, ich komme erst mit zum Markt. Vielleicht finde ich dort ein paar schicke Accessoires, bevor ich mich unter die Konkurrenz mische.« Sie kicherte.
Ich unterdrückte ein Stöhnen und lenkte Lancelot in Richtung Kutschplatz.
»Wo willst du hin?«, rief Julie aufgebracht. »Du glaubst doch nicht, dass ich den ganzen Weg bis zum Marktplatz laufe! Wenn die Pailletten an meinen Boots schmutzig werden, sind die Schuhe komplett ruiniert.«
Ich warf einen Blick auf ihre lächerlich unpraktischen Stiefel. »Also, mitten auf dem Markt kann ich nicht stehen bleiben.«
»Was?« Julie sah mich verständnislos an. »Hey, da sind Krystina und Zuzana. Warte mal!«
Julie rief lauthals nach ihren Freundinnen. Dann sprang sie eilig vom Wagen und ich musste Lancelot abrupt zum Stehen bringen, sonst wäre sie vermutlich der Länge nach hingefallen. Ihre Schuhproblematik hatte sie offenbar schon wieder vergessen. Die beiden anderen Mädchen kreischten erfreut auf, als sie sie erblickten, was – angesichts ihrer Konkurrenz um die Gunst der Prinzenanwärter – in meinen Augen die reinste Ironie war. Trotzdem fiel Julie ihnen unter quietschenden Begeisterungsrufen um den Hals, als sie die beiden erreichte. Mich hingegen würdigte sie keines Blickes mehr. Aber alles war mir lieber als ihr ständiges Geplapper. Außerdem musste ich mich beeilen, immerhin wusste ich nicht genau, wie lange sie bleiben wollte. Und selbstverständlich würde sie erwarten, dass ich sie später bei der Schneiderin wieder abholte.
»Tschüss, Julie«, murmelte ich leise, während ich Lancelot antrieb. Schnaubend setzte sich der Wallach in Bewegung, schüttelte seine lange Mähne und trabte fröhlich zum Kutschplatz. Bestimmt war er genauso erleichtert wie ich, dass wir sie endlich los waren.
Ich lockerte die Riemen und stellte Lancelot einen kleinen Eimer mit Hafer hin. Dann machte ich mich auf den Weg zum Markt.
Die große Turmuhr neben der Kapelle zeigte bereits kurz vor elf und das halbe Dorf war auf den Beinen. Heute war Markttag, das bedeutete eifriges Rangeln und Feilschen um die frische Ware. Wegen der schlechten Ernte waren die Preise gestiegen – Novak hatte leider recht – und die Händler nutzten die Not der Menschen schamlos aus.
Am ersten Stand kostete ein Winterapfel so viel wie sonst ein ganzes Kilo, obwohl die rote Schale bereits einige braune Stellen zeigte. Sie eigneten sich mehr als Futteräpfel, aber ich hatte leider nicht genug Geld, um den Pferden welche zu kaufen. Ich seufzte. Dalibor würde in Zukunft auf seine Leckereien verzichten müssen. Ich musste froh sein, wenn ich das Heu bezahlen konnte.
Ich hielt nach günstigeren Angeboten Ausschau. Ein paar Stände weiter gab es noch etwas schrumpeligere Äpfel – dafür zum halben Preis. Ich kramte meine letzten Ersparnisse hervor und kaufte zwei. Als ich die kostbare Errungenschaft in meinem Korb verstauen wollte, rempelte mich jemand so heftig von hinten an, dass einer der beiden Äpfel zu Boden fiel und zwischen den Füßen der anderen Marktbesucher davonkullerte. Ich bückte mich und versuchte, ihn einzuholen, doch er wurde immer wieder ein Stück weiter getreten, bis er gegen eine Hauswand prallte. Als ich ihn endlich aufhob, sah er äußerst unappetitlich aus – selbst für ein Pferd.
»Mist!«, murmelte ich und fast kamen mir die Tränen. Ich schluckte, hob den Kopf und … schaute in zwei strahlend grüne Augen. Irritiert blinzelte ich.
Ich stand direkt vor einem Fenster, von der anderen Seite der Scheibe aus blickte mich ein Junge an. Er hatte ohne Zweifel die schönsten Augen, die ich je gesehen hatte. Das kräftige Grün erinnerte mich an den Frühling. Etwas Rastloses lag in seinem Blick. Er lächelte nicht, aber er wandte sich auch nicht ab, sondern starrte mich genauso neugierig an wie ich ihn.
Erst als ihn jemand anstieß, brach unser Blickkontakt ab. Er drehte sich um, und ich hätte ihn am liebsten zurückgehalten. Doch dann bemerkte ich die anderen Jungs hinter ihm, und mir dämmerte, dass ich genau vor dem Prinzenchalet stand – eine Art Jugendclub, in dem sich die Prinzenanwärter trafen. Die Mädchen zog es automatisch ebenfalls dorthin, denn jede wollte sich in der Nähe der umschwärmten Jungs aufhalten, mit ihnen reden oder wenigstens einen Blick auf sie werfen, um von einem Tanz im Ballsaal zu träumen. Ganz besonders Julie, Krystina und Zuzana.
Mir wurde ganz flau im Bauch bei dem Gedanken, dass ich womöglich einem der zukünftigen Prinzen in die Augen gesehen hatte. Allerdings weniger, weil ich diese Tatsache so aufregend fand, sondern vielmehr, weil ich eine innere Abneigung gegen Jungs wie Jiri hegte. Da konnte dieser Typ noch so grüne Augen haben! So sehr ich immer schon von der Teilnahme am großen Rennen geträumt hatte, so wenig wollte ich etwas mit einem der Prinzenanwärter zu tun haben. Ich drehte mich abrupt weg und beeilte mich, meine Einkäufe zu erledigen. Ich hatte wirklich genug zu tun.
Als ich mit vollen Körben zurück zum Kutschplatz ging, sah ich Julie und die anderen Mädchen gerade in Terezas Schneiderei verschwinden. Schnell verstaute ich die Einkäufe auf der Ladefläche und zurrte die Riemen fest.
»Pass gut auf unsere Sachen auf, Lancelot!« Ich klopfte dem alten Wallach auf sein etwas zu knochiges Hinterteil. »Vielleicht habe ich Glück und finde einen Job, von dem ich auch dir ein bisschen extra Heu kaufen kann.«
Lancelot schnaufte leise und ich machte mich auf den Weg zur Vermittlungsstelle. Fast alle Stellenangebote liefen über diese Zentrale. Das kleine Büro am Rande des Dorfes war brechend voll. Ich konnte kaum die Tür öffnen, ohne gegen einen der Wartenden zu stoßen. Bei der Bandbreite an unterschiedlichen Menschen, die hier vor dem großen Tresen an der gegenüberliegenden Seite des Raumes anstanden, musste doch eigentlich für jeden das Richtige dabei sein, dachte ich. Große, kräftige Kerle waren ebenso vertreten wie kleine, schmächtige Männchen, die schon auf den ersten Blick nach Büroarbeit aussahen. Auch Frauen jeden Alters waren darunter: strenge Hauswirtschafterinnen, mollige Köchinnen, zarte Näherinnen, Hebammen, die ordentlich zupacken konnten, und Putzfrauen, die ihre Haare mit einem Tuch zurückgebunden hatten. Ich musste beinahe schmunzeln, so treffsicher hätte ich sagen können, wer welche Art Job suchte.
Auf der anderen Seite des Tresens saßen drei Frauen mittleren Alters, die die Schlange der Reihe nach abarbeiteten. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich so weit vorgerückt war, dass ich mitbekam, wie der Ablauf war. Nach eingehender Befragung, endlosem Kopfschütteln und grimmigen Blicken händigten die Frauen jedem Arbeitssuchenden einen Bogen mit einer Liste weiterer Fragen aus.
Meine Nervosität stieg. Was, wenn ich den Anforderungen nicht gerecht wurde? Jeder, der seinen Zettel ausgefüllt hatte, steckte ihn in einen kleinen grünen Kasten mitten auf dem Tresen. Die Menschen verließen die Vermittlungsstelle ohne Ausnahme mit deprimiertem Gesichtausdruck.
Als ich an der Reihe war, lächelte ich höflich. »Guten Tag, ich suche dringend …«
»Das tun sie alle«, unterbrach mich die Frau auf der anderen Seite des Tisches. Mit der riesigen Brille, die ihre Augen stark vergrößerte, wirkte sie wie ein großes Insekt. »In den fünf Jahren, die ich hier arbeite, hat noch nie jemand auf Anhieb eine Stelle gefunden.«
»Oh, mir ist es ganz egal, was ich mache«, sagte ich schnell. »Hauptsache …«
»Natürlich, Schätzchen, aber den Arbeitgebern ist es nicht egal, wer bei ihnen anfängt. Jeder eignet sich für etwas Bestimmtes. Die Kunst liegt darin, zwei zu finden, die zusammenpassen.«
Ich sah sie erwartungsvoll an, doch sie drückte mir nur ein Blatt Papier in die Hand.
»Sie haben mich noch gar nichts gefragt«, erinnerte ich sie.
Die Frau lächelte milde. »Zu jung, zu unerfahren und vor allem zu zart gebaut. Die Chancen stehen ehrlich gesagt nicht besonders gut.«
»Oh …« Ich nickte niedergeschlagen und nahm den Bogen entgegen.
Als ich etwa eine halbe Stunde später meinen Fragebogen in die grüne Kiste steckte, hatte sich mein Mut verflüchtigt wie eine Schneeflocke im Frühling. Die Frau hatte vermutlich recht, die Aussichten, dass ich hier einen Job finden würde, waren unterirdisch. Mit hängendem Kopf schlich ich die Straße entlang. Ich hatte so große Erwartungen in die Vermittlungsstelle gesetzt. Und ich hatte keinen Plan, was ich jetzt machen sollte.
Neben mir flog eine Tür auf und dröhnendes Gelächter drang mitsamt einer Qualmwolke aus dem Haus. Ich hustete und wollte mich gerade abwenden, als ich Kalle zwischen den Männern in der Kneipe ausmachte. Der Schmied war ein Raubein erster Güte, aber ein Mann mit Herz. Er war mein Freund, seit ich als kleines Mädchen schon die Hufe angehoben hatte, wenn er zum Beschlagen auf den Sturmhof gekommen war. Ich musste daran denken, wie er mich immer gelobt hatte für mein Fingerspitzengefühl im Umgang mit den Pferden.
Und da hatte ich eine Eingebung.
Ich änderte die Richtung und steuerte auf den Eingang zu. Die verwunderten Blicke der Männer ignorierte ich ebenso wie die dummen Bemerkungen.
»Na, suchst du deinen Papa?«
Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge zu Kalle und tippte ihm auf den Arm. »Hey, Kalle, du könntest doch bestimmt jemanden gebrauchen, der dir beim Beschlagen hilft, oder?«, fragte ich voller Hoffnung. »Einen, der die Pferde festhält oder das Werkzeug säubert …?«
Kalle sah mich fragend an. »Sag bloß, dein Bruder sucht Arbeit.«
Ich schüttelte energisch den Kopf. »Nein! Ich wollte …«
Schallendes Gelächter ertönte um mich herum.
»Der Pimpf hat ja noch nicht mal den Stimmbruch hinter sich.« Der Dicke hielt mich offenbar für einen Jungen. Zwar sah ich in meinen einfachen Klamotten sicher nicht aus wie die anderen Mädchen, aber meine langen, zum Zopf gebundenen Haare hätten zumindest ein eindeutiger Hinweis sein müssen. Vielleicht waren sie auch unter meinen Schal gerutscht, aber es ärgerte mich trotzdem.
Ich atmete einmal tief durch und wollte zu einem weiteren Versuch ansetzen, doch ein kräftiger Schlag auf den Rücken ließ mir die Worte im Hals stecken bleiben.
»Vielleicht findest du ja eine Stelle auf einem Gutshof. Bestimmt wird irgendwo jemand gesucht, der als Windstopper zwischen die Ritzen passt.« Die Männer lachten erneut.
Ich kniff die Augen zusammen und fixierte den Kerl, dessen ledrige Haut an einen alten Stiefel erinnerte.
»Lass sie in Ruhe, Kremp! Ašleah ist ein Mädchen und sie sucht ganz bestimmt keine Arbeit im Stall. Und bei mir in der Schmiede …« Kalle lächelte mich bedauernd an und mein Herz sackte ab. »… tut mir leid, aber das geht wirklich nicht. Frag doch mal bei Magda in der Küche.«
Ich warf einen letzten Blick in die grinsenden Gesichter um mich herum und nickte langsam.
Zögerlich drückte ich mich zwischen den Stühlen hindurch und wollte gerade an die Küchentür klopfen, als sie von innen aufgestoßen wurde.
»Verschwinde, Betty! Ich habe ohnehin zu viele Leute in der Küche, die ich nicht bezahlen kann!«
Die Tür fiel scheppernd wieder ins Schloss und eine hagere junge Frau drehte sich zu mir um. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Drecksladen!«, sagte sie zu mir. »Ich habe sowieso keine Lust mehr, noch drei weitere Monate auf mein Geld zu warten.«
Sie stapfte zur Tür hinaus, ohne sich noch einmal umzuwenden. Und vermutlich war das auch das Beste, was ich tun konnte.
Dalibors Schnauben begrüßte mich. Ich hatte Lancelot ausgespannt und in seine Box gebracht, Julie war mit ihren Schätzen im Wohnzimmer verschwunden. Leise öffnete ich den Riegel und schlüpfte in Dalibors Box. Novak musste nicht alles mitbekommen. Ein Pferd war seiner Meinung nach zum Arbeiten da und Reiten erfüllte auch nur den Zweck der Fortbewegung – mehr nicht. Dass ich Dalibor als meinen Freund betrachtete, dafür fehlte ihm jedes Verständnis. Ich schlang meine Arme um den Pferdehals. Der Geruch allein vertrieb normalerweise schon meine Sorgen – aber nun war genau dieses Glück in Gefahr. Wenn ich keinen Job fand, würde ich Dalibor verlieren!
Ich wischte meine Tränen an seinem dichten Fell ab. Jeder Versuch, im Dorf eine Stelle zu finden, war eine Katastrophe gewesen. Besonders die Idee, bei Kalle nachzufragen – Schmied war natürlich genauso ein Männerjob wie Stallbursche. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. Wie dumm von mir, dass ich gedacht hatte, Kalle würde mich einstellen!
Ein richtiges Mädchen war ich aber offenbar auch nicht, sonst hätten die Männer mich wohl kaum mit einem Jungen verwechselt. Ich musste an den Witz des Dicken denken, mich als Windstopper auf einem Gutshof zu bewerben. Aber zum Lachen war mir nicht zumute. Mir fiel die Zeitungsannonce vom Kralshof wieder ein. Stallburschen wurden auf den Zuchthöfen jetzt überall gesucht, so kurz vor dem großen Rennen. Was hätte ich dafür gegeben, ein Junge zu sein und einfach das zu tun, wozu ich Lust hatte!
Gedankenverloren ließ ich ein paar Strähnen meiner Locken durch meine Finger gleiten. Musste man nicht größere Opfer bringen, wenn einem etwas wichtig erschien? Ma hatte immer zu mir gesagt: »Manche Chancen im Leben ergeben sich nur ein einziges Mal. Aber du wirst es fühlen, ob der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um sie zu ergreifen.«
Vielleicht war dieser Zeitpunkt ja nun gekommen? Ich hob den Kopf. Mein Blick streifte das kleine Fenster über Dalibors Box, in dem sich mein Gesicht im schwachen Schein der Stallbeleuchtung spiegelte. Nachdenklich schaute ich in Dalibors dunkle Augen. Und plötzlich wusste ich, was ich tun musste.
Ich huschte durch den Stall zu dem Schrank, in dem ich das Werkzeug aufbewahrte. Nach kurzer Suche fand ich die Schere und flitzte zurück in Dalibors Box, schob mein Pferd etwas beiseite und stellte mich auf die Zehenspitzen. Ungeachtet des erschrockenen Blicks, den mir mein Spiegelbild im Stallfenster entgegenwarf, umfasste ich mit der freien Hand meinen Zopf.
Und schnitt ihn einfach ab.