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Kapitel 4 Falsch gedacht!
ОглавлениеIch hatte meinen Wecker auf fünf Uhr dreißig gestellt, doch ich wachte sogar noch vor dem ersten Klingeln auf. Wie ein gespitzter Pfeil schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass heute der entscheidende Tag war. Die erste Prüfung hatte ich bestanden. Was auch immer Herr Kral für einen Eindruck von mir gehabt hatte – mein Rollenspiel musste ihn überzeugt haben. Er hatte mich nicht rausgeworfen und ich durfte zur Probe arbeiten. Ich konnte es kaum erwarten! Eilig sprang ich aus dem Bett. Ich hatte genau eineinhalb Stunden Zeit, um mir die Zähne zu putzen, mich anzuziehen, die Stallarbeit zu erledigen und zum Kralshof zu reiten.
So leise wie möglich schlich ich die Treppe hinunter. Trotz aller Vorsicht knarrte die vorletzte Stufe, sodass ich kurz innehielt und einen Wunsch zu den Sternen hinauf schickte: Hoffentlich wachte Novak nicht auf! Schließlich hatte ich niemandem gesagt, was ich vorhatte … Doch alles blieb still.
Ich tastete mich im Dunkeln in die Küche und nahm genau wie gestern das übrig gebliebene Stück Brot vom Vortag mit. Das musste als Proviant ausreichen. Erst im Stall zündete ich eine kleine Lampe an. Dalibor hob erstaunt den Kopf und schnaubte leise. Normalerweise gab es die morgendliche Heuration erst eine Stunde später. Aber wenn alles gut ging, würde dieser Zeitplan ab sofort der Vergangenheit angehören. Ich mistete die Boxen aus, während die Pferde ihr Heu malmten, fegte die Stallgasse und fütterte die Schneehühner. Die restlichen Hausarbeiten würde ich in Zukunft am Abend erledigen müssen. Doch wenn ich Glück hatte und die Stelle bekam, konnte ich noch früh genug mit Novak darüber reden.
Als ich Dalibors Fell gebürstet hatte und den Sattel auflegte, war es genau sechs Uhr dreißig. Blieb noch eine halbe Stunde für den Weg bis zum Kralshof – für den ich gestern mit dem Schlitten über eine Dreiviertelstunde gebraucht hatte. Aber Dalibor war schnell und ich hoffte, dass mich so früh am Morgen niemand beobachten würde. Ich führte mein Pferd ins Freie und schloss das Stalltor hinter mir. Am Horizont zeigte sich ein erster heller Streifen, der den Himmel sanft von der Erde trennte. In weniger als einer halben Stunde musste ich mein Ziel erreicht haben, lange bevor die Sonne ihre Strahlen über die Berge schicken würde.
Ich streifte meine Reithandschuhe über und zog mich in den Sattel. Dalibor spitzte die Ohren und begann zu tänzeln. »Hey, langsam.« Ich klopfte ihm beruhigend den Hals. »Warte noch, bis wir vom Hof runter sind. Ich will nicht, dass uns jemand hört.«
Dalibor schüttelte unwillig den Kopf, aber er lief brav im Schritt weiter. Vielleicht spürte er, dass heute ein besonderer Tag war. Als wir unsere Sprintstrecke erreichten, verfiel er von selbst in einen flotten Trab. Nun gab ich endlich nach und ließ ihn laufen. Dalibor galoppierte los.
Es gab kein schöneres Gefühl, als die unter mir trommelnden Hufe und den eisigen Wind zu spüren, der mir ins Gesicht fegte. Die verschneite Landschaft zog an mir vorbei und ich vergaß beinahe den eigentlichen Grund unseres Ritts. Wenn Dalibor galoppierte, glaubte ich, jeden Moment abheben zu können, als ob ihm unsichtbare Flügel wüchsen, die uns in den Himmel trügen. Diese Träume erlaubte ich mir allerdings nur für Sekunden. Im echten Leben war mir der schneebedeckte Boden unter den Füßen – oder Hufen – dann doch lieber.
Auch als wir den großen Schneewall erreichten, war Dalibor noch nicht außer Atem. Als wir am Dorf vorbeiritten, drosselte ich dennoch das Tempo. Ich musste vorsichtig sein, damit niemand auf mich aufmerksam wurde. So früh sah man allerdings tatsächlich selten jemanden unterwegs. Die Tage im Land des ewigen Schnees waren kurz, und bis die Sonne nicht am Himmel stand, herrschte die Kälte noch strenger als sonst.
Mit zusammengekniffenen Augen suchte ich die weite Landschaft vor mir nach anderen Reitern oder Fußgängern ab. Doch der Schnee auf den Feldern war unberührt. Der Weg vor mir erstreckte sich schnurgerade und menschenleer am Dorf vorbei, bevor er sich in etlichen Windungen durch die Hügellandschaft bis hin zum Kralshof zog.
Ich spornte Dalibor an, das letzte Stück des Weges noch ein bisschen zuzulegen. Die Turmuhr zeigte noch zehn Minuten bis zur vollen Stunde. Ich beugte mich vor und strich mit den Fingern aufmunternd über seinen Mähnenkamm. Manchmal stellte ich mir vor, wie es wäre, meine Hand an Dalibors schwarzes Ohr zu legen und die magischen Worte zu flüstern, die Ma mir verraten hatte. Die magischen Worte, die das Geheimnis der Eispferde waren. Doch dann rief ich mir jedes Mal in Erinnerung, was sie mir eingetrichtert hatte: Du darfst es nicht ausnutzen! Ich liebte die alte Legende, die Ma mir wieder und wieder erzählt hatte. Es sei kein Zufall gewesen, dass die Eispferde den verheerenden Schneesturm überlebt hatten, der unser Land vor langer Zeit in einen Kälteschock versetzt hatte. Vielmehr hätte es an der besonderen Kraft gelegen, die in ihnen schlummerte. Ich hörte Mas Worte so deutlich, als ob sie mich noch immer vor sich auf dem Pferderücken im Arm halten würde: »Vergiss nie, Ašleah, nur wenn zwei Herzen im Gleichtakt schlagen, kann sich der Zauber der Eispferde entfalten. Wenn du wirklich in Not bist und deinem Pferd die magischen Worte zurufst, dann wird es sein eigenes Leben riskieren, um deines zu retten.«
Ich spürte jetzt noch das Kribbeln, das mir bei ihrer Erzählung über den Nacken gehuscht war. Die Worte, die Ma mir beigebracht hatte, kannte ich auswendig. Aber ich wagte nicht einmal, sie zu flüstern, aus Angst, ich könnte versehentlich den Zauber heraufbeschwören.
Ich vergrub meine Hände in der Mähne. »Los, Dalibor! Ich weiß, dass du auch so der Schnellste bist.«
Der Hengst spitzte die Ohren, streckte seinen Körper und schoss nach vorn. Ich stellte mich in den Steigbügeln auf, um seinen Beinen mehr Bewegungsfreiheit zu geben. Seine Muskeln arbeiteten unter mir mit einer unermüdlichen Kraft. Dichte Atemwolken stiegen stoßweise aus seinen Nüstern, und er galoppierte so schnell wie der raue Wind, der über die Klippen fegte. Ich hatte mich lange nicht mehr so lebendig gefühlt.
Um genau eine Minute vor sieben trafen wir auf dem Kralshof ein. Der große Zeiger der Uhr über dem Eingangsportal bewegte sich in dem Augenblick auf die Zwölf, als ich den Türklopfer betätigte. Und fast zeitgleich öffnete Herr Kral selbst, als ob er schon auf mich gewartet hätte. Ich war nicht sicher, ob das ein gutes Zeichen war.
Doch ein feines Lächeln umspielte seine ernsten Züge. »Es ist sieben Uhr.« Unnötig, das zu erwähnen, fand ich. »Ich bringe dich in den Stall und zeige dir, was deine heutige Aufgabe sein wird.«
Ich nickte, noch ganz außer Atem von dem schnellen Ritt.
Als er auf den Hof trat, runzelte Herr Kral die Stirn. »Ist das dein Pferd?«
»Ja«, antwortete ich stolz.
»Du solltest es versorgen, bevor du an die Arbeit gehst.«
»Nicht nötig. Es wird sich nicht von der Stelle rühren, bis ich wiederkomme«, erklärte ich.
Herr Kral blieb stehen und sah mich an. Sein Gesichtsausdruck zeigte Verärgerung, und ich bereute sofort, dass ich Dalibor hierhergebracht hatte. Ich hätte ihn besser im nahen Wald gelassen.
»Ein Pferd, das seinen Reiter treu ans Ziel gebracht hat, sollte immer zuerst versorgt werden, bevor man sich einer anderen Arbeit zuwendet. Diese Zeit muss sich jeder Reiter nehmen.« Sein Tonfall war streng.
Ich wusste nicht so recht, was ich darauf erwidern sollte, weil ich nicht meinen Job riskieren wollte. Ein Tadel zum Thema Pferdefürsorge war garantiert nicht der richtige Einstieg in meinen Probearbeitstag als Stallbursche.
»Das war keine Frage«, bemerkte Herr Kral, dem mein Zögern offenbar nicht entgangen war.
Ich schluckte. »Sie meinen, ich soll mein Pferd in Ihren Stall bringen?«
»Ich meine das nicht nur, sondern du wirst es auch tun. Und zwar jeden Morgen vor der Arbeit. Du wirst dir entsprechend mehr Zeit einplanen oder abends länger bleiben.«
»Na… natürlich«, stammelte ich.
Das fing ja gut an. Wahrscheinlich hatte ich mir jetzt schon seine Sympathie verscherzt.
Ich pfiff leise durch die Zähne. Dalibor hob den Kopf und schritt auf mich zu, während mich seine dunklen Augen aufmerksam beobachteten. Herr Kral betrachtete mein Pferd dabei eingehend, obwohl er sich sein Interesse nicht so deutlich anmerken ließ wie Dalibor. Mit klammen Fingern ergriff ich die Zügel und folgte dem Gutsherrn in den Stall.
Meine Augen weiteten sich vor Staunen, als ich durch das Tor trat. Bestimmt dreißig Boxen – dreimal so groß wie Dalibors auf dem Sturmhof – reihten sich auf beiden Seiten der Stallgasse aneinander. Es gab sogar eine richtige Deckenbeleuchtung, was die Arbeit am frühen Morgen oder an düsteren, schneeverhangenen Tagen deutlich erleichtern würde. Der Stall sah sehr aufgeräumt und sauber aus. Auch zu Hause versuchte ich, immer alles in Ordnung zu halten, aber Novak gab nicht gerne Geld für Neuerungen aus. Alles, was ich reparierte, musste ich aufwendig zusammenbasteln, weshalb ich mit der Arbeit nie hinterher kam. Der Stall auf dem Sturmhof wirkte trotz meiner Mühen alt und heruntergekommen. Auf dem Kralshof hingegen erschienen mir die Boxen fast gemütlicher als unser Wohnzimmer.
Jedes Pferd, an dem wir vorbeigingen, hatte schneeweißes Fell, sehnige Beine und einen muskulösen, schlanken Körper – na ja, bis auf die Zuchtstuten, die man an ihren dicken Bäuchen erkannte. Bald war Fohlzeit. Jeder Züchter achtete penibel darauf, dass die Fohlen möglichst Mitte März zur Welt kamen, wenn das Schneefeuer den Frühling brachte, damit die ersten Lebensmonate von Wärme und grünem Gras begleitet wurden. Die Überlebenschancen waren dann deutlich höher. Den Fohlen, die später geboren wurden, fehlte oft genug die Kraft, um die langen und harten Wintermonate zu überstehen.
Mir fiel sofort auf, dass die Boxenbelegung nicht dem Zufall überlassen war. Links standen die Stuten und rechts die Hengste und Wallache. Natürlich eignete sich nicht jedes Pferd zur Zucht, und die Tiere verhielten sich viel verträglicher in einer gemischten Herde, wenn sie kastriert waren. Allerdings konnten sich nicht alle Pferdehalter die hohen Kosten der Kastration leisten. Das war auch der Grund, warum Dalibor noch immer ein Hengst war. Novak sah es nicht ein, dass er für mein Pferd zusätzlich Geld ausgeben sollte. Zwangsläufig hatte Dalibor gelernt, sich eher wie ein Wallach zu verhalten. Er war so lieb und folgsam, dass man ihm das Hengstsein absolut nicht anmerkte. Selbst in Gegenwart von Stuten verhielt er sich normalerweise anständig und ruhig. Hier in diesem neuen Stall allerdings spürte ich seine Nervosität wachsen. Die fremden Gerüche blähten seine Nüstern und sein Schritt auf dem gepflasterten Boden klang unruhiger als sonst.
»Heeey!«, flüsterte ich und strich ihm sanft über die Nüstern.
Herr Kral warf mir einen kurzen Seitenblick zu. »Du kannst ihn in diese Box stellen.« Er deutete auf ein freies Luxuswohnzimmer der Extraklasse. Der Begriff Box traf es nicht annähernd.
Ich nickte überwältigt. Gleichzeitig fragte ich mich, ob das ein Trick sein sollte. Vielleicht verlangte er Geld für das Unterstellen? Was war mit den Heu- und Strohkosten? Ich konnte doch nichts dafür von meinem Lohn abzweigen! Zögerlich blieb ich mit der Hand am Riegel stehen. Als ich mich zu dem Gutsherrn umdrehte, stand mein Entschluss dennoch fest.
»Ich kann mir das nicht leisten«, sagte ich. »Wenn Sie mich einstellen wollen, arbeite ich für den Preis von einem Ballen Heu im Monat, davon kann ich nichts abziehen. Ein warmer Stellplatz ist meinem Pferd nicht so wichtig wie das Raufutter.«
Herr Kral lächelte nicht, aber in seinem Blick lag eine seltsame Regung, die ich nicht deuten konnte. »Für heute ist dieser Stellplatz umsonst. Alles Weitere werden wir nach deinem Probetag sehen.«
Ich hätte gern weiter nachgefragt, aber ich wollte seine Geduld nicht herausfordern. »In Ordnung«, erwiderte ich leise, obwohl ich wusste, dass es das nicht war.
Nachdem ich Dalibor abgesattelt hatte, stellte mich Herr Kral dem eigentlichen Stallburschen vor, zu dessen Unterstützung ich – hoffentlich – eingestellt werden sollte. Bruno war ein kräftiger kleiner Mann, bestimmt doppelt so breit wie ich, mit einem kantigen Gesicht. Seine Bartstoppeln ließen ihn verwegen wirken. Ich schätzte ihn auf beinahe siebzig und war mir sicher, dass sein Erfahrungsschatz mein Wissen über Pferde komplett in den Schatten stellte. Seinem skeptischen Blick nach traute er mir ebenso wenig zu wie Herr Kral. Wenn sie geahnt hätten, dass ich ein Mädchen war, wäre ihr Urteil noch vernichtender ausgefallen. Ich schluckte meinen Frust herunter.
»Bruno wird dir weitere Anweisungen geben, wenn du mit dem Stallausmisten fertig bist. Wir sehen uns zum Mittagessen.«
Zum Mittagessen? Ich verstand nicht so recht, was er damit meinte, aber der Gutsherr nickte mir noch einmal zu und verschwand, bevor ich fragen konnte. Na, dann … Ich schnappte mir eine Mistgabel samt Schubkarre und betrat die erste Box. Das Pferd sah mich neugierig an und verfolgte jede meiner Bewegungen mit größtem Interesse. Als ich fast fertig war, hatte es so weit Vertrauen zu mir gefasst, dass es geradezu übermütig an meiner Jacke knabberte. Ich straffte die Schultern, drehte mich zu ihm um und sagte laut und deutlich: »Nein!«
Erst jetzt bemerkte ich Bruno, der vor der Box stand und sich offenbar köstlich amüsierte. Verunsichert sah ich ihn an. Als ein tiefes Lachen aus seiner Kehle kam, musste ich jedoch unwillkürlich mitgrinsen. »Was denn?«, fragte ich.
»Du könntest ihn draußen anbinden, dann hättest du mehr Platz«, entgegnete er. »Hast du denn keine Angst, dass er dich tritt?«
»Dass er mich tritt?«, wiederholte ich. »Wieso sollte er das tun?«
Brunos Blick wurde ernster. Es schien, als überraschte ihn meine Frage. Dann nickte er, obwohl das wirklich keine passende Antwort war. »Es sind nicht alle hier so friedlich wie er, aber mach es, wie du willst.« Ein Lächeln huschte über seine Lippen, bevor er sich abwandte und mich wieder meiner Arbeit überließ.
Während ich überlegte, ob er mich gerade ausgelacht hatte und sich vielleicht sogar freuen würde, wenn ich diesen Job nicht bekam, oder ob er nur nett sein wollte, sah ich mir den Schimmel genauer an. Mir war noch nie ein Pferd begegnet, das grundsätzlich böse war. Sicher konnte das Verhalten der Menschen auch aus einem zahmen Tier ein Monster machen. Jiris Moc zum Beispiel legte grundsätzlich die Ohren an, wenn man die Box betrat, aber er ließ sich auch ebenso schnell besänftigen, wenn er registrierte, dass nur ich es war. Die Hand, die einen füttert, beißt man nicht, hatte Ma immer gesagt. Deshalb brachte ich jedem Pferd Vertrauen ohne Vorurteile entgegen. Ma hatte mich zudem gelehrt, dass fast alle Tiere diesen Vertrauensvorschuss zurückgaben.
Ganz in Erinnerungen versunken, setzte ich meine Arbeit fort, bis auch die letzte Box ausgemistet war. Keines der Pferde hatte mich getreten. Warum auch?
»Mittagspause«, brummte Bruno.
Ich sah überrascht auf, als ich die Schubkarre beiseitestellte. War es schon so spät? Meinem knurrenden Magen nach zu urteilen, lautete die Antwort ganz klar: ja. Das trockene Stück Brot in meiner Satteltasche würde nur leider gegen meinen Hunger nicht viel helfen.
Ich wollte gerade zu Dalibor in die Box gehen, als Bruno mir mit einem tadelnden Schnalzen auf die Schulter tippte. »Der Chef mag es nicht besonders, wenn man mit dreckigen Fingern am Tisch sitzt. Also wasch dir die Hände.«
Ich sah ihn misstrauisch an. »Am Tisch?«
»Wo sonst?«, erwiderte Bruno. »Oder willst du deine Suppe im Stall löffeln?«
Ich hätte gerne gefragt, was er damit meinte, entschied mich aber dagegen. Weder Bruno noch Herr Kral schienen viele Worte zu mögen.
Eilig schrubbte ich stattdessen meine Finger an dem kleinen Waschbecken in der Stallgasse mit Kernseife und trocknete die Hände an meiner Hose ab. Mit einem verlegenen Blick auf meine schmutzigen Sachen folgte ich Bruno bis zum Eingang des Gutshofes.
Die Frau, die mich gestern empfangen hatte, hielt uns die Tür auf und verfolgte mit Argusaugen, wie Bruno seine Schuhe auszog. Ich tat es ihm schweigend nach. Auf dem Weg den Flur entlang – in Socken! – konnte ich mir eine Frage aber dennoch nicht verkneifen. »Wer ist sie eigentlich?«, flüsterte ich Bruno zu.
»Mani, die Köchin«, antwortete er so laut, dass meine Neugier nicht geheim blieb. Als ich mich erschrocken umdrehte, lag ein Schmunzeln in Manis Gesicht.
Ich fühlte meine Wangen erröten, obwohl ich nicht wusste, warum ich mich schämte. Vielleicht, weil Mani aussah wie eine Großmutter, die sich jedes Kind wünschte, und ich Sorge hatte, dass sie mir diesen Wunsch ansehen könnte. Ihre etwas zu üppigen Rundungen waren perfekt für eine tröstende Umarmung und in ihren Augen lag eine unergründliche Zuversicht.
Ich hätte so gern eine Großmutter oder einen Großvater gehabt. Aber Mas Vater und Mutter waren lange vor meiner Geburt gestorben und auch Novak hatte keine Eltern mehr. Vielleicht war das ein Grund mehr gewesen, der Ma und meinen Stiefvater zu ihrer seltsamen Zweckgemeinschaft veranlasst hatte: Ma wollte nicht riskieren, ein uneheliches Kind zur Welt zu bringen, nachdem mein Vater tödlich verunglückt war, bevor sie heiraten konnten. Novaks erste Frau dagegen hatte die Geburt von Jiri und Julie nicht überlebt. Es war keine Liebe im Spiel gewesen, und das hatte sich auch in den fünfzehn Jahren, die sie zusammen verbracht hatten, nicht geändert. Doch solange Ma gelebt hatte, gab es so etwas wie einen Zusammenhalt unter uns. Erst nach ihrem Tod hatten sich Novak und meine Stiefgeschwister von mir abgewandt und ließen mich bei jeder Gelegenheit spüren, dass ich kein echtes Familienmitglied war.
Ich setzte mich an den Tisch neben Bruno und verfolgte das Geschehen, unsicher, ob ich hierhergehörte. Aßen die Arbeiter immer im Haupthaus gemeinsam zu Mittag? Und – das Wichtigste – wie viel würde ich von meinem Lohn abgeben müssen, um diese Mahlzeit zu bezahlen? Ich rutschte unruhig auf dem Stuhl herum.
»Sitz still!«, schalt mich Bruno. »Oder willst du das Kissen durchscheuern?«
Ich schüttelte schnell den Kopf. Da fiel mir etwas – oder besser gesagt, jemand – auf: Genau gegenüber von mir saß der Junge, vor dem ich gestern nach unserm Beinahe-Zusammenstoß an der Haustür überstürzt geflohen war. Der Junge mit den grünen Augen! Hoffentlich konnte er sich nicht an unsere erste Begegnung am Prinzenchalet erinnern, wo ich ihn sekundenlang durch die Scheibe angestarrt hatte. Oder zumindest nicht an meinen langen Zopf … Mit unverhohlener Neugier sah er mich an. Sein Blick war mir unangenehm, weil ich bei jeder genaueren Betrachtung befürchtete, jemand könnte meine weiblichen Züge entdecken. Obwohl meine Figur sehr jungenhaft wirkte, hatte ich mir vorsorglich einen Verband um die Brust gewickelt, der mögliche Rundungen verbergen sollte.
Ich schaute nervös zwischen meiner Schüssel, die Mani, die Köchin, gerade mit dampfender Suppe füllte, und dem Jungen auf der anderen Seite hin und her. Seine Kleidung ließ, soweit ich es erkennen konnte, keine Rückschlüsse auf die Art seiner Anstellung zu – er trug einen dunkelblauen Strickpullover, der so weich aussah, dass ich am liebsten mit den Fingern über die Wolle gestrichen hätte. Bruno stieß mich von der Seite an, dass mir beinahe der Löffel in die Suppe gefallen wäre. Sein mahnender Gesichtsausdruck verriet, dass ich den Jungen zu lange angestarrt hatte. Du lieber Himmel, ich musste wirklich vorsichtiger sein!
Mit gesenktem Kopf versuchte ich den Rest der Mahlzeit über einfach nur, die heiße Brühe zu schlürfen. Es tat unheimlich gut, bei der Kälte draußen etwas Warmes in den Bauch zu bekommen. Hühnersuppe gab es bei uns zu Hause eher selten. Ich schlachtete grundsätzlich nur die alten Schneehennen, die zu schwach waren, um den Winter zu überstehen, und die schmeckten lange nicht so gut, weil sie nicht fett genug waren.
Noch einmal stieß Bruno mich an, aber diesmal schob er ein Brett mit einem dunklen Brotlaib zu mir herüber. Das Messer ließ die Kruste knacken, bevor es in dem weichen Brot versank. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, und ich konnte es einfach nicht ablehnen, obwohl ich bei jedem Bissen daran dachte, was ich dafür würde zahlen müssen.
Nur heute, beschloss ich. Ausnahmsweise.
Trotz meiner Vorsätze wanderte mein Blick immer wieder zu dem Jungen gegenüber, der sich so locker mit den anderen unterhielt, als würde er schon sein ganzes Leben lang hier arbeiten.
»Hey, Kuba, reitest du Laska heute Nachmittag noch?«, fragte ihn plötzlich ein dünner, langer Kerl, den ich aufgrund seiner weißen Kleidung eindeutig als Küchenjungen einsortierte. »Ich würde sie zu gerne noch mal rennen sehen.«
Mani, die neben ihm saß, stieß den Langen ebenso vorwurfsvoll an, wie Bruno es zuvor bei mir getan hatte. Er errötete, grinste aber. »Nach der Arbeit natürlich.«
»Ach, komm schon, Mani«, warf der Gefragte ein. »Ich helfe dir auch nachher noch beim Kartoffelnschälen, dann kannst du Patrik eine halbe Stunde Auszeit gönnen.« Sein Lächeln war entwaffnend.
Mani schmunzelte, aber Herr Kral am anderen Ende des Tisches räusperte sich. Sein strenger Blick war auf den Jungen mit den grünen Augen gerichtet und ich hielt gespannt die Luft an.
»Kuba, du weißt, was ich dir gesagt habe.« Die Stimme des Gutsherrn klang trotz der mahnenden Worte unerwartet weich.
»Sicher, Vater.« Ein Zwinkern stahl sich in die grünen Augen meines Gegenübers, und so langsam sickerte die Erkenntnis zu mir durch, dass er weder Stallbursche noch Küchenjunge sein konnte …