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Kapitel 5 Vorurteile

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Jakub Kral, genannt Kuba – ältester Sohn des Hofes, Anwärter auf den Prinzentitel und der höchstgehandelte Favorit des diesjährigen Eispferde-Rennens. Wieso war mir diese Verbindung nicht gleich aufgefallen? Ich musste den Löffel ablegen, um ein weiteres Mal zu verhindern, dass er in die Schüssel fiel.

Meine Gefühle hätten nicht widersprüchlicher sein können.

Einerseits hegte ich eine tiefe Abneigung gegen aufgeblasene Prinzenanwärter wie Jiri. Andererseits empfand ich so etwas wie Verehrung für Jakub Kral – er musste ein verdammt guter Reiter sein, wenn er als Favorit angepriesen wurde. Den Rest des Gesprächs bekam ich nicht mehr mit. Ich knabberte an meiner Brotkruste und versuchte, mich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Was mir jedoch nur mäßig gelang.

»Kein Wunder, dass du keine Muckis hast, wenn du wie ein Kaninchen an dem Brot herumnagst.«

Als ich ertappt aufsah, grinste Bruno. Doch zum Glück erhob sich Herr Kral in diesem Moment und verabschiedete sich. Wie auf ein Zeichen verstummten alle und stellten ihre Schüsseln zusammen. Es war ein seltsamer Ablauf auf dem Kralshof. Das Verhältnis zwischen dem Gutsherrn und seinen Leuten schien besonders zu sein, denn das Mittagessen hatte mich eher an die Tischrunde einer Großfamilie erinnert. Auch wenn Herr Kral auf den ersten Blick etwas mürrisch und streng wirkte, hatte ich soeben vielleicht seine gütige Seite kennengelernt – je nachdem, wie viel mich dieses Essen kosten würde. Das musste ich unbedingt in Erfahrung bringen.

Ich beeilte mich, noch vor Bruno zurück in den Stall zu kommen. Ein näheres Zusammentreffen mit Jakub Kral wollte ich vermeiden, obwohl ich meine Angst, dass er mich erkennen könnte, selbst lächerlich fand. Jemand wie er würde sich garantiert nicht an einen kurzen Augenblick am Fenster des Prinzenchalets erinnern! Der Sohn des Kralshofes hatte bestimmt jede Menge Verehrerinnen. In wenigen Wochen würde er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Prinzentitel verliehen bekommen, sein Name genoss ohnehin ein hohes Ansehen im Dorf, und er hatte genug Geld, um sich alles kaufen zu können, wovon er träumte. Ich war mir sicher, dass er wunschlos glücklich war und nicht über das Gesicht einer Unbekannten nachgrübelte.

Um nicht tatenlos herumzustehen, bis ich neue Anweisungen bekam, griff ich nach einem Besen und fegte die Heureste zusammen, die von der morgendlichen Fütterung zurückgeblieben waren. Als Bruno endlich auftauchte, hatte ich die Hälfte schon geschafft.

»Wenn du hier fertig bist, kannst du dir die Kammer ganz hinten links vornehmen. Das Sattelzeug muss geputzt werden. Ich stelle dir Seife und Lederfett bereit.«

Ich nickte. »In Ordnung.«

Insgeheim machte ich mir jedoch Sorgen. Wenn mein Job nur aus Misten, Fegen und Sättelputzen bestand, würde ich wohl nicht lange etwas zu tun haben und früher oder später wieder gefeuert werden – falls Herr Kral mich überhaupt einstellte. Denn obwohl niemand behaupten konnte, dass ich an meinem Probearbeitstag faul gewesen wäre, hatte ich doch Angst, dass sowohl Bruno als auch Herr Kral mir keine anderen Aufgaben zutrauten. Nur weil ich nicht so kräftig aussah, hieß das ja noch lange nicht, dass ich keine schwere Arbeit verrichten konnte. Ich musste dafür sorgen, dass ich es ihnen beweisen konnte!

Während ich gedankenverloren die Stallgasse fegte, sah ich, wie Jakub Kral eine der Boxen betrat. Schnell wandte ich mich ab und arbeitete mich in die entgegengesetzte Richtung bis zu Dalibor vor. Mein Pferd stand dösend in einer Ecke der Box und blinzelte mir entgegen. Ganz ohne Frage genoss er die Vorzüge des Kralshofes.

»Na, du Schlafmütze?« Ich grinste. »Gewöhn dich besser noch nicht zu schnell dran!«

»Ist er neu hier?«, fragte eine Stimme neben mir.

Ich drehte mich um und erschrak, als ich in zwei leuchtend grüne Augen blickte. Doch dann fiel mir auf, dass es gar nicht Jakub sein konnte, weil der Junge, der vor mir stand, mindestens zwei Köpfe kleiner als ich war. Ich hatte ihn vorhin beim Mittagessen nicht bemerkt. Er sah Jakub allerdings zum Verwechseln ähnlich und konnte demnach nur sein Bruder sein – obwohl seine Haare viel heller waren und in feinen Löckchen fast bis zu den Schultern fielen.

»Ja, Dalibor ist genauso neu hier wie ich«, antwortete ich.

»Ein sehr schönes Pferd.« Der Junge sah Dalibor prüfend an. »Endlich mal eines, das nicht bloß langweilig weiß ist.«

Ich lächelte. Die Augen eines Kindes kannten noch keine Vorurteile.

»Wie heißt du denn?«, fragte der Kleine weiter.

Erst jetzt fiel mir auf, dass sich bisher nicht einmal Herr Kral dafür interessiert hatte. Seltsam! Ich zögerte mit der Antwort. Konnte ich mich durch meinen wahren Namen verraten?

»Ash«, sagte ich schließlich. »Und du?« Mit klopfendem Herzen hielt ich ihm meine Faust entgegen – wie es die Jungs in der Schule immer gemacht hatten.

Ein breites Zahnlücken-Grinsen zeigte sich in dem kindlichen Gesicht, als der Kleine seine Faust gegen meine schlug. »Milan.« Er strahlte mich an. »Sind wir jetzt Freunde?«

Ich lächelte geheimnisvoll. »Wir mögen uns erst mal. Ob wir echte Freunde werden, die auch in schwierigen Situationen zusammenhalten, wird sich zeigen.«

Milan nickte nachdenklich.

»Jetzt muss ich aber meine Arbeit erledigen.« Ich boxte ihm sachte gegen die Schulter, bevor ich den Besen abstellte und mich auf den Weg in die Sattelkammer machte.

Auf einem kleinen Tisch stand ein Tiegel Seife, daneben lagen ein Schwamm und ein altes Küchenhandtuch. Ein Eimer mit frischem Wasser und eine Dose mit Lederfett waren auch da, außerdem jede Menge Lappen zum Abreiben.

Ich ließ meinen Blick durch den Raum wandern, der erfüllt von dem Geruch nach Leder und Pferden war. Mehrere teure Sättel hingen auf speziellen Vorrichtungen an den Wänden. Vorsichtig nahm ich den ersten herunter und legte ihn auf den Holzbock vor mir. Ich feuchtete eine Ecke des Küchenhandtuchs an und rieb damit über die harte Seife, bis kleine Schaumbläschen entstanden. Dann seifte ich das mattschwarze Leder ein, bis es feucht glänzte. Der Trick, damit das Leder schön weich blieb, war, die Seife nicht abzuspülen, sondern eintrocknen zu lassen.

Als ich den Sattel behutsam zurückhängte, fiel mein Blick durch ein schmales Fenster, das auf die Reitbahn hinaus zeigte. Mehrere Leute standen am Zaun, der die Strecke eingrenzte. Es war eher eine Rennbahn als ein Reitplatz – was ziemlich ungewöhnlich in unserer Gegend war. Das große Rennen war zwar eines der wichtigsten Ereignisse des Landes, aber nur wenige Gestüte verfügten über den Besitz und die finanziellen Möglichkeiten, das Training auf einer eigens dafür angelegten Bahn durchzuführen. Überhaupt gingen die Meinungen zum Training der Pferde stark auseinander, weil es im Grunde ja nicht auf reine Geschwindigkeit ankam. Ich selbst war der festen Überzeugung, dass nur die Kombination von Schnelligkeit und Ausdauer den Weg zum Ziel ebnete. Deshalb trainierte ich mit Dalibor nicht nur auf unserer Sprintstrecke, sondern auch in unwegsamem Gelände – im Bewusstsein, dass weder er noch ich je die Chance auf eine Teilnahme am Rennen haben würde. Trotzdem war ich heimlich stolz darauf, dass er womöglich eines der am besten trainierten Pferde des Landes war. Was für eine Ironie! Aber wer keine Träume hat, stirbt noch zu Lebzeiten, hatte Ma schließlich immer gesagt.

Ich hätte weiterarbeiten sollen, doch meine Neugier hielt mich zurück. Nur ganz kurz wollte ich sehen, worauf alle so gebannt warteten. Denn dass dort draußen gleich etwas Spannendes passieren würde, stand außer Frage. Sogar Bruno lehnte mit verschränkten Armen am Zaun und hatte offenbar jeglichen Arbeitseifer vergessen. Milan hockte auf einem der Zaunpfosten und auch Herr Kral stand in einiger Entfernung und beobachtete aufmerksam das Geschehen. Die anderen Leute kannte ich nicht, vielleicht irgendwelche Trainer, Bedienstete oder sogar Freunde der Familie.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Das Fenster war im oberen Drittel der Wand eingelassen, sodass gerade genug Licht in die Sattelkammer fiel – es war definitiv nicht wegen der guten Aussicht gebaut worden. Vorsichtig stützte ich mich an einer der Sattelhalterungen ab, um einen sicheren Stand zu haben. Und dann entdeckte ich ihn: Jakub Kral … beziehungsweise sein Pferd: eine wunderschöne reinweiße Schimmelstute, eines der schönsten Eispferde, die ich je gesehen hatte. Mit tänzelndem Schritt betrat es die Bahn. Ich hatte keine Ahnung, ob die Bewunderung der Umstehenden mehr dem Pferd oder mehr seinem Reiter galt. Ich jedenfalls konnte mich nicht entscheiden, wen ich in diesem Moment beeindruckender fand.

Ja, ich musste es vor mir selbst zugeben: Allein die Art, wie Jakub Kral im Sattel saß, gefiel mir. Er klebte förmlich auf dem Rücken der Stute und schwang bei jedem noch so ungestümen Sprung lässig mit. Seine Bewegungen gingen fließend in die Schritte des Pferdes über. Es war unverkennbar, dass sie gut zusammenpassten. Obwohl die Stute offenbar Temperament besaß, hielt Jakub die Zügel locker in den Händen. Immer wieder strich er ihr beruhigend über die Mähne, genau so, wie ich es bei Dalibor tat, wenn er mit seinen Gedanken wieder mal den Hufen drei Sprünge voraus war. Bruno schloss das Gatter der Rennbahn hinter der Stute und hob den Arm. In der anderen Hand hielt er eine Stoppuhr, wartete aber offenbar noch, bis der Reiter seine Startposition eingenommen hatte. Dann ließ er seinen Arm nach unten sausen, und ich konnte das Ticken des Zeigers förmlich hören, als die Stute ihren Körper streckte und pfeilschnell vorschoss. Kuba stand mit angewinkelten Knien in den Steigbügeln und hatte die Hände über dem Mähnenkamm vorgeschoben. Sein Körper schwebte perfekt ausbalanciert über dem Rücken der Stute, deren klar definierte Muskeln gleichmäßig arbeiteten. Mit aufgestellten Ohren flog sie über die Rennbahn, dass die feine Schneeschicht wie bei einem Wirbelsturm aufstob.

Ich musste an die Reiter von vorgestern Morgen denken, an Jiri und seine Angeberfreunde. Obwohl sich das Bild ähnelte, war das Zusammenspiel zwischen Pferd und Mensch völlig verschieden. Jakub Kral liebte seine Stute, das konnte ich sofort sehen. An diesem Ritt war nichts Dominantes oder Forderndes. Sie legten die Strecke gemeinsam zurück, vielleicht sogar – ich musste unwillkürlich lächeln – im Gleichtakt ihrer Herzen. Ganz anders als Jiri und seine Freunde.

Nach drei Runden schnellte Brunos Arm nach unten, er schrie Jakub etwas zu und alle applaudierten. Ich musste nicht hören, welche Zeit er genannt hatte, um zu wissen, dass sie gut war. Dieser Junge galt nicht umsonst als Favorit. Am langen Zügel ließ er die Stute noch eine Runde im Schritt gehen, während er ihr immer wieder lobend den Hals klopfte. Ich konnte meinen Blick nicht von den beiden losreißen.

Als ich hinter mir ein Geräusch hörte, fühlte ich mich ertappt und fuhr erschrocken herum. Dabei stieß ich gegen den Sattel neben mir, der bedrohlich zu schwanken begann. Mein verzweifelter Versuch, das teure Stück vor dem Absturz zu bewahren, scheiterte jedoch, und der Sattel landete auf der Erde. Als ich sah, wer mich so erschreckt hatte, wollte ich am liebsten selbst im Boden versinken: Niemand anders als Herr Kral. Ich spürte das Blut aus meinen Wangen weichen. Oh nein! Ausgerechnet die Bewunderung für seinen Sohn würde mich jetzt den Job kosten. Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst.

Herr Kral schwieg jedoch, bis ich mich zusammenriss und ihm ins Gesicht sah. Ich schluckte schwer und holte tief Luft. »Es tut mir leid«, sagte ich mit leiser Stimme. »Ich werde die Zeit heute Abend nachholen, genauso wie die Viertelstunde, die ich benötigt habe, um mein Pferd zu versorgen.« Nun senkte ich doch den Blick, weil ich fürchtete, die Verachtung in seinen Augen nicht ertragen zu können. »Ich … ich konnte mich von dem Anblick dieses Ritts einfach nicht losreißen.«

»Niemand kann das«, erwiderte Herr Kral knapp. Ich sah vorsichtig auf. Er lächelte nicht, aber sein Gesichtsausdruck wirkte auch nicht so finster, wie ich erwartet hatte. »Außerdem ist noch genug zu tun.« Er drehte sich um und ließ mich stehen – ziemlich verunsichert, was genau er mir hatte sagen wollen. War das nun gut oder schlecht?

Ich hob den Sattel auf und strich mit den Fingern über die Stelle, an der er den Boden gestreift hatte. Das Leder war ein winziges bisschen aufgeraut. Nicht viel, aber mit Sicherheit genug, um den Job gar nicht erst zu bekommen. Seufzend tunkte ich einen anderen Lappen in das Lederfett und rieb die raue Stelle dick ein. Ich wiederholte diesen Vorgang immer wieder und gefühlt hundert Mal, während ich die restlichen Sättel samt Gurten reinigte, die Satteldecken abbürstete, alles trocknen ließ und anschließend einfettete. Als ich mit allem fertig war, sah man zum Glück kaum noch etwas von der Abschürfung. Dass es draußen bereits zu dämmern begann, fiel mir erst auf, als ich den Lappen versehentlich wieder in die Seife tunkte.

»Ach, Mist«, murmelte ich und rieb mit meinem Ärmel den Schaum ab.

»Willst du dir noch ein Abendessen erschleichen oder hast du kein Zuhause?«, fragte Bruno hinter mir belustigt.

Ich wollte am liebsten beides mit Ja beantworten, schüttelte aber nur den Kopf. »Ich arbeite etwas länger, um die verlorene Zeit für die Versorgung meines Pferdes heute Morgen wieder aufzuholen, und …« Ich geriet ins Stottern. »… und als Ausgleich für das üppige Mittagessen, das ich mir nicht leisten kann«, endete ich leise. Dass Herr Kral mich dabei erwischt hatte, wie ich Jakub zugesehen hatte, statt zu arbeiten, verschwieg ich lieber.

Bruno sah mich erst lange an und ließ seinen Blick dann aufmerksam durch die Sattelkammer gleiten. »Hast du alle Sättel geputzt?« Seine Frage klang etwas misstrauisch.

Schon wieder wusste ich nicht, woran ich war. Empfand er die benötigte Zeit als zu lang, oder glaubte er mir schlichtweg nicht, dass ich es geschafft hatte, wirklich alle Sättel zu putzen?

»Ich bin gleich fertig«, sagte ich.

Bruno fixierte mich noch einen Moment. »Das Mittagessen auf dem Kralshof solltest du nicht ausschlagen.« Mit diesen Worten verließ er die Sattelkammer, ohne meine Arbeit weiter zu kommentieren.

Vor lauter Verwirrung hätte ich heulen können. Durfte ich morgen nun überhaupt wiederkommen?

Als wenig später erneut die Tür aufging, hätte ich am liebsten kapituliert, meine Sachen weggeräumt und Hals über Kopf den Hof verlassen. Stattdessen heftete ich meinen Blick verbissen auf die letzte Satteldecke, ließ mich nicht ablenken und bürstete energisch die Haare ab.

Ein leises Lachen erklang.

Ich sah überrascht auf. Jakub Kral stand vor mir und er schien irgendetwas sehr amüsant zu finden.

»Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so ernst bei der Sache ist.« In seinen Mundwinkeln zuckte es.

Ich sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Wie meinte er das? »Ich nehme meinen Job ernst, das ist alles«, erwiderte ich zögerlich.

Er nickte. »Gute Einstellung, aber ein bisschen Spaß bei der Arbeit ist auch nicht verkehrt, oder?«

Langsam lehnte ich mich zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Die Arbeit im Stall und bei den Pferden macht mir Spaß, aber deshalb muss ich doch nicht dauernd grinsen.« Zu spät bemerkte ich den frechen Unterton in meiner Stimme und hätte mir am liebsten in den Hintern gekniffen, um mich daran zu erinnern, dass der Sohn des Chefs vor mir stand.

Trotz des kleinen Seitenhiebs lachte er jetzt ganz offen. Er zog sich ebenfalls einen Holzbock heran und legte seinen Sattel ab. Ohne eine weitere Erklärung griff er sich einen der Lappen, tunkte ihn erst in Wasser, rieb dann über die Seife und begann, den Sattel zu putzen.

Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte. Arbeitete er immer zusammen mit den Stallburschen? Seine Nähe irritierte mich ebenso wie seine lockere Art. Erneut musste ich mir ins Bewusstsein rufen, dass er mich für einen Jungen hielt. Es war gar nicht nötig, ihm zu zeigen, dass ich mich nicht einschüchtern ließ – er hatte es offensichtlich gar nicht vor.

Eine Zeit lang arbeiteten wir schweigend vor uns hin. Mir fiel auch leider nichts ein, worüber ich mich mit Jakub Kral unterhalten sollte. Ich kannte mich weder mit typischen Jungsthemen aus, noch hatten wir irgendeine Gemeinsamkeit. Oder?

Unvermittelt sah er auf, sodass ich für einen Augenblick glaubte, die Frage laut gestellt zu haben. »Ich bin Kuba«, sagte er. »Und wie heißt du?«

Ich starrte ihn an.

»Du hast doch einen Namen, oder?«

Ich räusperte mich. »Ash.«

Jetzt grinste er wieder. »Stimmbruch ist echt scheiße.«

Sofort fühlte ich, wie mir die Hitze in die Wangen schoss. Stimmbruch? Jakub Kral hielt mich für einen Jungen im Stimmbruch? Was für eine grauenhafte Vorstellung!

»Mach dir nichts draus, der verschwindet genauso schnell, wie er gekommen ist. Wie alt bist du denn?«

Angestrengt versuchte ich, mich zu konzentrieren. Wie alt waren Jungs, wenn sie im Stimmbruch waren? Jünger als ich, nahm ich an. Zu jung durfte ich mich jedoch auch nicht geben, am Ende bekam ich die Stelle dann deshalb nicht. Wie immer, wenn ich ratlos war, drängte die Wahrheit an die Oberfläche.

»Sechzehn«, antwortete ich leise.

»Oh! Hast du noch vor dem großen Rennen Geburtstag?«

Verdattert nickte ich. Kuba grinste noch mehr. »Kein Grund, sich zu schämen, oder?«

Ich murmelte etwas Unverständliches und wandte mich wieder meinem Sattel zu.

Doch Kuba ließ nicht locker. »Kommst du jeden Morgen mit deinem Pferd?«, fragte er mich weiter aus.

»Falls ich in Zukunft jeden Morgen kommen sollte, werde ich immer hierher reiten, ja«, erwiderte ich leicht gereizt. »Du bist ja ziemlich neugierig.« Schon wieder konnte ich mir einen frechen Kommentar nicht verkneifen.

Er lachte. »Apropos: Wo wohnst du denn?«

»Auf dem Sturmhof.«

Beinahe hätte ich mir die Hand vor den Mund geschlagen, aber die Antwort war heraus, bevor ich darüber nachdenken konnte. Kannte er Jiri näher? Wenn er ihn nach mir fragte, würde meine Lüge in kürzester Zeit auffliegen.

»Ist das weit?«

An meiner Antwort schien Kuba zum Glück nichts aufgefallen zu sein. Trotzdem musste ich eine Möglichkeit finden, diesem Verhör zu entgehen. Wenn er mich weiter so ausquetschte, würde es extrem anstrengend werden.

Die Tür ging auf. »Der Chef will dich sehen.« Bruno stand mit verschränkten Armen in der Sattelkammer.

»Mach ihm doch nicht solche Angst!« Kuba warf einen Lappen nach dem Stallburschen, der ihn geschickt auffing und mit einem Grinsen wieder zurückschleuderte.

Ich legte ordentlich meine Sachen beiseite und folgte Bruno hinaus.

»Du weißt ja, wo es langgeht.«

Er ließ mich stehen, ohne nähere Erklärungen abzugeben. Mit hängendem Kopf wanderte ich hinüber zum Haupthaus. Mani öffnete mir wieder die Tür, und ihr prüfender Blick trug nicht gerade dazu bei, dass ich mich besser fühlte.

»Herr Kral wartet schon.«

Ich nickte stumm und ging den Flur hinunter. Je näher ich Herrn Krals Arbeitszimmer kam, desto schlechter fühlte ich mich. Es hing so viel daran, ob ich diesen Job bekommen würde oder nicht. Und seltsamerweise kam mir dabei nicht nur die Notwendigkeit des Geldverdienens in den Sinn. Die Art von Gemeinsamkeit, Zusammenhalt und Familienleben, die mir hier begegnet war, hatte ich seit Mas Tod nicht mehr erlebt. Mir war bis heute nicht bewusst gewesen, wie sehr mir all das gefehlt hatte. Der Tag auf dem Kralshof hatte ungeahnte Wünsche geweckt. Und ganz nebenbei hätte ich zu gern mehr Zeit gehabt, um Kuba näher kennenzulernen … Mit zusammengebissenen Zähnen klopfte ich an die Tür. Ich musste mich zusammenreißen, falls Herr Kral mich rausschmiss. Auf gar keinen Fall durfte ich anfangen zu weinen – das würde wirklich zu sehr nach Mädchen aussehen.

»Herein«, dröhnte es von der anderen Seite der Tür.

Meine Hand lag zittrig auf der Türklinke, und ich wagte nicht, sie herunterzudrücken. Ein Feigling zu sein war allerdings noch erbärmlicher als ein Versager. Also trat ich ein. Herr Kral erhob sich und kam auf mich zu. Meine Knie fühlten sich an wie Pudding, und alles, woran ich denken konnte, war, dass ich Dalibor verlieren würde, wenn ich diesen Job nicht bekam.

»Wie schätzt du deine Arbeit ein?«, fragte Herr Kral zu meiner Überraschung.

Ich zögerte. Das war eine Fangfrage.

In Gedanken sah ich Mas strengen Gesichtsausdruck vor mir, wenn ich meine Leistung nicht ehrlich beurteilte. »Ich habe zu spät angefangen, weil ich noch mein Pferd versorgen musste, und mir ist ein Sattel heruntergefallen.« Ich schluckte. »Aber ich habe die Zeit nachgearbeitet. Ich bin fleißig und bereit, Überstunden zu machen. Es gibt sicher größere und kräftigere Stallburschen, aber niemanden, der seine Arbeit so ernst nimmt wie ich. Außerdem brauche ich diesen Job und ich kann gut mit Pferden umgehen … deshalb werden Sie niemand Besseren finden als mich.« Ich holte tief Luft. »Ich verzichte auch auf das Mittagessen, weil ich mir das nicht leisten kann.«

Nur die kleinen Lachfältchen um die Augen des Gutsherrn zeigten eine winzige Regung, ansonsten blieb sein Gesicht nahezu ausdruckslos. Er sah mich einen endlos langen Moment an, und ich glaubte schon, dass er meine Täuschung entlarvt hätte; doch dann nickte er.

»Wie ist dein Name?«

»Ash Valenta.«

»Ich kann Selbstüberschätzung nicht ausstehen, Ash«, sagte er kühl.

Mein Herz sackte ab.

»Aber ich stimme dir in fast allen Punkten zu. Ab morgen erwarte ich dich jeden Tag pünktlich um sieben. Die Zeit, um dein Pferd zu versorgen, hängst du abends dran, und am Ende des Monats erhältst du deinen Lohn im Wert von einem Ballen Heu. Auf das Mittagessen verzichtet allerdings keiner meiner Angestellten. Ich kann es mir nämlich nicht leisten, dass jemand bei der Arbeit umfällt, und deshalb gehört es für alle mit zum Lohn.« Er streckte seine Hand aus und wartete, dass ich einschlug.

Mir blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Aber ich schlug ein.

Als ich endlich meine Sprache wiederfand, klang mein leises »Danke« wie das Piepsen eines verschreckten Vogels. Herr Kral nickte und wandte sich ab, doch ich konnte noch sehen, wie ein Lächeln um seine Mundwinkel huschte. Vermutlich aus Mitleid, weil auch er annahm, dass ich im Stimmbruch war – offenbar ein Punkt, der unter Männern für Sympathie sorgte. Vielleicht hatte mir mein Dasein als Mädchen insofern ausnahmsweise einmal Glück gebracht …


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