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Kapitel 3

Immergrün

Vorsichtig öffnete ich Jiris Zimmertür und schlich zu seinem Schrank. Zum Glück wusste ich genau, dass das linke Scharnier beim Öffnen quietschte und an welcher Stelle die Dielen knarzten – das war der Vorteil davon, dass ich die gesamte Hausarbeit allein erledigte. Aber den regelmäßigen Atemzügen nach zu urteilen, schlief mein Stiefbruder ohnehin tief und fest. Ganz behutsam zog ich an dem Griff und öffnete so langsam wie möglich den Kleiderschrank. Ich suchte mir einen dunkelgrünen Thermopullover und eine schwarze Mütze heraus, die Jiri von Novak bekommen hatte, aber nie trug.

Nicht, dass meine übliche Kleidung besonders mädchenhaft gewesen wäre, aber ich wollte sichergehen, dass ich kein Detail übersehen hatte und man mich an meinem Outfit nicht erkennen konnte. Meine alten Hosen würden mich ebenfalls nicht verraten, und in der Waschkammer hatte ich ein paar ausrangierte Stiefel und eine Winterjacke von Jiri gefunden, die ihm längst zu klein geworden waren.

Mit klopfendem Herzen schloss ich die Schranktür und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer. Die Sonne war gerade hinter den Bergen aufgegangen, aber ich brauchte nicht zu befürchten, dass Novak mir über den Weg laufen würde. Er wusste, dass ich mich um die Pferde kümmerte und es für ihn keinen Grund gab, früh aufzustehen. Er würde sich erst wundern, wenn er in die Küche kam. Ich hatte meine Arbeiten für diesen Tag bereits in aller Frühe erledigt, damit mir niemand etwas vorwerfen konnte, falls ich später als geplant nach Hause kam.

Ich zog Jiris Sachen über, steckte Mas Reithandschuhe ein und ein Stück Brot vom Vortag als Proviant und verließ so leise wie möglich das Haus.

Im Stall schlug mir der vertraute Geruch nach Heu und Pferden entgegen. Ich verteilte die morgendlichen Rationen und sah zu, wie Dalibor auf seinem Frühstück kaute.

»Es hört sich zwar verrückt an«, murmelte ich, während ich mit den Fingern durch sein Fell fuhr, »aber weißt du, jede ungenutzte Möglichkeit ist ein Schritt in die falsche Richtung.« Das hätte Ma zumindest behauptet.

Ich erinnerte mich an den Tag, als ich sie gefragt hatte, wann ich endlich mit Dalibor beim großen Rennen starten dürfte. Er war drei Jahre alt gewesen und ich gerade mal acht. Jiri hatte mich später ausgelacht und erklärt, dass Mädchen gar nicht zum Rennen zugelassen würden. Ma aber hatte gelächelt und mein Gesicht in beide Hände genommen.

»Glaube nur fest daran, dass sich Träume erfüllen können«, hatte sie gesagt. »Wenn das Feuer in deinem Herzen heiß genug brennt, wird es dir jeden Weg ebnen, den du gehen willst.« Sie tippte mir gegen die Brust. »Genau diese Kraft hat auch das Schneefeuer, und deshalb brechen die Prinzen jedes Jahr auf, um die lange Reise bis ins Tal des Frühlings anzutreten.« Eine Träne glitzerte in ihrem Augenwinkel. »So beschwerlich sie auch ist, versuchen sie es immer wieder aufs Neue – so wie dein Vater es vorhatte. Es ist ein tragisches Unglück, wenn man schon auf dem Weg zur Erfüllung seiner Träume ums Leben kommt. Aber ohne Träume fängt man gar nicht erst an zu leben.« Sie hatte mich fest in den Arm genommen, und ich wusste, dass Pa stolz auf sie gewesen wäre.

Wieder fiel mein Blick auf das kleine Stallfenster über Dalibors Box. Mein Spiegelbild sah mich neugierig an, obwohl ich mich eigentlich kaum verändert hatte. Unter Jiris Mütze kam ein Stück von meinem Zopf zum Vorschein. Der einzige Unterschied war, dass ich ihn mit einem Clip befestigt hatte – für den Fall, dass mich unterwegs jemand erkannte. Sicherheitshalber tastete ich noch einmal nach dem gefalteten Zeitungsausschnitt in meiner Hosentasche. Er war noch da. Ich musste mich gar nicht erst kneifen, um mich zu vergewissern, dass ich nicht träumte.


Schon von Weitem erkannte ich das Haus von dem Foto. Die weiße Farbe fügte sich harmonisch in die Landschaft. Feine Schneewehen zogen sich über das Dach und ließen nur vereinzelt rote Ziegel durchblitzen. Das Gebäude war beeindruckend groß, und ich fragte mich, wie viele Angestellte dort wohnen mochten.

Der Kralshof lag wie der Sturmhof abseits des Dorfes, was mit Sicherheit die einzige Gemeinsamkeit war. Die hohen Fenster erinnerten eher an den Saal des Rathauses, in dem der jährliche Prinzenball stattfand, und die großzügigen Stallungen waren mit nichts zu vergleichen, das ich bisher gesehen hatte. Die Pferde mussten sich hier so wohlfühlen, dass sie sich vermutlich sogar freiwillig einquartiert hätten.

Ich hielt den Schlitten an und versank in ehrfurchtsvollem Staunen. Neben dem Hauptgebäude gehörten zwei kleinere Anbauten zu dem Gutshof der Krals. Das Anwesen war noch viel imposanter, als ich es mir vorgestellt hatte. Am schönsten allerdings fand ich die vielen liebevollen Details: Kleine Sprossenfenster in derselben karminroten Farbe wie das Dach ermöglichten den Ausblick aus dem Stall. Eine schmiedeeiserne Darstellung eines Schlittengespanns zierte das Stalltor. Und über dem Eingangsportal des Haupthauses war eine riesige Uhr in der Wand eingelassen, deren Zeiger ebenfalls aus kleinen Pferden bestanden. Ich hatte noch nie einen hübscheren Hof gesehen. Ich war geradezu verliebt – vom ersten Augenblick an.

Mit einer Hand schob ich mir die Mütze vom Kopf und löste mit der anderen den Clip. Ich ließ den Zopf in meiner Jackentasche verschwinden. Dann strubbelte ich mir einmal durch die Haare, bevor ich die Mütze wieder aufsetzte und tief in die Stirn zog. Ma hatte mir immer versichert, wie besonders schön meine langen Haare waren, und ich hätte nie gedacht, dass ich sie jemals abschneiden würde. Aber in diesem Moment bereute ich gar nichts. Ich musste diese Stelle haben. Um jeden Preis der Welt.

Sachte schwang ich die Zügel und schnalzte Lancelot zu. Der Rest des Weges verging beinahe zu schnell. Zu gerne wäre ich noch einmal in Gedanken durchgegangen, was ich sagen wollte, um mich vorzustellen, da stand ich schon vor dem Haupteingang. Als ich den schweren Messingring umfasste und an der Tür klopfte, zitterten meine Finger ein wenig. Es dauerte nicht lange, bis die Tür aufschwang und eine rundliche kleine Frau erschien. »Ja, bitte?«

Ich räusperte mich, um meine Stimme etwas tiefer klingen zu lassen. »Ähem, ich möchte mich auf die Stallburschenstelle bewerben.« Meine Worte erschienen mir besonders piepsig und ich wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken.

Die Frau runzelte kurz die Stirn, lächelte aber freundlich. »Soso«, sagte sie und sah mich interessiert an.

Ich glaubte meine Tarnung schon verloren, doch sie öffnete die Tür weiter und bat mich herein. Sie trug eine weiße Schürze, die mit etlichen kleinen Flecken übersät war. Die Hausherrin – falls es überhaupt eine gab – war sie garantiert nicht.

»Ich werde Herrn Kral Bescheid geben. Warte hier!« Sie drehte sich um, ging den Flur hinunter und verschwand hinter einer der Türen.

Ich trat nervös von einem Fuß auf den anderen, während ich mich umsah. Der alte Holzboden war an einigen Stellen bereits abgewetzt, aber die hohen Decken ließen den langen Flur dennoch herrschaftlich wirken. Ölgemälde von Pferden in unterschiedlichen Jahreszeiten hingen an den Wänden. Fasziniert schaute ich mir die Bilder an. Im Sommer hatte der Maler die Bäume und Sträucher mit saftigen grünen Blättern gefüllt, sodass man keinen Ast mehr erkennen konnte, und das Gewicht der reifen Erntefrüchte zog die Zweige bis zum Boden. Der Herbst hingegen erstrahlte in allen Gold- und Rottönen, die die Farbpalette zu bieten hatte. Mit der Realität, die ich kannte, hatten diese Darstellungen nichts gemein. Solange ich zurückdenken konnte, war schon der Frühling ein Ereignis. Der Sommer hielt kaum Einzug, dann fielen die ersten Blätter bereits zu Boden. Und noch bevor der Wald in bunten Farben erstrahlen konnte, bedeckte der Schnee wieder die Bäume.

»Herr Kral möchte dich sehen«, riss mich die Stimme der Frau aus meinen Betrachtungen.

Ihre Worte hallten wie ein Echo in meinen Ohren, während ich in ihre Richtung ging. Obwohl sie mich aufmunternd anlächelte, sackte mein Mut mit jedem Schritt eine Etage tiefer.

»Keine Angst. Er knurrt manchmal, aber er beißt nicht«, sagte sie leise, als ich an ihr vorbei ins Zimmer trat. Ich lächelte dankbar und sie zwinkerte mir zu.

Hinter einem wuchtigen dunklen Eichenschreibtisch saß ein grauhaariger Mann mit kurz geschorenem Bart. Ich erkannte ihn sofort von dem Foto aus der Zeitung wieder. Seine eindrucksvolle Erscheinung vereinnahmte den ganzen Raum.

»Na, mein Junge«, sagte er in etwas barschem Ton, doch um seine Augen herum konnte ich winzige Fältchen entdecken, die darauf hindeuteten, dass er in seinem bisherigen Leben das ein oder andere Mal gelacht hatte. Ich versuchte, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen. »Du willst also als Stallbursche arbeiten?« Seine Frage klang belustigt.

»Ja, Herr Kral.« Ich bemühte mich, eine gerade Haltung einzunehmen, damit ich etwas größer wirkte. Mir war klar, dass ich nicht durch meine Statur punkten würde. Seinem Blick nach zu urteilen, konnte Herr Kral sich nicht einmal vorstellen, dass ich überhaupt eine Heugabel halten konnte.

Einen endlosen Moment lang schaute er mich nur an. Seine Augen hatten eine unergründliche dunkelbraune Farbe. Doch ich hielt seinem prüfenden Blick stand. Diese Masche hatte Novak schon etliche Male angewendet, mit reinem Niederstarren konnte mich niemand einschüchtern.

»Ich kann zur Probe arbeiten«, schlug ich vor.

Seine dichten Brauen zogen sich kaum merklich zusammen, es entging mir dennoch nicht. Er strich sich mit dem Zeigefinger über den Bart, als müsste er über meinen Vorschlag nachdenken. »Es ist so«, sagte er schließlich. »Außer dir haben sich noch ein paar andere Bewerber gemeldet …« Mein Herz klopfte gespannt. »… ihre Gehaltsvorstellungen hatten allerdings wenig mit ihrer Arbeitsleistung gemein. Probe arbeiten wollte keiner von ihnen.« Er kreuzte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. »Wie hoch ist dein Gehaltswunsch?«, fragte er.

Hervorragend, dachte ich – denn darüber hatte ich mir in meiner Aufregung keine Gedanken gemacht. Ich rief mich zur Ruhe. Ma hatte mir immer geraten, ehrlich zu sein, und wenn ich mein Arbeitsverhältnis schon mit der größten Lüge aller Zeiten begann, sollte der Rest wenigstens der Wahrheit entsprechen, fand ich.

»Ich brauche pro Monat so viel, wie ein Ballen Heu kostet«, antwortete ich mit fester Stimme. So sehr ich diesen Job brauchte, daran gab es nichts zu verhandeln.

Herr Kral sah mich aufmerksam an.

»Nicht mehr und nicht weniger«, fügte ich etwas leiser hinzu.

Herr Kral erhob sich abrupt und ging zur Tür. Mein Herz sackte mir in die Hose. Jetzt hatte ich verloren!

Mit unbewegter Miene drehte sich der Gutsherr zu mir um und hielt mir die Tür auf. »Morgen früh um sieben Uhr zum Probearbeiten.«

Ich starrte ihn einen Augenblick lang ungläubig an, bevor der Sinn seiner Worte zu mir durchdrang. Dann nickte ich schnell. »Vielen Dank!«

Obwohl ich mich enorm bremsen musste, um nicht laut aufzujauchzen, ließ ich mir nichts anmerken. Lange würde ich mich jedoch nicht zurückhalten können. Ich hatte es geschafft! Zumindest den ersten Schritt. Natürlich war es ein Test, aber ich würde alles daransetzen, um ihn zu bestehen!

Meine Füße kribbelten, während ich den langen Gang hinunterging. Als ich hörte, wie sich die Tür hinter mir schloss, begann ich zu laufen. Ich konnte es kaum erwarten, ins Freie zu kommen. Schwungvoll riss ich die Eingangstür auf – und wäre fast mit jemandem zusammengestoßen. Nur wenige Zentimeter vor dem Gesicht meines Gegenübers bremste ich ab und blickte in zwei seltsam vertraute grüne Augen.

Schneefeuer

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