Читать книгу Das Zeichen der Eriny - Lara Elaina Whitman - Страница 7
Verschwunden
ОглавлениеNachdem ich vergebens versucht hatte Thomy ans Telefon zu bekommen oder eine E-Mail-Antwort zu erhalten, gab ich es schließlich auf und ging ins Bett. Die Nacht war ziemlich unruhig, voller Alpträume, in denen Stimmen nach mir riefen und ständig irgendetwas um mich herumschnüffelte. Schweißgebadet wachte ich schließlich morgens auf und fühlte mich, als hätte ich einen Marathon gelaufen. Nach dem Frühstück versuchte ich es noch einmal bei Thomy. Was war nur mit ihm los? Das mit dem Handy verstand ich ja noch. Er vergaß manchmal den Akku aufzuladen, aber keine Antwort auf meine E-Mails war ungewöhnlich. Dummerweise hatte ich heute keine Zeit bei ihm vorbeizugehen. Ich musste mit meiner Mutter zum Einkaufen und danach auf die Firmenfeier. Also mühte ich mich im Bad damit ab einhändig meine Haare zu stylen, was mir leidlich gelang. Meine Mutter wollte, dass ich ein Kleid anzog. Etwas das ich wirklich gar nicht ausstehen konnte. Ich trug lieber Hosen und Sweatshirts. In einem Kleid fühlte ich mich immer so, als wäre ich falsch angezogen. Letztendlich stimmte das ja auch. Warum konnte ich nicht meinen schwarzen Overall anziehen? Der sah doch genauso gut aus wie ein Kleid. Missmutig betrachtete ich das weiße Sommerkleid, das mir meine Mutter letzte Woche gekauft hatte. War es nicht an der Zeit, dass ich selbst entschied, was ich tragen wollte? Kurzentschlossen zog ich meinen Overall an, egal was meine Mutter wollte, steckte meine Haare im Nacken zusammen und legte Make Up auf, etwas das ich sonst nie tat. Mit dem Ergebnis war ich ziemlich zufrieden. Ich fand, dass das gut aussah. Auf meine Verbrennung klebte ich ein frisches großes Pflaster. Meine Hand schmerzte höllisch, trotzdem lief ich einigermaßen gut gelaunt die Treppe hinunter. Meine Mutter war in der Küche und tuschelte leise mit meiner Großmutter. Sie verstummten, als ich hereinkam. Fragend sah ich sie an, aber sie grinsten nur verschwörerisch. Die führten doch etwas im Schilde!
»Was ist los?«, wollte ich wissen.
Meine Mutter lachte nur und zwinkerte meiner Großmutter zu, dann zog sie mich am Arm aus der Küche hinaus. »Komm, wir gehen einkaufen. Warum hast du das Sommerkleid nicht angezogen? Das steht dir doch ausgezeichnet?«
Ich rollte mit den Augen. Was meine Mutter unter ausgezeichnet verstand! »Maman, ich sehe aus wie eine Vogelscheuche darin. Ein weißes Kleid bei meiner hellen Haut? Das geht gar nicht.«
»Na, so hell ist deine Haut auch wieder nicht. Geh mehr an die Sonne, dann bist du auch nicht so blass. Als kleines Kind warst du immer schön braun«, sagte sie leicht genervt. Das Thema war ein rotes Tuch zwischen uns.
Trotzdem widersprach ich ihr, »ja und das ist ungesund. Du weißt, dass mein Hauttyp keine Sonne abbekommen soll.«
»Niemand erwartet, dass du dich grillen sollst, aber ein wenig mehr Luft und Licht würden dir gut tun. Du siehst müde aus. Hast du nicht geschlafen?« Misstrauisch beäugte sie die dunklen Schatten unter meinen Augen.
»Ich habe schlecht geschlafen«, fast hätte ich gesagt vor Sorge um Thomy. Ich konnte es mir gerade noch so verkneifen. Meine Hände versteckte ich hinter meinem Rücken, damit sie das Pflaster nicht sah, das ich auf meine verbrannte Hand geklebt hatte. Nachher war sie vielleicht zu abgelenkt und würde nicht mehr darauf achten, wenn ich Glück hatte. »Lass uns gehen, Maman. Was müssen wir überhaupt einkaufen?«
»Ein paar Kleinigkeiten, dies und das«, sagte sie ausweichend.
Eine seltsame Antwort war das, aber ich zuckte nur mit den Schultern und folgte ihr in die Garage.
Zwei Stunden später hatten wir gefühlte zwanzig Kaufhäuser abgeklappert. Meine Mutter wollte Schuhe kaufen. Für sich und für mich! Im Gegensatz zu mir liebte sie Schuhe und konnte sich nicht entscheiden, welches Paar sie nehmen sollte. Ich dagegen fand das ziemlich einfach. Ich mochte sowieso nur Sportschuhe, aber sie bestand darauf, dass ich mir Sandalen kaufte, die zu dem Kleid passen sollten. Mir schwante Übles und ich sollte Recht behalten. Nachdem wir noch Lebensmittel eingekauft hatten, fuhren wir nach Hause zurück.
»Wir müssen um drei in der Cafeteria der Klinik sein. Ich möchte, dass du das weiße Kleid anziehst«, sagte sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.
Ich schluckte meine Widerworte hinunter, die mir schon auf der Zunge lagen. Wenn sie in diesem Ton mit mir sprach, hatte ich sowieso keine Chance, aber ich nahm mir vor, dass das ab morgen anders werden sollte. Da war mein sechzehnter Geburtstag und die Gängelei musste ein Ende haben.
Der Tag ging so weiter, wie ich mir das gedacht hatte. Die Party war langweilig, da die meisten der Gäste entweder noch sehr klein waren oder schon jenseits eines Alters, das mich interessiert hätte. So stand ich mehr oder weniger höflich lächelnd in der Gegend herum und dachte über das gestrige Ereignis nach. Langsam bekam ich das Gefühl, dass ich einer Halluzination aufgesessen war. Es war einfach unmöglich in einem Computer zu verschwinden und auf einer Wiese wieder aufzutauchen. Mein Bedürfnis mit Thomy zu reden wuchs mit jeder Minute, aber er ging einfach nicht ans Telefon. Ich begann mir große Sorgen zu machen und hoffte, dass wir bald nach Hause gehen konnten. Leider wurde es zehn Uhr abends, bis mein Vater endlich beschloss, dass er genug mit all den Leuten gesprochen hatte, mit denen er reden wollte. Ich gähnte hinter vorgehaltener Hand, denn ich war unendlich müde. Außerdem hatte ich Kopfschmerzen, was ich sonst nie hatte. Ohne Thomy erreicht zu haben, fiel ich ins Bett.
Ein grässlicher Schrei weckte mich am Sonntagmorgen. Erschrocken fuhr ich hoch und sprang mit einem Satz aus dem Bett. Verwirrt blickte ich mich um, konnte aber nicht feststellen, woher der Schrei gekommen war. Vielleicht hatte ich das nur geträumt?
Ein Klopfen an der Zimmertür ließ mich herumfahren.
»Sarah, bist du schon wach?«, rief meine Mutter von draußen.
»Ja, Maman. Komm herein.« Irgendwie war ich froh, dass sie da war. Ich konnte nicht genau sagen warum, aber der Schrei hatte mir mehr Angst eingejagt, als ich zugeben wollte.
Meine Mutter steckte den Kopf durch die Tür. Sie lächelte freundlich. »Kommst du herunter? Ich habe Frühstück für dich gemacht.«
»Ja, bin gleich da«, murmelte ich. Das war jetzt noch unheimlicher. Meine Mutter hatte von dem Schrei nichts mitbekommen, sonst hätte sie bestimmt etwas gesagt. Also doch ein Albtraum. Allerdings hatte ich noch nie in meinem Leben welche gehabt, noch dazu solche, die sich so real anfühlten. Ich versuchte das gruselige Gefühl abzuschütteln und stieg unter die Dusche. Danach ging es mir ein wenig besser, so als hätte ich meine Ängste mit dem Seifenwasser fortgespült. Mit meinem Tablet durchsuchte ich meine Mails. Es gab ein paar Nachrichten von Maiwenn, meiner engsten Freundin in Carnac, aber kein Lebenszeichen von Thomy. Nachdenklich ging ich die Treppe hinunter. Meine Großmutter, mein Vater und meine Mutter standen in der Küche, wie ein Empfangskomitee für irgendeine bedeutende Persönlichkeit. Sie stimmten ein Geburtstagslied an und ich wurde mit Glückwünschen und Küssen überschüttet. Dann verband mir meine Mutter mit einem ihrer teuren Seidenschals die Augen und führte mich hinüber ins Esszimmer. Erwartungsvoll blickte sie mich an, nachdem sie mir das Tuch abgenommen hatte. Auf dem Tisch stand eine riesige Pfirsichsahnetorte, die ich besonders gerne mochte. Alles war liebevoll gedeckt, mit allen erdenklichen französischen Leckereien. Wann immer sie das gekocht und gebacken hatte, ich hatte nichts davon mitbekommen. Es war so viel, dass wir bestimmt eine Woche lang nichts anderes essen würden. Glücklich inspizierte ich die zahlreichen kleinen Pasteten, Kuchen, Pain au Chocolat und vergaß darüber sogar kurzzeitig meine Sorge um Thomy und meine pochend schmerzende Hand. Meine Mutter zündete die Kerzen auf der Torte an, sechzehn Stück, und ich durfte sie ausblasen. Stumm wünschte ich mir, dass es Thomy gut ging.
»Maman, Papa, Oma, das ist so schön. Vielen Dank.« Ich fiel meiner Mutter gerührt um den Hals. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben.
»Wir haben noch etwas für dich!«, sagte mein Vater mit wichtiger Miene, nachdem ich alle ausgiebig an mich gedrückt hatte. Er drehte mich an den Schultern um und führte mich ins Wohnzimmer hinüber. Dort stand eine riesige Schachtel, verpackt in wunderschönes Geburtstagspapier mit kleinen Einhörnern darauf und einer riesigen rosa Schleife. Kurz runzelte ich die Stirn. War das Papier nicht schon ein wenig zu kindisch für mich?
»Pack es aus!«, rief meine Mutter ungeduldig.
Zögernd trat ich näher. Die Schachtel war schon sehr groß. Was wohl darin war? Ich hoffte inständig dass nichts darin war, das der Altersstufe des Geschenkpapiers entsprach. Nachdem ich Schleife und Papier sorgfältig entfernt hatte, stockte mir der Atem. Ich traute meinen Augen kaum. Meine Eltern hatten mir einen Gamer-PC gekauft. Auf den ersten Blick sah ich, dass die Ausstattung vom Feinsten war. Ich kannte das Modell. Es war das, das ich mir auch gekauft hätte. Sprachlos stand ich da und starrte meine Eltern an. Die beiden freuten sich offenbar diebisch über ihre gelungene Überraschung und die Freude, die sie mir gemacht hatten. Ich hatte die besten Eltern der Welt. Eine Träne rollte aus meinem Augenwinkel und ich warf mich in die Arme meines Vaters und meiner Mutter.
Nach dem Frühstück half mir mein Vater den PC nach oben zu tragen. Er wollte mir beim installieren helfen, aber ich schob ihn mit Nachdruck aus dem Zimmer.
»Papa, ich glaube das kann ich auch alleine«, sagte ich, was auch den Tatsachen entsprach. Das erste was ich einrichten würde, war ein Passwort, damit meine Eltern nicht mehr an meinen PC konnten.
Es dauerte geschlagene zwei Stunden, bis ich alles installiert hatte, meinen E-Mail-Account angelegt hatte und alles andere, was ich so benötigte. Thomy hatte sich immer noch nicht gemeldet. Nach dem Mittagessen würde ich bei ihm vorbeifahren, obwohl ich mich mittlerweile ein wenig krank fühlte. Wäre heute nicht mein Geburtstag gewesen, hätte ich mich vermutlich ins Bett gelegt, aber Thomy hatte bis jetzt noch keinen Geburtstag von mir vergessen. Ich war mir sicher, dass etwas passiert war. Meine Unruhe wuchs mit jeder Minute die verging. Meinen alten PC packte ich in den leeren Karton und schob ihn unter den Schreibtisch. Bis ich nicht mit Thomy gesprochen hatte, würde ich den nicht mehr anfassen. Ich musste noch die Festplatte ausbauen, da dort meine persönlichen Daten drauf waren. Die wollte ich nicht mit entsorgen.
Nach dem Mittagessen ging mein Vater in die Klinik. Er hatte Wochenenddienst. Ich half meiner Mutter die Küche aufzuräumen, obwohl ich heute davon eigentlich befreit war.
»Du musst mir nicht helfen, Sarah. Heute nicht!«, sagte meine Mutter und versuchte mich zur Tür hinaus zu schieben.
»Schon ok. Kein Problem. Ich mach´ das gerne«, wehrte ich ab.
»Sollen wir etwas unternehmen oder willst du lieber deinen PC ausprobieren?«, fragte sie mich, während sie die Spülmaschine ausräumte.
Ich schüttelte den Kopf. »Weder noch, Maman. Thomy hat sich nicht gemeldet. Ich werde kurz zu ihm hinüber radeln, wenn das für dich ok ist.«
Meine Mutter machte ein fragendes Gesicht. »Ist etwas passiert?«
»Keine Ahnung. Bestimmt ist alles ganz harmlos«, wiegelte ich ab, aber das ungute Gefühl verstärkte sich noch ein wenig mehr in mir.
»Geh ruhig. Ich mach das alleine fertig.« Sie schaffte es endlich mich zur Küchentür hinauszuschieben.
Ich ging in die Garage und holte mein Fahrrad heraus. Es war nicht weit nach Stetten. Thomys Mutter hatte ein Reihenhaus direkt am Waldrand. Ich musste nur den Fesslerweg und den Mittleren Birkenweg entlang radeln, der durch den Wald von Filderstadt-Plattenhardt nach Stetten führte. Die Sonne glitzerte auf den nassen Blättern und die Vögel zwitscherten um die Wette. Es war ziemlich warm für Ende April. Ich brauchte nicht einmal eine Jacke. Meine Unruhe ließ mich förmlich über den Waldweg fliegen, als ich plötzlich aus dem Augenwinkel einen Schatten vorbeihuschen sah, etwas weiter drinnen im Wald. Irritiert bremste ich und blieb stehen, ein Bein auf einem Pedal, das andere auf dem Boden. Ich sah mich gehetzt um.
»Was war das denn gerade?«, fragte ich mich mit klopfendem Herzen. Etwa ein Reh? Ich war schon fast einmal mit einem zusammengestoßen, das vor irgendetwas geflüchtet war und direkt vor mir den Weg überquert hatte. Ein hüstelndes Schnattern drang aus dem dunklen Dickicht links des Weges zu mir heraus. Das Dickicht reichte bis hinunter an den kleinen Bärensee und war durchsetzt mit hohen Buchen und anderen Bäumen. Das wusste ich, weil Thomy und ich oft durch den Wald abseits der Wege streiften. Eine Gänsehaut lief mir den Rücken hinunter. Ich musste unwillkürlich an die Tierreste an der Keltenschanze, an der Federlesmahd, nördlich von Echterdingen, denken, die in den letzten Wochen immer wieder Schlagzeilen in der örtlichen Presse gemacht hatten. Der Jäger hatte das Raubtier immer noch nicht erwischt, das die Tiere riss. Es waren sogar Rehe oder auch Wildschweine darunter.
Mit angehaltenem Atem lauschte ich in den Wald hinein, aber ich hörte nichts mehr, als das vereinzelte Gezwitscher eines Vogels. Das Geschnatter hatte in meinen Ohren nicht wie ein Tier geklungen, aber ich kannte auch nichts Vergleichbares. Eine seltsame Furcht stieg in mir auf und ließ mich endlich das Richtige tun. Ich suchte das Weite und radelte so schnell ich konnte den Waldweg entlang. Meine verbrannte Hand klopfte wie wild vor Schmerz, den der Druck auf das Lenkrad verursachte. Völlig außer Atem kam ich in Stetten an und sprang vor Thomys Haus aus dem Sattel. Das Fahrrad lehnte ich gegen den Zaun, ich schloss es nicht einmal ab. Vielleicht sollte ich Frau Mahler von dem unheimlichen Schnattern im Wald erzählen, aber jetzt kam mir das Ganze auf einmal ziemlich lächerlich vor.
Mein Blick fiel auf den Streifenwagen der Polizei, der in der Einfahrt zur Garage stand. Noch bevor ich läuten konnte, öffnete mir Thomys Mutter die Haustür. Ihre Augen waren rot verweint. Wie angewurzelt stand ich da und starrte sie an. Meine Befürchtungen bezüglich Thomy hatten sich offenbar bewahrheitet. Es musste etwas passiert sein.
»Sarah!«, schluchzte sie und zog mich in ihre Arme.
Thomys Mutter war etwas kleiner als ich, so dass es eher so aussah, als würde ich sie in den Arm nehmen, was ich dann auch tat. Sie hatte dunkles, kinnlanges Haar und große, braune, sanftmütig blickende Augen, die immer auch ein wenig traurig schauten. Sie weinte und schniefte. Ich mochte Thomys Mutter sehr gerne. Es tat mir unendlich leid, dass es ihr so schlecht ging. Thomy hatte keinen Vater mehr. Er war vor vielen Jahren gestorben, da war Thomy fast noch ein Baby gewesen.
»Was ist denn passiert?«, stotterte ich mitfühlend.
Sie zog mich ins Haus und schloss die Tür. »Thomy ist verschwunden. Seit Freitag.«
»Verschwunden?«, sagte ich mit zitternder Stimme. »Was heißt das?«
»Er ist vorgestern Nacht nicht nach Hause gekommen. Er hat nicht einmal seinen PC ausgeschaltet, als er ging. Das tut er sonst nie!« Sie putzte sich die Nase und schob mich ins Wohnzimmer.
Ich war starr vor Furcht. In meinem Inneren hörte ich das hüstelnde Schnattern von eben. Fast schaffte ich es nicht, vorwärts zu gehen. Vielleicht hatte das wilde Tier ihn erwischt?
Zwei Polizeibeamte saßen auf dem Sofa. Einer schrieb gerade ein Protokoll, der andere blickte mich von oben bis unten prüfend an.
»Eine Freundin von Thomy?«, fragte er Thomys Mutter.
Sie nickte nur stumm und setzte sich in den Sessel. Ich nahm mit wackeligen Beinen den anderen.
Der Polizeibeamte musterte mich noch einmal prüfend. »Wann haben Sie Herrn Mahler das letzte Mal gesehen?«, sagte er zu mir.
Ich überlegte kurz. »Am Donnerstag. Freitag haben wir nur telefoniert.« Es war das erste Mal, dass mich jemand siezte. Ein seltsames Gefühl.
»Ist Ihnen da etwas an ihm aufgefallen?«, fragte er mit sachlicher Miene.
»Nein, er war wie immer.« Das war gelogen. Thomy war nicht wie immer, aber das konnte ich nicht sagen. Die würden mir das nicht glauben und mich in die Klappsmühle stecken. Ich beschloss auch nichts von den seltsamen Lauten aus dem Wald zu erzählen. Wenn es wirklich ein wildes tollwütiges Tier gewesen wäre, dann hätte es mich doch auch angefallen, oder nicht?
»Glauben Sie, dass Herr Mahler einen Grund hatte nicht nach Hause zu kommen?«, fragte mich der andere Beamte und musterte mich durchdringend.
»Thomy würde immer nach Hause kommen«, antwortete ich voller Überzeugung. Ich wusste worauf die hinaus wollten. Sie dachten Thomy wäre abgehauen, Teenagerprobleme mit der alleinerziehenden Mutter. Es machte mich wütend und das sah man mir wohl an.
»Es ist eine Routinefrage. Wir glauben das auch nicht«, beschwichtigte der andere Polizeibeamte. »Wir werden eine Suchaktion einleiten und den Wald durchsuchen und eine Vermisstenmeldung ins Netz stellen. Mehr können wir im Augenblick nicht tun. Wollen wir hoffen, dass er sich meldet. Sollten Sie etwas herausfinden, rufen Sie mich an.« Die beiden Männer standen auf, Thomys Mutter begleitete sie zur Haustür.
Ich saß wie erstarrt in dem Sessel, unfähig mich zu bewegen. In meinem Kopf kreisten die Gedanken wie auf einem riesigen Karussell um eine unsichtbare Mitte und ließen sich nicht mehr anhalten.
»Möchtest du einen Kaffee, Sarah?«, Thomys Mutter holte mich in die Realität zurück.
Ich nickte und stand auf, um ihr zu helfen, aber sie lehnte ab. Während Thomys Mutter Kaffee machte, ging ich in Thomys Zimmer, das am Ende des schmalen Flures im Erdgeschoss des kleinen Hauses lag. Ich musste unbedingt seinen PC sehen.
Thomy war extrem ordentlich. Sein Zimmer war immer aufgeräumt, nichts Überflüssiges lag herum. Ein Brummgeräusch lenkte meine Aufmerksamkeit auf seinen Computer unter seinem Schreibtisch und ließ einen Schauer meinen Rücken hinunterlaufen. Er war noch an. Seine Mutter hatte ihn nicht abgeschaltet, was ich seltsam fand. Der Bildschirm war dunkel. Ich fasste nach der Maus und bewegte sie. Auf dem Bildschirm erschien ein blinkender weißer Punkt und mir wurde schwindelig. Ich fühlte eine seltsame Sehnsucht in mir aufsteigen.