Читать книгу Unsterblich geliebt - Lara Greystone - Страница 14
Kapitel 6
ОглавлениеSarah war schon fast nebenan, da begriff John erst, was sie gesagt hatte. „Sie ist Schriftstellerin?“
„Ja, stell dir vor, diese Lara schreibt über Ritter. Ist das nicht eine Ironie des Schicksals? Mit bürgerlichem Namen heißt sie zwar O’Brian, aber ihr Künstlername ist Livingstone. Arabella hat erzählt, die Frau sei eine bekannte Autorin und schreibe historische Romane. Eines ihrer Bücher ist eine Geschichte aus der Rokokozeit.“
„Das weiße Kleid, das sie trug“, erinnerte er sich.
Die Tür zum Nebenraum schloss sich hinter Sarah.
John blickte auf Laras leblose Hand, die er hielt.
Sie rührt sich nicht und sie wird nicht aufwachen, aber sie ist am Leben. Ich kann ihre Hand loslassen.
Seine Hand schloss sich trotzdem fester um ihre.
Es war so knapp. Beinahe hätte ich Lara auch verloren!
Ich habe sie dem Tod gerade noch entrissen.
Er konnte ihre Hand nicht loslassen, noch nicht.
Und im Stillen dankte er Gott, dass man sie beide rechtzeitig gefunden hatte. Zum ersten Mal seit über einem Jahr war er froh, noch zu leben.
Ihre Hand fühlte sich warm an. Das stetige Pulsieren ihres Blutes zu fühlen und das gleichmäßige Schlagen ihres Herzens zu hören, brachte ihn auf seltsame Art zur Ruhe.
Er roch das Flusswasser in ihrem Haar. Obwohl es getrocknet war lag ein Hauch der Wildnis darin. An diesem Fluss war er ihr zum ersten Mal begegnet und er erinnerte sich, wie still und friedlich Lara damals vor ihm lag.
Die Erinnerung daran zauberte ein Lächeln auf seine Lippen und im Geist stand er wieder am sandigen Flussufer dieser beeindruckenden Schlucht.
Wie immer hatte er seinen Wagen ein ganzes Stück entfernt abgestellt, weil er es genoss, durch die Wildnis zu laufen und dabei ihre vielfältigen Gerüche und Geräusche aufzunehmen.
Leider hatte die Zivilisation im letzten Jahrhundert dafür gesorgt, dass diese stillen, unberührten Landschaften ständig weniger wurden.
Doch nun stand er wieder an diesem idyllischen Ort und atmete ein paarmal tief durch. Er blickte hoch zu der alten, kunstvollen Eisenbrücke, die sich anmutig über die malerische Schlucht spannte.
Dann wehte die kühle Nachtluft einen Geruch an seine Nase, den Geruch von Beute. Er war nicht in diese menschenverlassene Gegend gekommen, um zu jagen, doch seine rasiermesserscharfen Fangzähne drangen bereits aus dem Kiefer und sein Magen zog sich hungrig zusammen. Nur ein paar Schritte, dann hatte er die Frau in der Ferne entdeckt. Sie schien zu schlafen – zumindest dachte er das anfangs …
Leichte Beute! Still deinen Hunger!, rief sein Instinkt. Tief aus seiner Kehle drang unwillkürlich ein dunkles, gieriges Knurren.
Leise wie ein Raubtier pirschte er sich an sie heran, was unnötig war, denn sie hätte jetzt nicht mehr die geringste Chance gehabt, ihm zu entkommen. Als Vampir war er schneller, stärker und tödlicher als jeder Mensch und selbst von den Raubtieren der Erde konnten es nur wenige mit ihnen aufnehmen. Vielleicht ein Königstiger oder ein Kodiakbär …
Beim Näherkommen zuckten seine Nasenflügel leicht, er blieb abrupt stehen. Diesen unverwechselbaren, weiblichen Geruch erkannte er wieder. Schon öfters hatte genau dieser Duft, der eine angenehme Spur von blühendem Lavendel in sich trug, seine Nase betört. Doch die Unbekannte, die diesen Ort mit ihm teilte, war immer schon fort gewesen, wenn er nach Sonnenuntergang hier eintraf. Kein Wunder, denn man gelangte nur mit einem geländegängigen Fahrzeug über einen holprigen Naturpfad hierher und musste dann auch noch ein Stück laufen. Ohne die hervorragende Nachtsicht eines Vampirs, wäre es schwer, bei Dunkelheit auf dem Weg zu bleiben.
Die Neugier, wer sich wohl hinter diesem Geruch verbergen würde, war für ihn mit der Zeit immer größer geworden. Nun könnte er das Geheimnis endlich lüften und die Unbekannte kennenlernen. Entschlossen drängte er den Hunger und die Aussicht auf warmes, frisches Blut zurück – vorerst.
Im Sichtschutz der Bäume schlich er sich lautlos näher. Plötzlich erstarrte sein Körper mitten in der Bewegung.
Das war doch nicht möglich! Elisabeth?
Nein! Er zwang sich, diesen Gedanken bereits im Keim zu ersticken. Sie war tot! Endgültig!
Dennoch tauchte vor seinem inneren Auge das Bild des Leichensacks auf, als wäre es gestern gewesen. Er roch das Flusswasser, in dem Elisabeth ertrunken war, während seine zitternden Hände den Reißverschluss öffneten und er schließlich in ihre toten, starren Augen blicken musste. Wie ein glühendes Eisen, das niemals erkaltet, hatte sich dieser Moment in seine Seele gebrannt.
Er atmete tief durch, als seine Augen ihm beim lautlosen Näherkommen bewiesen, dass nur ihre Statur und diese rotbraunen Locken seiner verstorbenen Gefährtin glichen. Merkwürdig, denn diesen außergewöhnlichen Farbton, den man wohl zwischen Kastanienbraun und Burgunderrot ansiedeln würde, hatte er bisher nur bei Elisabeth und ihrer Mutter gesehen. Und sein Gedächtnis war ausgezeichnet.
Wunderschöne, lange Locken umrandeten ihr anmutiges Gesicht.
Auf der blassen Haut zeichneten sich ein paar hübsche, winzige Sommersprossen ab und ihre roten, schön geschwungenen Lippen schienen ihn förmlich zu locken.
Lautlos beugte er sich herunter, um an ihren Haaren zu riechen. Seine feine Nase nahm aber keine Spur von Färbemittel oder anderer Chemie wahr, also musste das ihre echte Haarfarbe sein. Im gleichen Moment fiel sein Blick unwillkürlich auf ihre schutzlose Kehle, der Puls seitlich am Hals eine unwiderstehliche Versuchung für einen hungrigen Vampir.
Leichte Beute! Trink! Still deinen Hunger!, forderte das Raubtier in ihm. Sein Kiefer hatte sich schon instinktiv geöffnet und die tödlichen Fangzähne freigegeben. Ehe John es verhindern konnte, drang ein lautes Knurren aus seiner Kehle.
Von sich selbst erschrocken, schnellte er hoch und wich zwei Schritte zurück, legte zornig das innere Raubtier an die Kette.
Seltsamerweise schlief die reizvolle Frau immer noch. Also nutzte er dankbar die Gelegenheit, um seine Entdeckung neugierig zu betrachteten. Ruhig und friedlich lag sie auf einer Decke im Sand des Flussufers vor ihm. Die dunkelbraune Wildlederhose, die sie trug, brachte ihren attraktiven Po aufs Beste zur Geltung und die Ärmel ihrer violetten Seidenbluse waren hochgekrempelt, genau wie er das immer mit seinen Ärmeln zu tun pflegte.
Er wurde das Gefühl nicht los, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Nachdenklich neigte er den Kopf zur Seite. Eigentlich hätte sein Knurren gerade eben die schöne Unbekannte aus dem Schlaf reißen müssen. Damit kannte er sich aus, denn als junger Vampir hatte er viele Menschen im Schlaf aufgespürt und gebissen. Bei diesem Gedanken begehrte das Raubtier in ihm nochmals auf.
Hilflose Beute! Still deinen Hunger!
Aber er war kein Sklave seiner Natur und behielt die Zügel in der Hand. Aufmerksam analysierte er nun das Gesamtbild. Ein Laptop schien halb von ihrem Schoß heruntergerutscht zu sein. Der Bildschirm war schwarz, aber immer noch aufgeklappt. Das Gerät gab nicht die kleinsten Geräusche von sich, der Akku musste völlig leer sein.
Sie trug noch nicht einmal eine Jacke und zitterte vor Kälte – ohne aufzuwachen. Dass sie fror, war kein Wunder. Nach diesem angenehm warmen Frühlingstag war die Temperatur nach Sonnenuntergang deutlich gesunken.
Um nicht bedrohlich zu wirken, nahm John einen Schritt Abstand und verbarg sorgsam die Fangzähne in seinem Mund, damit sie vor ihm nicht erschrecken würde.
Dann räusperte er sich: laut, unüberhörbar – keine Reaktion.
Gut, dann spreche ich sie eben an. Aber was sagt man denn in so einer Situation?
Anders als die ledigen Vampire, die nachts in Tanzclubs und Bars nach Beute suchen mussten und dort ständig Frauen ansprachen, kannte er sich auf diesem Gebiet gar nicht aus.
Es hilft nicht, hier endlos herumzustehen. Im Notfall kann ich ja immer noch ihre Erinnerung an meinen peinlichen Auftritt löschen.
Er versuchte, seinen Lippen nach langer Zeit wieder ein freundliches Lächeln abzuringen.
„Hallo, ähm … Unbekannte.“ Wie blöd klang das denn!
Er fuhr sich mit der Hand durch seine Locken. Das hilft dir auch nichts! Du weißt ja noch nicht mal ihren Namen und stellst dich an wie ein Trottel!
Nach einem tiefen Atemzug startete er einen neuen Versuch.
„Ähm, Entschuldigung. Wollen sie sich nicht etwas Warmes überziehen? Es ist ziemlich kalt geworden und sie zittern schon.“
Er sparte sich jedes weitere Wort, die Schlafende zeigte nicht die kleinste Regung – zu merkwürdig.
Nun ging er vor ihr in die Hocke und strich mit seinem Handrücken über ihre Wange.
Nichts, als wäre sie tot.
Dabei konnte er ihren gleichmäßigen Herzschlag hören. Seine Nase roch keine Spur von Blut an ihr und die Frau schien auf den ersten Blick unverletzt zu sein.
Was war mit ihr geschehen?
Noch einmal strich er mit seinem Handrücken über ihr Gesicht, dabei löste die Berührung ihrer Haut etwas in ihm aus, das er nicht einordnen konnte.
Doch er spürte eine angenehme Wärme, die sich in ihm ausbreitete, und mit einem Mal fühlte er sich in ihrer Nähe unbeschreiblich wohl. Deshalb beschloss er, abzuwarten und dabei ihre Gegenwart zu genießen.
Eigenartigerweise war der gierige Hunger, der auf eine Chance gelauert hatte, im gleichen Moment in den Hintergrund getreten. Alles in ihm weigerte sich plötzlich, diese Frau allein und ungeschützt zu lassen. Sie weiter frieren zu sehen, brachte er nicht mehr übers Herz.
Den Laptop klappte er kurzerhand zu und legte ihn beiseite. Den Ledermantel, von dem Ara mal gesagt hatte, er gliche damit einem Cowboy aus der Marlboro-Werbung, zog er aus und deckte die zitternde Frau damit zu.
Wie gut, dass seine Waffen, die er normalerweise darunter trug, heute im Auto geblieben waren.
Ihm gefiel es sehr, die hübsche Unbekannte unter seinem Mantel zu sehen. Immer wenn er in den folgenden Tagen diesen Mantel anzog, hatte er sie darin gerochen und sein Innerstes schien dabei jedes Mal warm zu werden.
Ihr Lager hatte sie direkt an seiner Feuerstelle aufgeschlagen, also musste er nur ein paar trockene Hölzer, die noch von seinem letzten Besuch dort lagen, aufeinanderlegen. Mit der Routine von Jahrhunderten entzündete er rasch ein neues Feuer, das sie zusätzlich wärmen sollte. Natürlich achtete er sorgsam darauf, dass sie weder Rauch noch Funken abbekam.
Wie so oft setzte er sich dann ans Feuer und schaute in die Flammen, lauschte den Geräuschen des Wassers und verlor sich in seinen Gedanken. Mit Elisabeth würde er nie hier sitzen. Sie war einfach aus seinem Leben und seinem Herz gerissen worden – nach über 600 Jahren.
John erinnerte sich daran, dass er so in seinen Erinnerungen und dem Schmerz versunken war, dass er zunächst nicht bemerkte, wie Lara ihn mit ihren lebendigen grünbraunen Augen aufmerksam beobachtete.
Lara, Lara O’Brian, so hatte sie sich später vorgestellt und seit dieser Nacht hatte er immer wieder an sie denken müssen. Sein Instinkt hatte ihm geboten, sie mit aller Macht zu beschützen, und er hätte sie niemals dem Tod überlassen können.
Seit dieser Nacht fühlte er sich auf tiefe Art zu Lara hingezogen. Sein Innerstes drängte ihn, so wie auch jetzt an ihrem Bett, ihre Haut und Wärme zu spüren.
Sein Daumen streichelte wieder sanft über ihren Handrücken.
Die Galgenfrist war abgelaufen und John trat in das Büro seines Anführers. Alva hockte auf einer freien Ecke des Schreibtischs und ging offensichtlich gerade ein paar Papiere mit ihrem Mann durch. Agnus’ schlagkräftige Hand strich ihr sanft über die Schulter.
„Alva, bitte lass uns allein, das wird unschön.“
Die Ärztin stand auf und drückte im Vorbeigehen Johns Schulter. Als sich die Tür hinter ihr schloss, wurde die Atmosphäre schlagartig eiskalt. Doch Agnus sprach kein Wort, schaute nur desinteressiert in die Papiere vor ihm.
Elia nannte das immer die Ruhe vor dem Sturm, wenn Agnus wartete, bis seine Frau außer Hörweite war.
John machte sich auf alles gefasst und wartete.
Urplötzlich und in einer Geschwindigkeit, die menschliche Augen nicht mehr erfassten, stürmte Agnus um den Schreibtisch und packte ihn an der Kehle. Das Nächste, was er spürte, war ein gewaltiger Rums, als Agnus ihn an die nächste Wand donnerte, ohne dabei loszulassen.
„Verdammt noch mal! Was hast du dir dabei gedacht? Weißt du, in welche Situation du mich bringst? Wir sind Wächter!“
Sein Anführer ballte die gewaltige Hand zur Faust und donnerte sie mit voller Wucht neben seinem Kopf in die Wand. Betonstückchen rieselten zu Boden, ein Loch klaffte nun an dieser Stelle.
Sicher, er hätte sich wehren können, doch Agnus hatte ja recht und als Anführer wurde er für seine Taten automatisch mit zur Verantwortung gezogen.
Trotzdem – er bereute nichts und würde Lara jederzeit wieder retten, egal um welchen Preis.
„Diese Gesetze sind unsere Grundlage, John! Wir Wächter sorgen dafür, dass sie eingehalten werden! Wir jagen die Vampire, die dagegen verstoßen! Die ihre Fähigkeiten benutzen, um Menschen zu schaden, zu missbrauchen oder sie wie Vieh abzuschlachten. Das ist unsere Aufgabe! Nur in diesem Sinne sind wir Lebensretter! Du, John, hast als Wächter auf das Gesetzbuch geschworen! Hast du das vergessen?“
Agnus schlug seine Faust noch einmal in die Wand, aber nicht mehr ganz so heftig. Dann ließ er ihn los und setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch.
So weit zum Auftakt, dachte John und nahm schweigend Platz, denn er wusste, dass das noch nicht alles war. Er hatte bereits das zweite Mal gegen die eisernen Gesetze verstoßen und musste mit einer harten Strafe rechnen.
„Scheiße, John! Manchmal passen mir die Regeln auch nicht und erscheinen ungerecht, aber sie wurden erlassen, um uns alle zu schützen und vor Entdeckung zu bewahren.“
John musste für einen Moment an die Zeit zurückdenken, bevor man ihre Burgen in Brand steckte oder sie auf dem Scheiterhaufen verbrennen ließ. Als die Menschen sie zu Hilfe riefen und man sie die Ritter der Nacht nannte. Diesen Namen hatte ihnen das einfache Volk damals wegen ihrer schwarzen Hengste und den traditionellen schwarzen Gewändern und Umhängen gegeben. Auf ihrem Wams prangte das blutrote Zeichen der Wächter: das Gesetzbuch mit dem Schwert. Sie befreiten die Dörfer von den gesetzlosen Vampiren, wenn die mordgierig in ihren Siedlungen wüteten. Sogar von Geistlichen wurden sie gerufen, um diese angeblichen Dämonen fortzutreiben, und die Menschen waren ihnen dankbar und respektierten sie.
Agnus hatte beide Unterarme auf den Tisch gelegt und beugte sich mit dem Oberkörper vor.
„John, ich mag dich. Du bist ein guter Mann. War es wegen Elisabeth?“
Der schwarze Leichensack stand ihm wieder vor Augen, sein Inneres krampfte sich zusammen.
„Ich will nicht über sie reden. Punkt.“
Agnus lehnte sich zurück und fuhr mit der Hand durch seine Wikingerlocken. „Vielleicht hätte ich dir nach Elisabeths Tod eine Auszeit geben sollen. Womöglich bin ich an dieser ganzen Sache mitschuldig.“
Gleich einem visuellen Echo sah er, wie seine zitternden Hände den Reißverschluss des Leichensacks öffneten, spürte, wie sich seine Hände im Hier und Jetzt zu Fäusten ballten.
„Erwähne ihren Namen noch einmal, dann werfe ich dich durch die Glaswand und wir kämpfen in der Trainingshalle!“
„Ich wünschte, wir könnten die Sache damit aus der Welt schaffen“, murmelte Agnus und machte eine ausladende Handbewegung. „Ich hoffte, das hier, unsere Gemeinschaft, unsere Aufgabe, hätten dir nach deinem Verlust geholfen. Das Tribunal hat dir erst vor Kurzem einen noch nie dagewesenen Verstoß eines Wächters verziehen. Alle im Hauptquartier waren dir für Sarahs Rettung sehr dankbar. Du hast das Gesetz gebrochen und ihr dein Blut gegeben, obwohl du nicht ihr Gefährte bist. Das hätte große Probleme zwischen dir, Sarah und Elia geben können. Gott sei Dank scheint ihr das im Griff zu haben. Aber die Situation war damals eine andere. Sarah hat die Blüte der Ewigkeit, sie gehörte als Elias Gefährtin in unsere Welt. Unsere Sicherheit und die der Vampire war nicht gefährdet. Doch dieses Mal geht es um eine normale Frau, die zur normalen Welt gehört. Anstatt uns um unsere eigentliche Aufgabe zu kümmern, müssen wir jetzt Autos einsammeln, E‑Mails stoppen, Briefe aufhalten und so weiter. Bei all dem hoffen wir, dass wir ja nichts übersehen und uns niemand entdeckt oder Fragen stellt. Wir Wächter sind heutzutage keine Ritter mehr, John! Früher brauchten wir nur unsere Pferde, Rüstungen und Schwerter!“
Sein Anführer fuhr sich wieder durch seine Haare, stand auf und drehte ihm den Rücken zu, atmete tief durch und blickte auf das Ölgemälde der ehemaligen Wächterburg.
John kannte ihre Geschichte. Sie war von den Gesetzlosen in Abwesenheit der Wächter aus Rache überfallen worden. Nur ein paar Frauen und Kinder, darunter Alva, konnten sich in einer Art altertümlichem Panikraum retten. Viele Unschuldige verloren ihr Leben und die Burg wurde größtenteils niedergebrannt. Die beiden noch viel zu jungen Söhne von Agnus starben bei dem hoffnungslosen Versuch, sie zu verteidigen.
„Unser Anwesen hier hat einen hohen Sicherheitsstandard. Die komplizierte, technische Ausstattung, die ich nur ansatzweise verstehe, ist mittlerweile notwendig und hilft uns, unseren Auftrag zu erfüllen. Deshalb können wir nicht alle paar Monate umziehen, weil wir entdeckt worden sind.“
Agnus drehte sich wieder zu ihm um. „Hier geht es auch um die Sicherheit unserer Frauen und Kinder. Geht das in deinen sturen Schädel rein?“
Er presste die Kiefer aufeinander, denn als Taktiker und Sicherheitsexperte wusste er um das Risiko, das er eingegangen war.
„John, ich musste das Tribunal einschalten. Wir Wächter stehen nicht über dem Gesetz und haben nicht das Recht, ein Vergehen einfach unter den Teppich zu kehren. Wer würde uns sonst noch das Recht zugestehen, andere Gesetzesbrecher ihrer Strafe zuzuführen?“
John schluckte und richtete sich unwillkürlich gerade im Stuhl auf. „Hat das Tribunal meinetwegen schon getagt?“
Agnus nickte und nahm eine Schriftrolle mit Wachssiegel von seinem Schreibtisch – das Urteil des Tribunals.
Anstatt ihm das Urteil zu übergeben, behielt sein Anführer die Rolle in der Hand, als wollte er die Vollstreckung hinauszögern – kein gutes Zeichen.
„Wie du weißt, hat Therese, die du seit dem Mittelalter kennst, inzwischen einen Ehrensitz im Tribunal. Sie hat sich für dich eingesetzt und versucht, die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen.“
Also eine letzte Plauderei, bevor das Unvermeidliche sie vielleicht trennen würde? Er ließ sich darauf ein und sagte: „Die gute Therese hat schon damals mit ihrer Rede das Tribunal auf den Kopf gestellt.“
Das hatte er zusammen mit Agnus erlebt, damals im 14. Jahrhundert – so lange kannten sie sich schon. Die Erinnerung ließ sie beide trotz der ernsten Situation schmunzeln.
„Mein Großvater Arthus hat sie für ihren Mut bewundert“, sagte Agnus.
„Stimmt, aber wäre William nicht dazwischen gegangen, hätte Lucius ihr dafür vor aller Augen die Kehle herausgerissen.“
Das würde John in seinem ganzen Leben nicht vergessen. Therese, Quints spätere Mutter, hatte sich im Jahr 1348 verbotenerweise in die Sitzung des Vampirtribunals geschmuggelt und ein mutiges Plädoyer vor den mächtigsten und gefährlichsten Vampiren der damaligen Welt gehalten. Sie riskierte ihr Leben, um eine Ausnahme im Gesetz zu erwirken, und am Ende hatte sie es tatsächlich geschafft, alle zu überzeugen! Damals war die Pest durch Deutschland, Thereses Heimat, gezogen. Aber dank ihres Einsatzes erließ das Tribunal eine Sonderregelung. Während der Schwarze Tod Europa heimsuchte, wurde den Vampiren erlaubt, ihr Blut heimlich an Menschen weiterzugeben, um sie vor der Pest zu retten. Damit hatte Therese ganze Dörfer vor der Ausrottung bewahrt.
Agnus wurde wieder ernst und er merkte, wie schwer ihm die Sache fiel. „Wie gesagt, dank Therese hast du die Wahl.“
Er holte tief Luft und sein ganzer Körper spannte sich an.
„Bringen wir es hinter uns, Agnus.“
„Wenn du die Wächter verlässt, kommst du mit einer Verbannung davon.“
Er wusste, dass hinter dieser außergewöhnlich milden Strafe Therese stecken musste. Doch er würde hier die Wächter, seine Freunde, die ihm wie eine Familie waren, zurücklassen müssen und Lara nie wiedersehen.
„Oder?“
Agnus übergab ihm die Rolle mit dem Wachssiegel, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und seine Züge wurden hart.
„Oder wir ketten dich im Turm an.“
„Scheiße!“
Den grausamen Rest konnte Agnus sich sparen, denn jeder kannte diese Strafe, weil sie besonders abschreckend war. Er ballte seine Hände zu Fäusten und fühlte sich für einen Moment wie einzementiert.
„Dann gilt deine Tat als gesühnt, unter der Voraussetzung, dass du als Wächter bei uns bleibst.“
Sein Anführer kam um den Schreibtisch und legte ihm seine schwere Hand auf die Schulter.
„Ich gebe dir Bedenkzeit.“
„Das musst du nicht.“
Sein Körper fühlte sich bleischwer an, als er aufstand, doch er wusste, was er wollte.
„Das hier ist vor Langem mein Zuhause geworden. Ihr seid meine Familie. Ich bleibe und akzeptiere die Strafe. Sind wir fertig?“
„Fast. Diese Frau muss bei uns bleiben, bis ihre Heilung abgeschlossen ist, damit unser Geheimnis bewahrt bleibt. Aber sie gehört nicht in unsere Welt und du weißt, was du zu tun hast.“
„Ja“, seine Antwort war mehr ein Knurren, „ihr Gedächtnis löschen.“
Er verließ das Büro, fühlte sich taub, jede Bewegung war so schwer, als bestünde er aus Blei. Aus den Augenwinkeln bekam er mit, dass Agnus voller Wut mit einem Arm alle Unterlagen von seinem Schreibtisch fegte.