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Das

was man

»Leben«

nennt



Lara Licollin












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Erst wenn der letzte Baum gerodet,

der letzte Fluss vergiftet,

der letzte Fisch gefangen ist,

werdet ihr merken,

dass man Geld nicht essen kann.

– Weisheit der Cree-Indianer



Die alte Brücke wirkt verlassen.

Fast so, als ob hier nicht jeden Tag etwa 300 Menschen die Elbe überqueren würden, um zur Hochschule zu gelangen, um dort Umweltwissenschaften zu studieren.

Die ganze Umgebung wirkt im Moment so, als ob mich hier am nächsten Morgen niemand finden würde. Aber vielleicht wird das sowieso niemand, denn wahrscheinlich wurde ich dann schon von der Elbe woandershin getragen.

Jedenfalls kommt es mir so vor, als wäre es die perfekte Stelle, um das zu beenden, was sich Leben nennt.

Leben. Dieser Begriff trifft bei mir schon lange nicht mehr auf das zu, was es für mich ist. Mit Leben verbindet man Freiheit, Freude und gute Freunde. Liebe und einfach das Gefühl, glücklich zu sein.

Aber das alles habe ich nicht mehr. Das alles bekomme und fühle ich nicht mehr.

Schon lange nicht.

Und ich glaube, das ist nur bei mir der Fall.

Nur kapiert das keiner. Niemand versteht es.

Vielleicht verdrängen es alle. Mich jedenfalls würde es nicht wundern, wenn sie hier morgen früh mehr als nur eine Person auffinden würden, nicht nur mich.

Aber so wird es nicht kommen. Denn alle lieben das Leben ja. Oder nicht?

Warum kommt es mir manchmal so vor, als würden einige das nur vortäuschen? Als ob sie einfach versuchen, es zu überleben. Das Leben zu überleben.

Als würden sie hoffen, dass es schnell vorbeigeht.

Geht es aber nicht. Das weiß ich. Ich weiß, dass man heutzutage locker über 80 Jahre alt werden kann. Außer man stirbt früher, aufgrund eines Herzinfarkts zum Beispiel, wie mein Vater.

Aber das ist nicht garantiert.

Leider.

Früher wollte ich deshalb Medizin studieren. Vor ein bis zwei Jahren hatte ich diese Idee. Diese Idee, dass ich doch später an etwas forschen könnte, das den Menschen vom Schlimmsten, was es gibt, befreit: vom Leben.

Und zwar nicht, indem man etwas einnimmt und dann vielleicht sogar noch Schmerzen leiden muss. Als ob man das nicht schon die ganze Zeit müsste.

Nein, ich wollte – ich will -, dass man nur noch auf einen Knopf drücken muss. Nur ein kleiner Knopf und schon wäre man all seine Probleme los.

Aber dann ist mir aufgefallen, dass Schlaftabletten auch keine so schlechte Lösung sind. Also verwarf ich den Gedanken relativ schnell wieder.

Dennoch ist es meiner Meinung nach unmenschlich, dass es kein Arzneimittel gibt, das sich jeder einfach kaufen kann, der das Gleiche vorhat, wie ich.

Zum einen, weil man sich so erstmal im Internet schlaumachen muss, woher man so ein Todesserum überhaupt bekommt, zum anderen ist es wahrscheinlich ziemlich teuer.

Und auch wenn das meine letzte Investition wäre, ich würde keine 10 € dafür ausgeben, wenn es auch die Variante mit den Schlaftabletten gibt.

Doch ich will keine Tabletten nehmen. Ich will fühlen, dass ich gleich sterbe, zum Beispiel durch einen starken Stromschlag oder durch den Aufprall auf Asphalt; ich will nicht das Gefühl haben, gleich friedlich einzuschlafen.

Und wenn man das für sich ausschließt, muss man sich erst einmal überlegen, wie man es sonst noch tun könnte.

Soll man sich noch ein letztes Mal Schmerzen zufügen oder einfach springen?

Für mich war die Antwort gleich ganz klar.

Denn meine Arme spüren mittlerweile schon fast nichts mehr.

Man kann die Menschen leider nicht zwingen, einzusehen, dass es vielen so geht wie mir.

Oder vielleicht noch irgendwann so gehen wird. Manche brauchen vielleicht länger, um zu bemerken, dass das Leben einfach nicht lebenswert ist. Zumindest ist es nicht lebenswert für diejenigen, die sich nicht jeden Morgen einfach noch mal umdrehen können, um weiterzuschlafen. Auch nicht für diejenigen, die allein sind.

Ich finde es seltsam, wie man nicht bemerken kann, dass man alleine ist. Ich jedenfalls kann mich noch an einige aus meiner Klasse auf dem Gymnasium erinnern, die definitiv allein waren, es aber nicht wahrgenommen haben oder es nicht wahrnehmen wollten.

Wie konnten sie nicht bemerken, dass sie einfach nicht zu der Gruppe der Mädchen gehörten, bei der sie jeden Tag standen? Dass sie einfach nur ausgenutzt wurden?

Ich habe es gemerkt. Natürlich, ich bin ja nicht blöd. Deshalb habe ich mich immer absichtlich in eine der verlassenen Ecken im Schulhof gestellt. Wozu so tun, als sei man nicht allein? Wozu so tun, als mache es einem nichts aus?

Natürlich habe ich nicht auf dem Schulhof angefangen zu weinen. So schwach war ich nicht. Ich habe es alles zu Hause ausgelassen. Aber dort gab man mir nur die Schuld dafür, dass ich keine Freunde hatte und alleine war. Und irgendwann hat es meine Eltern einfach gar nicht mehr interessiert.

Mein Vater hat ständig nur gearbeitet und kam spät nach Hause. Wahrscheinlich um den Problemen mit mir aus dem Weg zu gehen. Um vor dem Leben mit einer Außenseiterin zu flüchten.

Aber hat er sich mal gefragt, warum ich so wurde?

Hat er mal in Erwägung gezogen, dass Menschen manchmal Dinge tun ohne Begründung? Zum Beispiel andere ignorieren?

Nein.

Meine Mutter hat ebenfalls versucht, es zu ignorieren. Am Anfang wollte sie mir ja wirklich noch helfen, aber irgendwann hat sie es auch aufgegeben. Der Stress mit mir, der Versuch die Beziehung mit meinem Vater aufrechtzuerhalten, ihre Probleme mit den ständigen Kopfschmerzen, ihre Arbeit. Das alles wuchs ihr irgendwann über den Kopf. Und so musste sie Prioritäten setzen. Was war ihr wichtig?

Die Arbeit natürlich. Und irgendwie auch mein Vater. Ihn zu verlassen war nie eine Frage gewesen.

Obwohl er nie zu Hause war und sich nur von ihr bedienen ließ.

Trotzdem ist er irgendwann wegen des ganzen Stresses gestorben.

Für mich hat es eigentlich gar keinen Unterschied gemacht, ob er nun nachts da war oder nicht. Denn schon zu Lebzeiten hat er nur noch hier übernachtet. Am Wochenende war er ab und zu auch mal tagsüber da, aber die meiste Zeit schlug er mit Ausreden um sich, wonach denen er ständig mit seinen Kumpels Bowling spielen ging.

Jeden Samstag.

Und fast jeden Sonntag traf er sich dann mit ein paar anderen Freunden von früher.

Natürlich.

Nach dem Tod meines Vaters hat sich meine Mutter dann nur noch um ihren Alkohol gekümmert. Um ihren neuen besten Freund.

Wenigstens hatte sie einen!

Ich jedoch hatte niemanden, und da der Alkohol schon vergeben war, blieb mir nichts anderes übrig, als weiter allein zu sein.

Nach meinem Abschluss war ich froh, das Haus und meine Mutter hinter mir lassen zu können. Ich schöpfte sogar Hoffnung! Vielleicht wird ja alles besser, wenn ich erst einmal auf der neuen Schule bin!

Aber Pustekuchen. Nichts wurde besser. Schon am ersten Tag teilte sich die Klasse in verschiedene Gruppen auf, völlig automatisch, so als ob sie sich alle schon kennen. Doch ich blieb allein. Natürlich hätte ich hingehen können, ich hätte hingehen sollen, aber weil ich es schon gewohnt war, kam es mir plötzlich gar nicht mehr so schlimm vor, in den Pausen den kichernden und lachenden Grüppchen zuzusehen. Also war ich gewissermaßen selbst schuld daran.

Doch das Außenseiterleben ist nur einer der Gründe, warum ich hier stehe.

Die Straßenlaterne flackert; ich sehe nach oben. Fliegen sammeln sich unter der Lampe an, lassen sich täuschen vom künstlichen Licht.

Ich sehe wieder geradeaus und setze einen Fuß vor den anderen. Der harte Beton fühlt sich so kalt an wie Eis unter meinen nackten Füßen und ich fröstle.

Ganz oben auf der Brücke bleibe ich stehen und schaue nach unten auf das Wasser. Es sieht fast schwarz aus. Ob es kalt ist?

Vielleicht bleibt mir auch schneller das Herz stehen, wenn es so kalt ist. Man muss immer positiv denken.

Ich atme noch einmal tief durch und trete dann näher an das breite, steinerne Geländer heran, das aussieht wie eine Balustrade.

Ich sehe mich noch einmal um. Es ist keiner zu sehen.

Plötzlich kommt Wind auf und ich bekomme Gänsehaut. Es ist noch nicht ganz Frühling, deshalb wird es abends noch ziemlich kalt und ich trage nur ein T-Shirt.

Ich drücke mich nach oben und setze mich für einen Moment auf die kalte Mauer, die als Geländer dient.

Der Wind wird stärker.

Als ich schließlich stehe, muss ich mir die Haare aus dem Gesicht streichen, um nach unten sehen zu können, weil es plötzlich so windig ist. Das Wasser unter mir glitzert und wartet nur auf mich. Ich muss es jetzt tun. Es wird sowieso nicht besser. Wie sollte es? Es ist seit fast neun Jahren schon so, was sollte sich jetzt noch ändern?

Also los!

Spring schon!


Das was man Leben nennt

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