Читать книгу Das was man Leben nennt - Lara Licollin - Страница 7
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ОглавлениеAls ich dieses Mal aufwache, weiß ich sofort, wo ich bin.
Ich bin nicht zu Hause, und ich weiß auch nicht, wann ich das nächste Mal wieder dort sein werde.
Ich strecke mich und starre an die Decke.
Ich weiß, Ben möchte zur Polizei gehen, aber glaubt er wirklich, dass sie mir einfach so die Tür öffnen würden? Ist das so einfach?
Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es das ja.
Aber irgendwie hoffe ich, dass es das nicht ist.
Ich möchte hierbleiben.
Ben ist so nett und hilfsbereit. Schon lange war keiner so nett zu mir – und so besorgt um mich.
Wann war das letzte Mal jemand besorgt um mich?
Aber ich weiß auch, dass Ben arbeiten muss, und dann wäre ich alleine. Alleine in seiner Wohnung. Doch das wird er sowieso nicht erlauben, das wird er nicht zulassen.
Oder?
Er wird mich heute nach Hause schicken, wenn ihm das klar wird. Vielleicht auch zur Polizei.
Und wenn sie uns nicht helfen kann oder darf? Was dann? Wird er mich auf der Straße stehen lassen? Wird er mich allein lassen? Wie jeder es bisher getan hat?
Ich habe Angst, aufzustehen. Ich will nicht mit ihm darüber reden, aber ich weiß, dass es sein muss. Denn ich bin eine Belastung für ihn, er will es bloß nicht zugeben. Vielleicht weiß er es ja aber auch nicht. Noch nicht.
Nachdem ich mich aufgesetzt habe, erscheint er schon im Türrahmen.
Er trägt eine hellblaue Jeans und einen grauen Pullover. Keine Hausschuhe. Keine Socken.
„Hallo, Zoe.“
Ich lächle ihn mühsam an.
„Wie geht es dir?“, fragt er und setzt sich zu mir.
Ich streiche mir die Haare so gut es geht glatt und antworte: „Gut.“
Einen Moment lang sieht er mich prüfend an, dann steht er auf und sagt, dass er nun Brötchen holen will.
„Aber wir haben doch noch Brot übrig“, sage ich und er nickt langsam.
„Stimmt“, meint er dann und fährt sich durch die Haare. „Wenn dir das nichts ausmacht, dann essen wir das Brot von gestern.“
Ich nicke und füge daraufhin hinzu: „Also nein, es macht mir nichts aus.“
Er presst die Lippen aufeinander, nickt und geht in die Küche.
Nach ein paar Minuten stehe ich auf und laufe ebenfalls in die Küche, um ihm zu helfen.
Er schneidet zwei Scheiben Brot ab und legt sie auf den Stapel Teller. Zusammen decken wir den Tisch, wobei Ben nur Butter und Erdbeermarmelade anzubieten hat.
„Kein Problem“, sage ich, als wir uns setzen. „Ich bin nicht so verwöhnt.“
Er wirft mir einen Blick zu und lächelt schwach.
Es ist wahrscheinlich das letzte Frühstück mit ihm und wir schweigen die ganze Zeit über.
Erst als wir beide das Messer auf den Teller legen, räuspert sich Ben plötzlich. Ich schlucke und starre auf meinen Teller.
„Was willst du heute machen?“
Ich sehe nicht auf, als ich antworte.
„Ich denke ich werde versuchen, meine Haustür aufzubekommen.“
Es sollte so etwas wie ein Scherz sein, aber keiner von uns lacht.
„Du willst also doch zur Polizei gehen?“, hakt er nach und sieht mich an.
„Nein … Ich weiß nicht.“ Ich senke den Kopf wieder.
„Ich könnte mit dir gehen“, meint er wieder und ich schüttle den Kopf.
„Du hast schon genug für mich getan.“
„Man kann nie genug für jemanden tun“, entgegnet er und ich verkneife mir ein Lächeln.
Wieso muss er nur so nett sein?
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nicht, wie ich ihn dazu bringen kann, mich einfach machen zu lassen.
Ich sehe ihn entschlossen an.
„Ich gehe allein.“
Er mustert mich und fragt schließlich: „Zur Polizei?“
Ich stöhne. „Ja!“, sage ich lauter.
Er löst seinen Blick nicht von mir. „Das glaube ich dir nicht.“
Obwohl er das in so einer kurzen Zeit gar nicht sollte, kennt er mich wirklich zu gut.
Ich schweige trotzig.
Schließlich seufzt er.
„Zoe, komm schon. Du tust mir, ob du es glaubst oder nicht, einen Gefallen, wenn du bleibst.“
Ich sehe ihn an. „Ach ja? Weil du dann nicht mehr so alleine bist?“, frage ich. „Und während du dann arbeiten bist, wer sitzt dann hier herum? Ich doch wohl, oder? Und zwar alleine. In deiner Wohnung.“
Jetzt schweigt er und sieht nach unten, aber ich bin noch nicht fertig. „Außerdem geht es nicht, okay? Du bist ein wildfremder Mann. Du hast keine Verantwortung mir gegenüber! Du musst mich gehen lassen!“
„Dir ist klar, dass du jetzt einfach aufstehen und meine Wohnung verlassen könntest, ohne dass ich dich aufhalten könnte?“
Er grinst nicht.
„Darum geht es nicht! Du sollst einfach aufhören, dir Gedanken zu machen. Das mit dem Schlüssel ist mein Problem, nicht deins. Ich komme schon klar. Alleine!“
Ich fahre mir durch die Haare und sehe in Richtung Balkon, weg von Ben.
Er hat recht, ich könnte einfach gehen.
Was hindert mich?
Seine Fürsorglichkeit? Das Gefühl, jemandem mal nicht egal zu sein?
Erst nach einiger Zeit gibt er zu, dass ich recht habe.
„Ich bin ein wildfremder Mann, ja“, sagt er. „Aber es geht hier um dein Leben. Um dein Leben, das du einfach so aufgeben willst. Ich habe dafür zu sorgen, dass du zur Vernunft kommst. Du kannst nicht gehen, bevor du nicht kapiert hast, dass das keine Lösung ist.“
„Natürlich kann ich gehen. Ich bin erwachsen, ob du es glaubst, oder nicht.“
Ben nickt und wird leiser.
„Ich weiß, Zoe. Aber weißt du nicht mehr, vor nicht mal zwei Tagen, da …“
„Ich weiß, was ich tun wollte, okay?“, fahre ich ihn wieder an. „Du brauchst es mir nicht noch einmal zu sagen. Ich weiß, was ich wollte.“
Er schluckt. „Und … willst du es immer noch?“, fragt er leise.
Ich schweige und weiche seinem Blick aus.
Klar, zum ersten Mal fühle ich mich wieder wohl. Ich würde gerne bleiben. Aber das kann ich diesem fremden Mann nicht antun.
Eigentlich sollte ich mich sowieso seltsam fühlen, bei einem fast 40-jährigen zu übernachten und mit ihm zu frühstücken – und das alles auch noch gut finden.
Ich werde gehen, weil es das Vernünftigste ist. Ich kann nicht bei ihm bleiben.
Aber natürlich fällt es mir schwer. Endlich ist mal jemand nett zu mir und kümmert sich um mich. Wenn ich jetzt gehe, werde ich wieder allein sein. Auch das weiß ich. Was ich jedoch nicht weiß ist, ob ich in der Lage bin, wieder zurück in dieses Leben zu finden.
Genau das bezweifelt Ben anscheinend auch.
„Vielleicht“, sage ich schließlich leise und wahrscheinlich sorgt er sich jetzt noch mehr um mich. Doch ich sollte froh darüber sein.
„Zoe“, setzt er wieder an. „Bitte.“
Ich spüre plötzlich seine Hand auf meinem Handgelenk liegen. Genau wie vorgestern Abend.
Ich kann ihn nicht ansehen und bin hin- und hergerissen.
„Bitte gib deinem Leben noch eine Chance.“
Ich schlucke. Kann ich das denn? Nicht, wenn es so weitergeht wie bisher.
„Ich kann nicht wieder in die Schule gehen. Einfach so, als wäre nichts gewesen“, erkläre ich ihm.
„Dann mach eine Pause und denk erst mal über dein Leben nach“, schlägt er vor, obwohl er keine Ahnung von meinem Leben hat.
Ich schüttle den Kopf.
„Das kann ich doch nicht machen …“
„Warum nicht?“, fragt er nun.
„Weil …“
Ich schüttle den Kopf und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Er lässt mein Handgelenk los.
„Ich kann dir helfen.“
Ich sehe wieder auf.
„Du musst dich um dich selbst kümmern. Um deine Arbeit.“
„Ich kann Urlaub nehmen. Ich habe dieses Jahr noch keinen genommen.“
„Noch gar nicht?“
Er schüttelt den Kopf. „Ich habe es nie für nötig gehalten“, sagt er. „Was soll ich hier, in dieser leeren Wohnung? Allein.“
Ich zucke mit den Schultern. „Verreisen. Du hast doch bestimmt viel Geld, oder? Du bist Ingenieur und so wie ich das mitbekommen habe, arbeitest du fast jeden Tag. Von morgens bis abends. Also warum hast du nicht mal ein bisschen Spaß?“, frage ich ihn. „Warum lernst du nicht mal ein paar nette Leute kennen? Oder eine Frau.“
Er sieht zur Seite und schweigt so lange, dass ich schon wieder kurz davor bin, einfach aufzustehen und zu gehen.
Doch dann sieht er wieder auf und blickt mich an.
„Du hast ja recht. Es hört sich fast so an, als würde mein Leben nur aus meiner Arbeit bestehen.“
„Das tut es.“
Er lacht.
„Ja … Ja, das stimmt schon, aber … kennst du nicht dieses Gefühl, wenn man abends nach Hause fährt, man ist kurz davor seine alte, leere, stille Wohnung zu betreten und man weiß, dass dort niemand auf einen wartet?“
Er sieht mir in die Augen und ich nicke.
„Das kenne ich“, sage ich leise und räuspere mich. Dann sage ich lauter: „Das kenne ich sehr gut.“
Er nickt ebenfalls und sieht wieder geradeaus.
Wieder schweigt er, aber dieses Mal plane ich nicht, einfach aufzustehen und zu gehen. Irgendwie kann ich nicht. Noch nicht.
Es ist schön, mit ihm zu reden.
„Wenn du …“, sagt er plötzlich, bricht dann aber ab.
„Was?“
„Egal.“
„Nein, sag.“
„Ich hab nur gedacht … Wenn du dasselbe Gefühl hast, jeden Abend, warum bleibst du dann nicht?“
Er sieht mir wieder in die Augen und ich schlucke. Schnell sehe ich zur Seite.
„Du bist … Du könntest mein Vater sein und …“
„Willst du denn keinen Vater?“ Er schluckt. „Tut mir leid, das wollte ich nicht sagen. Du hast ja sicher einen Vater, aber ich meinte …“
„Schon okay. Ja, ich habe einen Vater … na ja, zumindest hatte ich einen.“
Immer noch sieht er mich von der Seite an.
„Was ist passiert?“
Meine Lippen zittern, als ich es ihm erzählen will, ich weiß nicht, warum.
Er ist schon längere Zeit nicht mehr am Leben, und auch davor habe ich nicht oft mit ihm gesprochen.
„Er ist tot“, sage ich dann extra laut, sodass er meine Gefühle nicht errät. Dabei weiß ich selbst nicht mal, was ich fühle.
„Das tut mir leid“, sagt Ben sanft und ich zucke wieder mit den Schultern.
„Ist schon etwas länger her.“ Nicht einmal fünf Jahre. „Und außerdem war er sowieso kein guter Vater.“
„Und was ist mit deiner Mutter?“, hakt er sofort nach.
Ich zucke mit den Schultern.
„Keine Ahnung.“
„Also lebt sie noch?“, fragt er weiter.
„Ja, aber in ihrer Welt.“
Er sieht mich fragend an und ich erkläre es ihm seufzend: „Sie ist Alkoholikerin, seit mein Vater tot ist.“
„Oh“, sagt Ben und sieht geradeaus. „Das tut mir leid.“ Mehr sagt er nicht und eine Weile herrscht Schweigen, bis ich die Stille breche.
„Ist ja auch egal“, sage ich entschlossen und erhebe mich. „Ich muss jetzt los.“
„Zoe“, sagt Ben und erhebt sich ebenfalls. „Ich dachte, du hättest es dir überlegt.“
Er sieht mich mit großen Augen an und ich erkenne darin eine Bitte, zu bleiben.
„Bitte denk doch an die ganzen Abende, an denen du allein zu Hause saßt. Und jetzt erinnere dich an gestern. Es war doch schön, zu zweit, oder?“
Ich sehe auf den Boden und antworte nicht.
Denn natürlich hat er recht. Er hat bei allem recht.
„Zoe“, sagt er wieder eindringlich und gleichzeitig flehend. „Bitte bleib doch. Wenigstens noch ein paar Tage. Morgen ist Freitag und dann ist Wochenende und dann kannst du dich immer noch entscheiden.“
Langsam sehe ich auf.
Und frage mich plötzlich.
Warum.
Warum nicht?
Was spricht dagegen, noch ein paar Tage zu bleiben?
Klar, das Argument, dass er sich um mich kümmern muss. Dass ich eine Belastung für ihn bin.
Und dass er mein Vater sein könnte.
Aber wenn nun Wochenende ist, dann muss er auch nicht arbeiten. Dann ist er sowieso zu Hause.
Also was soll’s?
Zwei Tage.
Ich treffe eine Entscheidung.
Ich werde schließlich nicht für immer bei ihm leben und die Entscheidung, noch ein paar Nächte hier zu übernachten, bedeutet auch nicht gleich, dass ich ihn danach heiraten muss oder so.
Es bedeutet einfach nur, dass er sich Sorgen um mich macht und dass er mir gerne Gesellschaft leisten würde. Mehr nicht.
„Okay“, sage ich deshalb. „Von mir aus bleibe ich noch eine Weile.“