Читать книгу Das was man Leben nennt - Lara Licollin - Страница 8

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„Alles klar. Du bist entschuldigt. Sie haben echt geglaubt, dass ich dein Vater bin.“

Nachdem ich noch einmal in meiner Firma anrief, um mich auch für heute zu entschuldigen, habe ich sofort nach der Nummer von Zoes Hochschule gesucht. Schließlich muss auch sie entschuldigt werden.

Mit dem Telefon in der Hand kehre ich nun ins Wohnzimmer zurück.

Zoe sitzt wie immer auf der Couch, trägt noch immer ihr weißes T-Shirt und ihre Hose und meine Socken, die ihr viel zu groß sind.

„Na ja, so jung bist und klingst du auch nicht mehr.“

Während sie das sagt, bleibt ihr Gesichtsausdruck völlig neutral, aber ich bemerke um ihre Mundwinkel herum ein leichtes Zucken. Doch ich reagiere nicht darauf.

„Ach wirklich?“, sage ich und tue etwas beleidigt. „Und du bist auch kein Kind mehr – obwohl ich zugeben muss, dass du so aussiehst.“ Jetzt zuckt es immer mehr und sie kann es kaum unterdrücken. „Du hättest also auch selbst anrufen können, um dich zu entschuldigen.“

Ich stemme die Arme in die Hüften und sehe sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Daraufhin kann sie ihr Lachen nicht mehr zurückhalten und vergräbt ihr Gesicht in den Händen.

Ich setze mich grinsend neben sie.

„Was hast du ihnen gesagt?“

„Dass du krank bist.“

„Und was hab ich deiner Meinung nach?“ Sie lehnt sich näher zu mir und grinst.

„Eine ziemlich starke Erkältung. Ich habe gesagt, dass du wahrscheinlich bis Mitte nächste Woche nicht kommen kannst.“

Erneut grinst sie und bedankt sich und wieder frage ich mich, warum sie überhaupt noch lachen kann, wenn sie doch gleichzeitig Gründe dafür hat, ihr Leben zu beenden.

Bisher habe ich sie noch nie wirklich traurig erlebt.

Nur verzweifelt.

Auf der Brücke.

„Und? Was willst du heute machen?“, frage ich sie nach einer Weile.

Sie zuckt mit den Schultern.

„Wir könnten einen Spaziergang machen“, schlage ich vor.

„Wie ein altes Ehepaar?“

„Es machen nicht nur alte Ehepaare mittags um zwei Spaziergänge.“

„Sicher?“, fragt sie mit hochgezogen Augenbrauen. „Ich wette, dass wir mindestens fünf begegnen.“

„Ach ja?“, frage ich herausfordernd. „Wetten wir?“

Du willst mit mir wetten?“ Sie lacht. „Dann mach dich mal auf eine Niederlage gefasst. Früher, als ich klein war, habe ich immer gegen meinen Vater …“ Sie schluckt und sieht geradeaus. „Ach, egal.“ Sie sieht mich wieder an. „Gehen wir?“

Zoe steht auf, bevor ich nicken kann.

„Willst du wirklich in diesen Klamotten auf die Straße?“, frage ich dann.

Sie sieht an sich herab.

„Hm, du hast recht. Zumindest das T-Shirt könnte ich wechseln. Hast du noch eins?“

„Sicher“, sage ich.

Ich gehe ins Schlafzimmer, das neben der Küche liegt, und suche in meinem Schrank nach einem Shirt, das ihr am ehesten passen könnte. Ich selbst bin zwar nicht sehr groß, aber Zoe ist trotzdem etwas kleiner – und definitiv schmaler als ich.

Ich entscheide mich für ein beigefarbenes und gebe es ihr im Wohnzimmer.

Sofort zieht sie ihr eigenes T-Shirt aus und stülpt sich meines über. Vor meinen Augen.

Währenddessen kann ich jedoch nur auf die Rippen sehen, die sich unter ihrer Haut abzeichnen, und nicht anderswohin.

„Okay“, sagt sie schließlich und sieht mich erwartungsvoll an. Das T-Shirt passt ihr sogar einigermaßen. Wir sind auch beide fast gleich groß.

Ich nicke mit zusammengepressten Lippen und sage, dass ich mir doch noch schnell eine Jacke aus dem Schlafzimmer hole und frage mich dann, ob es ihr ohne nicht zu kalt sein wird draußen.

Ich frage sie von meinem Zimmer aus, ob sie ebenfalls eine Jacke möchte.

„Nein, danke“, ruft sie zurück.

Ich schließe gerade die Zimmertür, da hakt sie sich plötzlich einfach bei mir unter.

Ich sehe sie verdutzt an, aber sie ignoriert es einfach.

„Hast du die Schlüssel schon?“, fragt sie. „Nicht, dass wir am Ende beide obdachlos sind.“

Bei dieser Bemerkung muss ich tatsächlich grinsen und schnappe mir den Schlüssel, der an dem Haken neben der Haustür hängt.

„Jetzt schon.“

Sie lächelt zufrieden und zusammen verlassen wir die Wohnung und schließlich das Gebäude.

Es ist seltsam, jemanden neben mir zu haben, während ich die Haustür hinter uns schließe. Aber es ist auch nicht unangenehm.

Wir laufen nach links, die befahrene Straße entlang, und ich atme die Frühlingsluft ein, wie ich es fast immer tue, wenn ich das Haus verlasse.

„Weißt du eigentlich, warum das obdachlos heißt?“, fragt sie plötzlich und ich zucke mit den Schultern. Immer noch klammert sie sich an meinen linken Arm.

„Warum heißt es nicht nur dachlos?“, fragt sie weiter.

„Ich weiß es nicht“, gebe ich zu.

„Das ist aber nicht gut“, meint Zoe. „Etwas nicht zu wissen, ist nicht gut. Das sagt zumindest unsere eine Lehrerin immer.“

„Und wann sagt sie das?“, frage ich, damit sie nicht nur einen Monolog führen muss.

„Oft. Na ja, eigentlich jeden Tag. Weißt du, man könnte ja meinen, alle, die auf eine Hochschule gehen, seien schlau. Aber das sind sie nicht.“

Sie macht eine Pause und fährt dann fort.

„Von dieser Lehrerin werden wir oft irgendwelche Sachen gefragt, aber fast immer lautet die Antwort desjenigen, der etwas sagen muss: Ich weiß es nicht. Ist es nicht komisch?“, spricht sie unentwegt weiter. „In der Schule bekommen wir alle möglichen Dinge beigebracht, weil es ja so wichtig ist, aber manche, die wissen noch nicht einmal, wie sie von A nach B kommen, ohne ihr Navi zu benutzen. Oder ihr Handy.“

Wüsste ich nicht, dass das Mädchen, das neben mir läuft, 19 ist, würde ich sie auf mindestens 30 schätzen. Sie klingt so erwachsen. Und sie hat recht.

„Oder wie man Kuchen backt. Also ohne Zutatenliste. Viele wissen nicht, welches die Hauptbestandteile eines Kuchens sind.“

„Woher weißt du das denn? Also, dass das viele nicht wissen?“

„Ach, letztens habe ich gelauscht. Tessa, eine der beliebten in meinem Kurs, hat anscheinend zum ersten Mal in ihrem Leben einen Kuchen selbst gebacken. Für ihren Freund. Aber plötzlich ist, als sie gerade erst angefangen hat, ihr Internet kaputtgegangen, und sie wusste nicht, wie sie nun weitermachen sollte und was sie braucht.“ Sie seufzt. „Dabei weiß doch jeder, dass man Mehl braucht. Und Zucker. Und Margarine. Backpulver. Eier. Eventuell Vanillezucker. Und natürlich Milch. Mehr nicht. Natürlich ist die Menge auch wichtig, aber im Notfall kann man das doch auch abschätzen, oder? Ich meine, es soll nur ein Schokokuchen gewesen sein!“

Obwohl ich zugeben muss, dass ich selbst auch noch nie Kuchen gebacken habe, kann ich mir gut vorstellen, dass es manche Menschen gibt, die heutzutage gar nicht mehr ohne Internet auskommen. Wahrscheinlich war diese Tessa so geschockt, dass ihr Internet plötzlich nicht mehr ging, dass sie völlig aus dem Konzept gebracht wurde.

Bei dem Gedanken muss ich grinsen.

Zoe sieht zu mir auf.

„Menschen gibt’s, ne? Das glaubt man kaum.“

Dann grinst auch sie einen Moment, doch dann bleibt sie plötzlich stehen und sieht nach links.

Ich folge ihrem Blick und sehe die Brücke.

Die Brücke, von der sie vor Kurzem fast gesprungen wäre.

Ihr Griff um meinen Arm lockert sich leicht und sie starrt einfach nur unbeweglich geradeaus.

Dann meint sie plötzlich leise: „Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt.“

Ich sage nichts und sie sieht mich an.

„Danke, dass du mich damals da runter geholt hast.“

Fast muss ich lachen, als ich das Wort damals höre. Aber ich nicke nur lächelnd und sage, dass ich es gerne getan habe. Wobei ich mich frage, warum sie sich bedankt. Ich meine, letztens habe ich mich noch gefragt, wann sie es tut oder warum nicht. Aber jetzt erinnere ich mich an ihr vielleicht und denke, dass diese Sache für sie noch nicht ganz vom Tisch ist. Also warum bedankt sie sich, wenn sie immer noch mit dem Gedanken spielt? Wenn ich in ihren Augen daran schuld bin, dass sie noch lebt?

Zoe seufzt und sieht wieder zur Brücke.

„Beim nächsten Mal wird bestimmt keiner mehr da sein, der mich davon abhält.“

Ich packe sie unwillkürlich an der Schulter. Ich wusste, es ist noch nicht vom Tisch.

„Zoe! Denk gar nicht erst daran! Bitte.“

Sie zuckt mit den Schultern.

„Denkst du nicht auch manchmal daran?“

Sie sieht wieder zu mir auf und ich antworte: „Nein.“

„Noch nie?“, fragt sie weiter.

„Nein“, sage ich.

„Du musst ein ziemlich gutes Leben haben, wenn dem so ist. Und das, obwohl du alleine wohnst. Respekt.“

Sie beginnt weiter zu laufen. Ich folge ihr.

„Warum sollte ich darüber nachdenken?“, frage ich weiter, denn es ist mir wichtig, zu verstehen, wie sie einfach immer noch glaubt, dass Selbstmord eine Lösung ist.

„Weil das Leben scheiße ist“, sagt sie und ich zucke ein wenig aufgrund ihrer Wortwahl zusammen. Sie sieht mich kurz an. „Ist doch wahr. Und jeder, der das anders sieht, ist blind.“

Ich presse die Lippen aufeinander.

Zoe ist so jung. Warum will sie sich umbringen? Warum ist sie so?

„Das ist aber keine Lösung für das Problem.“

„Und was wäre deiner Meinung eine Lösung für das Problem?“, fragt sie etwas genervt.

„Abgesehen davon, dass ich noch nicht mal genau weiß, was eigentlich dein Problem ist, beziehungsweise der Grund, warum du es tun willst, würde ich einfach sagen, mach etwas, was dir Spaß macht. Finde Freunde. Das wäre doch schon mal ein Anfang.“

„Das hab ich doch versucht“, sagt sie. Ich sage nichts. „Aber sie wollen mich alle nicht“, fährt sie deshalb fort. „Niemand will mich haben.“

„Das weißt du doch gar nicht. Du bist noch nicht allen Menschen auf der Welt begegnet, um sie zu fragen, was sie von dir halten.“

Sie zuckt mit den Schultern. „Für mich waren es genug.“

Okay, ich muss etwas festhalten: Anscheinend ist ihr erstes Problem, dass sie keine Freunde hat. Dass sie allein ist.

Und dann weiß ich doch noch etwas. Der der zweite Grund war … dass sich ihr Vater nicht wirklich um sie gekümmert hat. Und außerdem war er sowieso kein guter Vater. Das hat sie mir gestern gesagt. Und außerdem ist ihre Mutter Alkoholikerin und sie hat anscheinend keine Ahnung, was sie genau macht und wie es ihr geht. Interessieren tut es sie aber auch nicht, so scheint es mir.

Ich frage mich, ob das alles ist. Natürlich ist es schrecklich, niemanden zu haben, der sich um einen sorgt und kümmert, aber will sie sich deshalb umbringen? Oder gibt es noch mehr Gründe?

„Außerdem bringt das auch nichts“, sagt Zoe nun und reißt mich aus meinen Gedanken. „Freunde zu haben, meine ich. Es macht das Leben vielleicht etwas besser, aber für mich ist und bleibt es einfach zum Kotzen. Das kann man nicht ändern. Auch nicht mit sozialen Kontakten.“

„Das weißt du doch gar nicht. Du hattest ja noch nie …“ Ich stoppe, weil ich glaube, dass es keine gute Idee ist, das auszusprechen, was ich eigentlich sagen wollte. Außerdem hatte sie bestimmt schon einmal irgendwelche Freunde und müsste eigentlich wissen, dass Freunde das Leben schon lebenswerter machen können.

„Gib nicht auf, Zoe“, sage ich also stattdessen, auch wenn ich sie plötzlich immer mehr verstehen kann. Schließlich bin ich, wenn ich so darüber nachdenke, ebenfalls ziemlich einsam. „Kennst du nicht den Spruch: Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende? Du wirst schon noch jemanden finden, der dich mag.“

„Ach ja?“, fragt sie spöttisch. „Abgesehen davon, dass es nichts ändert: Wann? Wenn ich 80 bin?“

„Nein …“

„Wann dann?“

Sie löst ihren Arm von meinem und nimmt etwas Abstand.

Ich seufze.

Auch wenn ich wollte könnte ich ihr da keine Tipps geben.

Natürlich könnte ich sagen, dass sie auf Leute zugehen sollte, um mit ihnen zu reden.

Aber das würde sie nicht überzeugen.

Denn sie wird merken, dass ich das selbst nie getan habe. Weil ich mich nie getraut habe.

Sie weiß, dass ich dafür kein gutes Beispiel bin.

Dass ich in der Hinsicht genauso ein Versager bin wie sie.

Eine Stunde später betreten wir zusammen meine Wohnung.

Wieder kommt mir das Gefühl, nicht allein zu sein, seltsam und unbekannt vor, aber ich finde es schön.

Sofort setzt sich Zoe wieder auf die Couch.

„Apropos“, sagt sie. „Ich habe gewonnen.“

Ich sehe sie fragend an, während ich meine Jacke einfach auf die Couch lege.

„Mit den älteren Pärchen. Es waren neun.“


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