Читать книгу Der Eistaucher - Lars Andersson - Страница 7
ОглавлениеDer Tag war kalt gewesen; abends lag die ganze sumpfige, überschwemmte Rasenfläche zwischen der Bushaltestelle und der südwestlichen Ecke des Wohnviertels mit Glatteis überzogen da. Ich strebte mit kurzen, schnellen, lächerlich trippelnden Schritten heimwärts, wach genug, um damit zu rechnen, irgendwo in eine vereiste Schlammgrube einzubrechen, von Müdigkeit zu benommen, um einen Unterschied zu merken; vorgebeugt und die Arme in den Taschen meines grünlichen, gefütterten Dufflecoats vergraben, auf dessen steif abstehendem Kragenrand der Sonnenbutton wie ein verirrter Käfer hockte, schief unter der Last meiner weißen, von Autospritzern braungefleckten Schultertasche, wo sich Bücher, Manuskripte, Briefe, Zeitungsausschnitte aneinander scheuerten wie Krebse in einer Reuse. Durch die Dunkelheit rings um mich her trieben dumpfe, ferne Geräusche wie eine versprengte Herde ohne Hirt. Im Altersheim linker Hand waren alle Fenster dunkel, im Wohnviertel selbst leuchteten spärliche Lebenszeichen, ohne jeden Zusammenhang.
Ich zog mechanisch einen Schlüssel aus dem Bund und steckte ihn ins Türschloß. Ragnhild telefonierte mit ihrer Mutter. Sie wollten sich am nächsten Tag in Stockholm treffen. Und als fernen Reflex spürte ich, wie sich alle mögliche Unlust auf den Magnetpol in diesem » Stockholm« orientierte, und wie sich ganz von selbst alle rationalen Argumente dafür einstellen würden, daß ich in Uppsala blieb.
Auf dem Küchentisch Zeitungen, Postanweisungen, Briefe. Cilla Johnson brachte kluge und finnlandschwedisch bedächtige Gesichtspunkte zu einem Übersetzungsprojekt vor, das wir bis zum Sommer anleiern wollten, und teilte mit, sie habe jetzt vor, für etwa einen Monat mit der Eisenbahn durch die Welt zu fahren. Simen Skjønsberg vom norwegischen Dagbladet schickte die Reinschrift eines Interviews, in dem ich als zurückhaltender, wenig mitteilsamer, vage talentierter jüngerer Schriftsteller erschien, der im Höllenlärm eines Stockholmer Lunchrestaurants seine Worte auf die Goldwaage legte. Lars Grahn von Bonniers Litterära Magasin schickte einen Prosatext über den bemerkenswerten Arzt Emil Thorelius aus Forshaga zurück, den ich im Herbst zuvor mangels anderer Texte eingesandt hatte, und tat sein Bestes, um meinen Katzenjammer wegen eines verhunzten Programmartikels zu kurieren, mit dem ich zur Autorenumfrage des kommenden Hefts beigetragen hatte. Das Postgiroamt teilte mit, mein Konto, das ich während seines einjährigen Bestehens dreimal benutzt hatte, sei für eine Privatperson registriert, ich könne jedoch, falls ich in Wirklichkeit ein Unternehmen oder ein Geschäftsmann, eine Kommune, Organisation, Stiftung oder ein Verein sei, Zinsen für das Konto beziehen.
Ragnhild erzählte von einer Prüfung, die sie an diesem Tag hinter sich gebracht hatte. Für einen meiner ehemaligen Mitstudenten, der jetzt denselben Kurs absolviert hatte wie sie, war dies die letzte Prüfung des medizinischen Staatsexamens. Er hatte uns und andere ins Restaurant Gillet eingeladen und versprochen, sich die Fliege umzubinden, die er beim Abitur getragen hatte.
Und Ragnhild, die gerade entdeckt hatte, daß in diesem Frühjahr außer dieser noch fünf Prüfungen auf sie zukamen, statt fünf Prüfungen mit dieser, wie sie bis jetzt angenommen hatte – es war eine Art Formel, ein Merkmal dafür, wie es sich mit den meisten Dingen in diesem Winter verhielt, man tauchte in eine Wake und schwamm in die Richtung, wo offenes Wasser sein sollte, und wenn man den Kopf wieder in die Luft streckte, zeigte es sich, daß man nur bei einer neuen Wake im Eis angelangt war – und für die fast der ganze Sommer in Arbeitstage und Bereitschaftsnächte eingeteilt war, und danach noch ein Herbst, bis es wieder irgendeinen Spielraum in ihrem Leben geben würde, sie hatte genau wie ich keine rechte Lust, ins Gillet zu gehen und auf kommende Tage anzustoßen.
Ich legte eine Platte auf, schleppte den Kontrabaß mitten ins Zimmer, machte mich unempfänglich für alles, was sich in meinem Kopf um Platz kabbelte, und hing den Klangfolgen wie ein dösender Galeerensklave nach. Und durch Phil Spectors abscheuliches Arrangement mit Posaunen und Mädchenchören, durch meine hämmernden, falschen Synkopen, bahnten sich, lange nachdem ich die Platte abgestellt und mich mit einem unbegreiflichen Buch aufs Sofa gelegt hatte, die Worte von Leonhard Cohens »True Love Leaves No Traces« mit ihrem Unterton von Gewißheit einen Weg.
Wie der Nebel keine Spur
im Gras hinterläßt,
läßt mein Körper keine Spur
an dir, keinen Rest.
Durch die Fenster der Nacht
kommt ein Kind, geht ein Kind.
Wie ein Haus, aus Schnee gemacht,
wie ein Pfeil im Gegenwind.
Spurlos ist die Liebe,
wenn du und ich vereint,
verblaßt sie wie die Sterne,
wenn hell die Sonne scheint.
Wie das Blatt im Fallen ruht
auf der Herbstluft so klar,
ruht dein Kopf auf meiner Brust
meine Hand auf deinem Haar.
Wie manche Nächte vergehn
ohne Mond und unbesternt,
werden wir es überstehn,
wenn das eine sich entfernt.
Spurlos ist die Liebe,
wenn du und ich vereint,
verblaßt sie wie die Sterne,
wenn hell die Sonne scheint.
Ich schlief auf dem Sofa ein, Walter Benjamins Baudelairestudie auf dem Bauch. Als ich aufwachte und ins Schlafzimmer schlurfte, stand der Wecker auf zwei. Der Kopf funktionierte durch provisorisch zusammengebastelte Schaltungen und rostige Relais, wie irgendein klappriges Heimwerkerprodukt, notdürftig mit mehreren Schichten Isolierband zusammengehalten. Ich zog mich aus und kroch fröstelnd neben Ragnhilds tief aus dem Schlaf antwortenden Körper, und während ich gierig wie ein Neunauge Körperwärme aus ihrem Rücken und ihren Schenkeln sog, versuchte ich den Traum zu erzählen, aus dem ich auf dem Sofa erwacht war.
»Es war auf Hedås, aber auch wieder nicht so ganz . . . Wir saßen mit einer Menge von Leuten in einem Zimmer, und da war ein Bus, den wir nehmen wollten . . . Die Leute quatschten und redeten ununterbrochen, die Diskussionen waren nicht zu stoppen, immer wenn wir aufstehen wollten, gab es jemanden, der um jeden Preis noch etwas beitragen mußte . . . Und als wir dann auf die Straße rannten, war der Bus vorbeigefahren.«
Sie murmelte, die Worte sanken in ihren Schlaf hinein und lösten sich in Vergessen und Dunkelheit auf, genauso wie sich der Traum in meiner wachen Sprache in sinnlose Fragmente auflöste. Ich legte mich auf den Rücken und schloß die Augen. Auf meiner Netzhaut, oder noch tiefer drinnen, in den Kolumnen der Sehrinde, spielten eigentümliche Lichtphänomene, die sich nicht unter Kontrolle bringen ließen. Wie von beweglichen Lichtkegeln wurden die äußeren Teile des Sichtfeldes in kurzen, rhythmischen Sequenzen erleuchtet. Wie ein Stroboskop, eins von diesen unerträglichen Lichtspektakeln in Diskotheken. Als ich die Augen öffnete, war es dasselbe. Meine Gedanken schraubten sich träge auf einen Leuchtturm an der französisch-spanischen Grenze zu, der die ganze Nacht seine Lanze aus Licht über unseren Köpfen geschwungen hatte, als ich mit zwei Freunden auf einer Interrailreise im Sommer 1972 in Schlafsäcken inmitten fürchterlich dorniger Büsche an dem Berghang über Port Bou lag. Hunde, die aus der Stadt heraufbellten, ein kleines, bösartiges Insekt, das ganz in der Nähe in einem Baum kreischte, und das wir der Reihe nach aufzuspüren und totzuschlagen versuchten, und dann der Lichtkegel des Grenzturms, der wie ein glitzernder Wellenkamm über den Abhang glitt und dicht über unseren Stirnen vorbeistrich. Irgendwann in der Nacht hörten wir auch Schüsse, glaube ich, doch da war alles schon verschwommen.
Allmählich sank ich unter den Rand des Schlafs. Und dann träumte ich wieder, und wieder waren da Hunde, die bellten, wieder waren Soldaten an den Flanken der Berge postiert . . .
Ich erinnere mich überhaupt nicht daran. Ich glaube, es muß tief drinnen in der Sowjetunion gewesen sein, es hatte die Farbe der Wochenschauen von der Ostfront des Zweiten Weltkriegs. Ich trug eine Uniform, weiß aber nicht, von welchem Land. Deutsche Posten legten von einem Berghang aus ein Sperrfeuer über das Tal, in dem ich mit einer Gruppe anderer Soldaten kauerte. Es muß auch Artilleriefeuer dabeigewesen sein, ich sah flüchtig Projektile dicht vor uns durch die Luft streifen. Eine Art Tunnel oder Schützengraben bot den einzigen Fluchtweg aus dem Tal. Ich versuchte mich durch eine Öffnung zu quetschen – es erinnerte stark an meinen qualvollen und lächerlichen Abgang mit dem Kopf voraus durch ein ca. 30 30 Zentimeter großes Fenster, als ich mich auf dem Plumpsklo beim Sommerhäuschen eingeschlossen hatte – doch ich kam nicht durch. Danach befand ich mich übergangslos auf einem Bahnhof, einer Endstation, wie ich mir einbildete, im Inneren Sibiriens. Die Zivilbevölkerung betrachtete mich mit einem gewissen Mißtrauen, ich glaube, ich trug die falsche Uniform, doch irgendwie verstanden die Leute trotzdem, daß ich auf ihrer Seite war. Noch immer war ich in Begleitung einer Gruppe von Soldaten, die vollständig anonym wirkten. Der Zug war abgefahren, wartete jedoch an einem kleinen Bahnhof einige hundert Meter weiter weg. Wir rannten auf ihn zu und hatten ihn fast erreicht, als er uns davonfuhr.