Читать книгу Gemeinsam zum Erfolg - Christoph Städeli, Lars Balzer, Willy Obrist - Страница 4
ОглавлениеWenn es gelingt –
unterwegs mit Anna
Nun stehe ich zum zweiten Mal vor einem Qualifikationsverfahren, diesmal als angehende Zierpflanzengärtnerin – und ich erinnere mich noch genau an die Gefühle, die ich beim ersten Mal hatte, als ich vor der Lehrabschlussprüfung als Innendekorationsnäherin stand. Ich weiss, dass es nicht so schlimm sein wird, dass ich mich einfach darauf einlassen und das Beste geben werde. Ich bin zuversichtlich, habe keine Ängste mehr; ich weiss, dass ich alles lernen kann, und es gelingt mir auch, die Kolleginnen zu motivieren, ihnen Mut zu machen, ihnen die Angst zu nehmen.
Ich weiss in der Zwischenzeit, dass ich lernfähig bin, dass ich immer lernen kann.
So äusserte sich Anna in einem Gespräch, zwei Jahre nach dem erfolgreichen Abschluss ihrer Erstausbildung als Innendekorationsnäherin.
Bis sie zu dieser Überzeugung kam, war es allerdings ein langer und oft mühevoller Weg.
Annas erstes Ausbildungsjahr als Näherin war erfolgreich verlaufen, sie war eine motivierte und gute Lernende, die im berufskundlichen wie im allgemeinbildenden Unterricht sehr gute Noten erzielte. Dies änderte sich, als im dritten Semester «berufskundliches Rechnen» auf dem Stundenplan stand. Anna hatte Schwierigkeiten, ein «Genügend» zu erreichen, gleichzeitig fiel es ihr im Betrieb schwer, alltägliche Berechnungen auszuführen, aufgrund derer beispielsweise Stoffmengen bestellt werden konnten. Aus diesem Grund bat die Ausbildnerin um ein Gespräch mit den verantwortlichen Lehrpersonen, den Eltern und der Lernenden, um die Chancen auf einen erfolgreichen Abschluss zu klären. Das Ergebnis war die Empfehlung der Berufskundelehrerin, Anna solle für eine befristete Zeit die Eins-zu-eins-Lernberatung besuchen.
So kam sie mit dem Wunsch in die Beratung, «endlich eine Lösung für mein Matheproblem zu finden», wie sie später in einem Rückblick festhielt. Während der Beratungssitzungen wurden betriebliche und schulische Berechnungsaufgaben analysiert, mögliche Vorgehensweisen besprochen, Übungen gelöst und das Vorgehen reflektiert (Beispiele finden sich auf → Seite 140 ff.). Anna baute Kompetenzen auf, dank denen sie ihre Noten im Fachzeichnen und im berufskundlichen Rechnen verbessern konnte. Nach Beendigung der befristeten und individuell auf sie zugeschnittenen Lernberatung besuchte Anna freiwillig das an der Berufsfachschule angebotene Trainingsmodul1.
Anna schloss ihre Ausbildung zur Innendekorationsnäherin erfolgreich ab und arbeitete ein Jahr im erlernten Beruf. Dann wagte sie, gestärkt durch ihre Erfahrungen, eine Zweitausbildung und weitete dabei ihren ursprünglichen Wunsch, Floristin zu werden, noch aus, weil sie erkannte, dass ihr der Beruf der Zierpflanzengärtnerin mehr zu bieten hatte.
Noch vor Redaktionsschluss dieses Buches schrieb uns Anna folgende SMS:
Ich habe nun auch meine zweite Ausbildung mit 4,9 erfolgreich abgeschlossen. Ich werde nach der Lehre in der Firma bleiben und die Abteilung wechseln. Ich arbeite dann zu achtzig Prozent in der Dekoration und entwerfe Schalen. Zu einem kleinen Teil werde ich zudem im Büro arbeiten. Ich freue mich auf diese Arbeit!
An Annas Erfahrung wollen wir exemplarisch darstellen, wie sich das Leben eines jungen Menschen verändern kann, wenn es gelingt, Schwierigkeiten beim Lernen zu erkennen, deren Ursachen aufzudecken und entsprechende Massnahmen zur Förderung einzuleiten. Anstelle von Annas Geschichte könnten auch die Geschichten von Myriam, Yvonne, Aline, Dragana, Joshua, Mirko oder Samuel stehen, die Berufe wie Restaurationsfachangestellte, Floristin, Coiffeuse, textile Gestalterin, Schreiner, Gärtner oder Koch erlernen und aus unterschiedlichen Gründen Schwierigkeiten haben, die erforderliche Leistung insbesondere im schulischen Bereich zu erbringen.
Der Weg durch das Buch
Um einerseits das Vorgehen in der Praxis zu illustrieren und andererseits die von uns vertretenen theoretischen Hintergründe zu verdeutlichen, werden wir Anna in verschiedenen Kapiteln immer wieder begegnen.
Wir begleiten sie auf ihrem anspruchsvollen Weg des Lernens und erfahren gleichzeitig, was ihr dabei hilfreich oder hinderlich war, beispielsweise in Kapitel 1, in dem es um Fragen des Übergangs von der Sekundarstufe I in die nachobligatorische Bildung geht. Annas Geschichte verdeutlicht hier, welchen Einfluss die Schulkarriere auf die Berufswahl haben kann.
In Kapitel 2 zeigen wir, inwiefern institutionalisierte Früherfassung mithilfe u.a. von Standortbestimmungen in der Schulsprache und in Mathematik und anhand eines instrumentengestützten Klassenscreenings präventiv wirken kann. Wir erfahren, wie man einen Leistungsabfall in Mathematik bei Anna allenfalls hätte erkennen und durch individuelle Fördermassnahmen hätte verhindern können.
Kapitel 3 befasst sich mit den theoretischen Grundlagen, auf denen die individuelle Lernförderung beruht, und mit den Möglichkeiten und Grenzen der pädagogischen Diagnostik. Vor diesem Hintergrund zeigen wir, welche Einflussgrössen die schulische Leistung von Anna massgeblich beeinflusst haben.
In Kapitel 4 stellen wir exemplarisch Massnahmen vor, die bei Anna in der Eins-zu-eins-Lernberatung eingeleitet wurden, und dokumentieren die von Anna erzielten Fortschritte.
So führt Sie das Buch auf dem Weg von der systematischen Früherfassung über die gezielte pädagogische Einzeldiagnostik hin zu passenden Massnahmen der individuellen Förderung von Lernenden in Gross- und Kleingruppen und in der Einzelberatung. Wir zeigen, welche institutionalisierten Massnahmen im Rahmen der beruflichen Grundbildung an den drei Lernorten dazu führen können, dass möglichst alle Lernenden einen erfolgreichen beruflichen Abschluss mit anschliessendem Übertritt in den Arbeitsmarkt schaffen.
Zum vorliegenden Buch haben uns unzählige Praxiserfahrungen mit betroffenen Lernenden motiviert, die dank unterstützenden Massnahmen ihre Ausbildung erfolgreich abschliessen konnten. Andererseits haben uns Erkenntnisse aus Weiterbildungskursen zu Früherfassung, Diagnostik und Lernförderung dazu veranlasst, auf Fragen, die in solchen Kursen regelmässig wiederkehren, vorläufige Antworten zu geben – Fragen wie diese: Wozu dient Früherfassung? Was ist Diagnostik, und wie kann sie im Ausbildungsalltag nützlich sein? Wie soll bei der Früherfassung vorgegangen werden? Was erfahre ich durch den systematischen Einsatz von Diagnoseinstrumenten über das Verhalten von Lernenden? Welche Konsequenzen hat dies hinsichtlich Lernförderung, und welche Formen der Zusammenarbeit zwischen den drei Lernorten sind möglich und notwendig?
Wenn auch Sie sich mit solchen Fragen beschäftigen, wenn Sie Lernende wie Anna auf ihrem Weg des Lernens begleiten – ob im Betrieb, im überbetrieblichen Kurs oder in der Berufsfachschule –, oder wenn Sie den Auftrag haben, in Ihrer Schule, Ihrem Betrieb ein Früherfassungskonzept zu entwickeln und einzuführen, werden Sie im vorliegenden Buch mancherlei Anregung finden, um mit Lernenden und anderen Ausbildnern und Ausbildnerinnen gemeinsam zum Erfolg zu gelangen.
Es ist uns ein Anliegen, an dieser Stelle insbesondere zwei Personen zu danken.
Einmal Anna, die uns durch das ganze Buch begleitet und eingewilligt hat, ihren Weg authentisch zu veröffentlichen und dadurch die Verbindung zwischen Theorie und Praxis möglich machte – danke Anna.
Zum anderen Christoph Gassmann, unserem Lektor und Berater, der uns zu dieser Form ermutigte und uns durch seine konstruktiven Fragen, Anregungen und Kommentare während der Entstehung immer wieder darin forderte und förderte, der gemeinsamen Sache auf den Grund zu gehen – danke Christoph.
1Eine Form des Stütz- und Förderkurses; Lernende aller Berufe der entsprechenden Berufsfachschule besuchen das Trainingsmodul freiwillig. Eine Förderlehrperson betreut maximal acht Lernende. So ist eine individuelle Begleitung gewährleistet.