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Emotionen verstehen

Was sind Emotionen? Während sich die Fachwelt auf keine genaue Definition einigen kann, begreifen die meisten von uns Emotionen als intensive Gefühlszustände, inklusive physiologischer Körperreaktionen.

Emotionen sind dafür da, uns am Leben zu erhalten. Sie signalisieren uns, was wir brauchen und motivieren uns zum Handeln. Furcht motiviert uns zur Flucht. Ärger motiviert uns, uns selbst zu beschützen. Liebevolle Gefühle motivieren uns zu Verbindung und Fürsorge.

Emotionen spielen auch bei der Motivation zum Wachsen eine unentbehrliche Rolle. Zu jeder bewussten Entscheidung nutzen wir das Gehirn und dabei entstehen neuronale Strukturen. Da wir von Emotionen motiviert werden, fällen wir ständig Entscheidungen als Antwort auf unsere Emotionen. Das heißt, die Erfahrung von Emotionen baut unsere inneren Ressourcen auf – sowohl emotionale Tiefe und Stärke als auch Mitgefühl für andere.

Lektionen, die mit Emotionen verknüpft sind, lernen wir leichter. Das heißt beispielsweise, dass das automatische Schaudern beim Anblick einer Schlange die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass wir uns von Schlangen fernhalten und somit eher überleben werden. Aber auch positive Emotionen helfen uns beim Lernen, wenn Papa also sein Kind in den Himmel hinauf hebt, dann lernt es das aufregende Wort »hinauf«!

Emotionen entstehen aus unseren Wahrnehmungen, weswegen wir auf eine Schlange sehr anders reagieren als auf einen Stock. Sie sind eine automatische physiologische Antwort auf eine Wahrnehmung oder ein Bedürfnis. Unsere Wahrnehmungen werden durch unsere Gedanken geprägt, die wiederum von unseren Glaubenssätzen und der Bedeutung geprägt werden, die wir unseren Erfahrungen oder dem, was ich unsere »Erzählfäden« (story-lines) nenne, zuschreiben.

Da unsere Gedanken die Art und Weise prägen, wie wir etwas wahrnehmen, sind sie normalerweise der Auslöser für unsere Emotionen. Aber Emotionen können bewusstes Denken auch umgehen. Sehen wir unterwegs einen Stock, der einer Schlange ähnelt, überfällt uns vielleicht blitzartige Furcht, noch bevor unser Geist den bewussten Gedanken geformt hat, dass wir in Gefahr sind.

Hier kommt das große Geheimnis über Emotionen, das Ihr Leben verändern kann: bereit? Sobald wir uns erlauben, eine Emotion zu fühlen, löst sie sich auf.

Das geschieht, weil Emotionen Nachrichten sind, und sobald die Nachricht überbracht ist, ist auch die Emotion »verarbeitet«. Daraufhin können wir bewusst wählen, wie wir auf die empfangene Information reagieren wollen. Die vielleicht beste Antwort auf das Gefühl von Verletzung ist der Rückzug aus einer Situation, in der wir uns emotional nicht sicher fühlen. Vielleicht besteht die beste Antwort auch darin, uns dem geliebten Menschen zuzuwenden, von dem wir uns verletzt fühlen, um ihn oder sie um Verbindung und Bereinigung der Beziehung zu bitten. Wie wir auf eine emotionale Information reagieren, wird im präfrontalen Kortex entschieden, der sich auf die Glaubenssätze stützt, die wir aufgrund früherer Erfahrungen geschaffen haben, und Information aus der rechten Hemisphäre (eher emotional) und der linken Hemisphäre (eher rational/logisch) des Gehirns integriert.

Die neuronale Basis der Emotionen

Viele unserer Reaktionen auf Wahrnehmungen sind automatisiert. So wie wir beim Autofahren vor einer roten Ampel automatisch auf die Bremse treten, ziehen wir uns bei Verletzung automatisch zurück. Einige dieser Reaktionen sind allgemeingültig und in uns quasi fest verdrahtet, die meisten Menschen würden also ebenso reagieren – zum Beispiel reagieren wir alle mit Schreck, wenn man uns von hinten berührt. Aber viele unsere Reaktionen sind sehr individuell, stammen oft aus Kindheitserfahrungen. Zum Beispiel reagieren wir je nach früheren Assoziationen auf den Geruch von Zigarettenrauch vielleicht mit Aufregung, Freude, Erleichterung, Furcht oder Ekel.

Diese automatischen neuronalen Assoziationen sind einfach Gewohnheitsreaktionen, die rasches Handeln ermöglichen, ohne dass jeder einzelne Schritt durchdacht werden muss. Das kann so simpel sein wie das neuronale Muster, das Ihnen das Schuhebinden erleichtert, oder so kompliziert wie das neuronale Muster, welches es Ihnen ermöglicht, eine Klaviersonate zu spielen. Automatisierte Assoziationen werden von Neuronen gebildet, die alle miteinander in einem gelerntem Muster aktiviert sind. Laut Neurologinnen sind Neuronen, die gemeinsam aktiv sind, auch miteinander verknüpft (Neurons that fire together wire together), was einfach bedeutet, je öfter die Erfahrung wiederholt wird, umso stärker werden auch die neuronalen Assoziationen (oder Leitungsbahnen zwischen den Nervenzellen).

Um effektiv arbeiten zu können, verknüpft sich das Nervensystem so, dass es für jede wiederkehrende Erfahrung eine vorhersehbare Kettenreaktion an schnellen körperlichen und emotionalen Reaktionen bahnt.

Einige dieser automatischen emotionalen Verknüpfungen leisten uns gute Dienste. Wenn wir uns zum Beispiel ängstlich fühlen, atmen wir vielleicht tiefer ein und aus, wodurch das Nervensystem beruhigt wird und die Nachricht erhält, dass es sich um keinen Notfall handelt. Andere Verknüpfungen leisten uns nicht so gute Dienste. Zum Beispiel haben wir vielleicht in der Kindheit gelernt, dass Essen hilft, unsere Angst zu betäuben. Abgesehen davon, dass jene Reaktionsweise unser Verhältnis zum Essen verkompliziert, lenkt sie uns auch noch von unserer Angst ab, anstatt uns dabei zu helfen, sie zu bemerken und anzugehen.

Darüber hinaus sind uns einige neuronale Verknüpfungen, die irgendwann einmal sinnvoll waren, mittlerweile nicht mehr dienlich. Als Kind wäre es vermutlich keine gute Idee gewesen, gegenüber einem tobenden, alkoholisierten Elternteil verletzte Gefühle anzusprechen. Vielleicht war damals das Verstecken sinnvoll. Aber wenn Sie sich heute zurückziehen und verstecken, sobald Sie sich von Ihrem Partner verletzt fühlen, wird Ihnen diese Reaktion vermutlich keine guten Dienste leisten; vielmehr wird es die Kluft zwischen Ihnen vertiefen und zukünftige Verletzungen wahrscheinlicher machen. Vermutlich wäre es sinnvoller, sich wieder mit Ihrer Partnerin zu verbinden, Ihre Bedürfnisse auszudrücken, Trost anzunehmen und die Beziehung zu stärken.

Ihre Emotionen erkennen

Während ich die Begriffe »Gefühle« und »Emotionen« beinahe synonym verwende, gibt es doch einen technischen Unterschied. Gefühle sind Körperempfindungen. Emotionen sind unsere Interpretationen jener Gefühle. Anders ausgedrückt, sind Emotionen das Konstrukt, das wir um diese Körperempfindungen herum bauen, wenn wir Wahrnehmungen, Gedanken und Glaubenssätze hinzufügen, um jene Empfindungen zu verstehen, zurückzuhalten, zu rechtfertigen oder uns sogar dagegen zu verteidigen.

Die Emotionsforschung zeigt, dass Menschen über viele Kulturen hinweg ähnliche emotionale Zustände kennen: Ärger, Traurigkeit, Furcht, Angst und Depression. Aber sogar innerhalb einer Kultur unterscheiden sich die Menschen sehr darin, wie sie diese Emotionen identifizieren. Tatsächlich können viele nicht zwischen depressiven und ängstlichen Gefühlen unterscheiden – sie fühlen beides gleichzeitig.12 Dies geht teilweise darauf zurück, dass sich viele von uns in der Kindheit angewöhnt haben, die Emotionen zu unterdrücken, sodass wir ihre körperlichen Begleithinweise nicht länger erkennen. Aber auch in den körperlichen Reaktionen einzelner Menschen auf bestimmte Emotionen besteht eine große Bandbreite.13 In jeder Situation interpretiert unser Geist die Körperempfindungen mithilfe von Wahrnehmungen der bewussten Situation. Starkes Herzklopfen könnte also bedeuten, dass Sie fürchterlich erschrocken, von schlechten Nachrichten schockiert, wütend oder aufgeregt sind, oder sogar, dass Sie eben ein Fitnesstraining absolviert haben. Auch unser Verhalten beim Fühlen einer bestimmten Emotion variiert. Je nach Ihren früheren Erfahrungen und Ihrem Temperament reagieren Sie bei Ärger, indem Sie um sich schlagen, weinen, wegrennen oder gefühllos werden.

Wenn es eine Herausforderung für Sie bedeutet, Ihre Emotionen zu bestimmen, dann stehen Sie damit nicht alleine da. Uns allen schadet es wahrscheinlich nicht, unsere Gefühle noch genauer zu bestimmen. Es gibt nicht den einen Weg, um Emotionen und wie sie miteinander in Beziehung stehen zu »kartieren«, aber das Gefühlsrad (Feelings Wheel) von Gloria Wilcox illustriert den Reichtum der Vielfalt an Emotionen. Wie Sie sehen, enthält das mittlere Rad genauere Definitionen der Emotionen im Zentrum. Das äußere Rad enthält gängige Reaktionsweisen auf jene Gefühle. Wenn Sie zum Beispiel aufgeregt sind, riskieren Sie vielleicht mehr, und wenn Sie sich verletzt fühlen, reagieren Sie vielleicht distanziert. Es lohnt sich die farbige Version des Gefühlsrades auszudrucken und aufzuhängen. Sie finden es unter www.arbor-online-center.de/zw2xxe.

Aber keine Sorge, wenn Sie von der Vorstellung so vieler Emotionen überwältigt sind, denken Sie einfach an die vier Grundemotionen:

Zufriedenheit/Glück, einschließlich Liebe, Freude und Frieden. Das ist unser natürlicher Zustand, wenn alles im Fluss ist.

Angst, die eine Reaktion auf Bedrohung ist, einschließlich Panik und Angst (Furcht vor einer nicht spezifischen Bedrohung), Befürchtung (Furcht vor spezifischer Bedrohung) sowie das Gefühl macht- oder wehrlos zu sein. Beachten Sie, dass Säugetiere, die Angst fühlen, als Verteidigung oft in die Wut wechseln.


Traurigkeit, die eine Reaktion auf Verlust und Enttäuschung darstellt und Trauer, Depression und Einsamkeit einschließt. Beachten Sie, dass sich viele Menschen gegen Enttäuschung und Traurigkeit wehren, indem sie ärgerlich reagieren.

Ärger, der eine Reaktion auf eine Bedrohung von innen oder außen ist und Gereiztheit, Frustration und Wut miteinschließt. Beachten Sie, dass sich ungehörter Ärger im Inneren des Menschen als Depression oder Betäubung niederschlägt.

Wir reagieren vielleicht auf Angst/Furcht, mit dem Versuch davonzulaufen (Flucht) oder zu kämpfen. Wenn wir uns für keine dieser Alternativen fit fühlen, erstarren wir vielleicht, fühlen uns benommen, oder brechen gar emotional oder körperlich zusammen.

Ärger entsteht vielleicht aus der Wahrnehmung einer unmittelbaren Bedrohung, die in uns den Kampfmodus aktiviert, oder aus einer eher subtileren Bedrohung, wie dem Verlust von Selbstwert, Macht oder der Fähigkeit, unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Doch Ärger ist immer eine Botschaft, dass etwas für uns nicht funktioniert und wir etwas verändern müssen. Die meisten von uns setzen voraus, dass die Person oder Umstände, die uns ärgerlich machen, das Problem sind und sich ändern sollten. Aber niemals können wir jemand anderen kontrollieren und oftmals auch nichts an den äußeren Umständen ändern. Nur uns selbst können wir steuern. Also wird die wirksamste Antwort auf Ärger immer darin bestehen, zuerst unsere physiologische Reaktion zu beruhigen, um daraufhin zu überlegen, was wir ändern können. (Beachten Sie, dass friedlich sein, nicht bedeutet, Ihren Ärger zu leugnen, sondern den Ärger zu bemerken und dafür zu nutzen, Ihr Leben zu verbessern.)

In der folgenden Tabelle sehen Sie typische Körperreaktionen als Hilfestellung zur Bestimmung der häufigsten Emotionen sowie deren Botschaft.



Beachten Sie, dass es sich bei Schuld, Scham und Neid um defensive Reaktionen handelt, manchmal auch sekundäre Emotionen genannt. Wir fühlen sie als Reaktion auf den Verlust von Wertschätzung. Zwar fühlen sich Scham und Neid schrecklich an, aber besser als das Eingeständnis, dass wir vielleicht nicht liebenswert sind, weil wir einfach nicht gut genug sind. Schuld fühlt sich schrecklich an, aber besser, als uns als schlechten Menschen zu betrachten.

Wenn wir in der Lage sind, unsere Gefühle schon im Entstehen anzunehmen, dann merken wir, dass im Lauf unseres Lebens ständig leichte Angst und Traurigkeit aufkommen. Wir können jenen Emotionen zuhören und entscheiden, wie wir damit produktiv umgehen. Sobald die Emotion ihre Botschaft überbracht hat, löst sie sich allmählich auf und wir fühlen uns voller Energie, um das Problem in Angriff zu nehmen, was unsere inneren Ressourcen aufbaut und unser Leben verbessert. Aber wenn uns unsere Gefühle ängstigen, betäuben wir sie (mithilfe von Essen, Alkohol, oder »kleinen« Süchten wie Einkaufsbummel) oder wir drängen sie in unseren emotionalen Rucksack zurück, was uns krank und müde macht. Anstatt zur Lösung des Problems fähig zu sein, stecken wir in einem Kreislauf von Sekundäremotionen fest – Ärger, Scham, Schuld oder Neid – und machen dabei anderen oder uns selbst Vorwürfe.

ÜBUNG

Bestimmen Sie Ihre Emotionen

Der erste Schritt hin zur Regulation der Emotionen ist, sie sich zu Freundinnen zu machen. Und jede Freundschaft beginnt damit, dass Sie Ihre Freundin erkennen. Da jedermanns Emotionen ein wenig anders sind, müssen wir unsere eigenen Hinweisreize erkennen. Denken Sie über jede Ihrer Emotionen nach: über die Körperempfindungen, die Ihnen beim Erkennen helfen, die Gedanken, die Sie bei der Interpretation unterstützen und (vielleicht das Allerwichtigste), das, was Sie normalerweise gern tun, um die Emotion auszudrücken oder loszuwerden. Anhand dieser Hinweisreize erkennen Sie, was Sie fühlen. Ich habe Ihnen für die häufigsten Emotionen Platz gelassen, aber bitte machen Sie diese Übung für alle Ihre häufig auftretenden Emotionen.

Furcht/Angst

Wenn ich Angst habe, spüre ich diese Körperempfindungen:


Ich bemerke Gedanken wie:


Ich will:


Wenn ich Furcht/Angst fühle, wäre es hilfreich, ich könnte:


Traurigkeit

Wenn ich mich traurig fühle, spüre ich diese Körperempfindungen:


Ich bemerke Gedanken wie:


Ich will:


Wenn ich mich traurig fühle, wäre es hilfreich, ich könnte:


Ärger

Wenn ich mich ärgerlich fühle, spüre ich diese Körperempfindungen:


Ich bemerke Gedanken wie:


Ich will:


Wenn ich mich ärgerlich fühle, wäre es hilfreich, ich könnte:


ÜBUNG:

Sie sind nicht Ihre Emotionen: Wechseln Sie von »Ich bin« zu »Ich fühle«.

Normalerweise drücken wir Emotionen aus, indem wir sagen: »ich bin«, wie bei: »Ich bin traurig«, »ich bin ärgerlich«, oder: »ich bin enttäuscht«. Diese Gewohnheit übermittelt, wie überwältigt wir uns oft von unseren Emotionen fühlen, aber sie führt auch zu einer Identifikation mit der Emotion. Wir sehen uns so, als seien wir diese Emotion. In einem solchen Moment ist es schwer, sich vorzustellen, etwas anderes zu sein. Aber Gefühle kommen und gehen. Wir sind nicht wirklich der Ärger. Wir fühlen uns bloß in diesem Moment ärgerlich.

Etwas Befreiendes geschieht, wenn wir uns daran gewöhnen, Emotionen so auszudrücken, indem wir sagen: »Ich fühle …« Zum Beispiel: »Ich fühle mich traurig.« »Ich fühle mich ärgerlich.« »Ich fühle mich enttäuscht.« So lösen wir uns aus dem Griff der Emotion. Anstatt von der Emotion hinweggerissen zu werden, wird sie uns bewusster und wir betrachten sie als einen vorübergehenden Zustand. Wenn Sie sich das angewöhnen, fordern Sie Ihre Glaubenssätze über Emotionen heraus; so können Sie sich in jenen schwierigen Augenblicken besser regulieren.

Probieren Sie es am besten gleich aus:

• Sagen Sie laut: »Ich bin traurig.« Beobachten Sie, wie sich das anfühlt.

• Sagen Sie jetzt: »Ich fühle mich traurig.« Beobachten Sie, wie sich das anfühlt. Gibt es einen Unterschied?

Versuchen Sie jetzt das gleiche Experiment mit »ärgerlich«. Was fällt Ihnen auf? Wie können Sie sich diese neue Art Emotionen auszudrücken zur Gewohnheit machen?


Der emotionale Rucksack

Erinnern Sie sich an die Diskussion des letzten Abschnitts über Emotionen? Wenn wir uns das Fühlen der Emotionen zugestehen, verlieren Sie ihre Macht. Wir können sie hinter uns lassen. Im Gegensatz dazu gewinnen Emotionen an Macht, wenn wir sie aus unserem Bewusstsein verbannen, weil wir sie dann nicht mehr bewusst steuern können. Also können Sie sich vorstellen, dass wir alle einen »emotionalen Rucksack« herumschleppen, der mit Gefühlen vollgestopft ist, bei denen es uns nicht sicher genug erschien, diese beim ersten Spüren zu verarbeiten.

Einige der verdrängten Gefühle stammen vielleicht von heute oder dieser Woche. Aber die meisten von uns schleppen auch alte verwickelte Ängste oder Schmerzen aus vergangenen Monaten oder sogar Jahren. Tatsächlich bleiben Gefühle aus nicht angemessen verarbeiteten traumatischen Ereignissen so lange in Ihrem emotionalen Rucksack, bis Sie sie verarbeitet haben. Je emotional »reaktiver« Sie sind oder je schneller Sie »getriggert« werden, desto mehr alte Emotionen schleppen Sie in Ihrem Rucksack mit sich herum, die Ihnen signalisieren, dass sie noch zu verarbeiten sind.

Wird der Rucksack zu voll, fühlt sich das bedrohlich an, sodass wir uns angespannt und ängstlich fühlen. Und wenn etwas geschieht, das uns aufregt, dann triggert die gegenwärtige Situation oft alte Gefühle, die dann einfach herausplatzen. Häufig geschieht es, dass jene alten Gefühle mit dem verwechselt werden, was sich gerade in der Gegenwart abspielt.

Deshalb ertappt sich eine Autofahrerin im Straßenverkehr vielleicht dabei, dass sie aus ihrem Wagen heraus einen völlig Fremden anschreit, weil dieser sie geschnitten hat. Natürlich hat sie Grund für ihren Ärger. Aber kaum einer von uns würde so reagieren. Die Überreaktion der Fahrerin rührt fast sicher von Gefühlen aus der Vergangenheit her, als sie sich so schwerwiegend missachtet erlebte, dass es sich wie eine Bedrohung ihrer Integrität angefühlt hatte – ihrer persönlichen Ganzheit – oder gar ihrer Existenz. Das sind Altlasten, keine gegenwärtigen Bedrohungen. Aber in diesem Moment ist die Fahrerin davon überzeugt, dass der Fremde im anderen Auto die Ursache all ihrer ärgerlichen Gefühle ist und eine akute Gefahr darstellt.

Wir nennen das »getriggert werden«, weil die aktuelle Situation die alten Gefühle »triggert« (von englisch trigger – »Abzug einer Schusswaffe«), sodass sie aus dem emotionalen Rucksack herausplatzen. Wenn uns nicht bewusst ist, was da gerade abläuft, reagieren wir so, als bestünde echte und aktuelle Gefahr. Der Körper aktiviert sein Selbstschutzprogramm, wir stellen uns auf einen Notfall ein. Dann lassen wir uns zu Handlungen hinreißen, die wir bei klarem Denken niemals tun würden. Sie sehen, wie schlechtes Benehmen Ihres Kindes eine ähnliche Wirkung haben könnte und Sie aufgrund Ihrer alten Trigger zu Überreaktionen veranlasst.

Im Falle einer Bedrohung stehen Säugetieren nur begrenzte Verteidigungsmaßnahmen zur Verfügung: Flucht, Kampf oder Erstarrung. Also laufen wir manchmal davon (Flucht) oder, wenn nicht möglich, »erstarren« wir und werden innerlich taub. Vielleicht kollabieren wir sogar, was uns davor bewahrt, uns selbst beschützen zu müssen. Oder wir stürzen uns in Ärger, mobilisieren den Körper zum »Kampf«. Ärger ist also die »Kampf«-Reaktion des Körpers, unsere Verteidigung gegen Bedrohung. Der Ärger weiß nicht, ob die Bedrohung aus einer aktuellen Gefahr stammt oder aus alten, sich gefährlich anfühlenden Emotionen. Der Ärger weiß nur, dass man ihn zur Verteidigung gerufen hat, und ist bereit, den Feind zu bezwingen. Deshalb können Sie Wut auf Ihr Kleinkind haben, wenn es vom Hochstuhl aus ständig Essen hinunterwirft. Das ist keine vernünftige Reaktion, aber es sind alte Emotionen aus der Vergangenheit, die Ihre aktuelle Wut schüren.

Indessen der emotionale Rucksack eine nützliche Metapher ist, gibt es natürlich keinen wirklichen Rucksack. Tatsächlich tragen wir jene alten unverarbeiteten Emotionen in unserem Körper, in dem, wie Ihnen jede Physiotherapeutin bestätigen kann, viele unbewusste Erinnerungen gespeichert werden. Leider bleiben jene alten Gefühle selbst dann nicht einfach an Ort und Stelle, wenn Sie gerade nicht getriggert werden. Daher erlebt sie der Körper als ungesunde Spannung oder Kontraktion. Aber zum Glück verfügt der Körper über Selbstheilungsmechanismen. Genauso wie eine Infektion an die Oberfläche steigt, damit sie geheilt wird, steigen aus demselben Grund verdrängte Emotionen auf.

Manchmal genügt ein Gähnen, um festgehaltene Spannung, die zunächst als Furcht, Angst oder Sorge begann, zu entladen. Oder vielleicht ertappen wir uns dabei, wie wir über etwas herzhaft lachen, wodurch der Körper ebenfalls Stress abbaut. Manchmal bringt uns auch etwas zum Weinen, ohne dass wir dazu einen Bezug haben. Das baut selbst dann Stress ab, wenn wir nicht den ursprünglichen Grund für die Traurigkeit wissen. Oder wir provozieren regelmäßig einen Streit mit unserer Partnerin, damit uns das dabei hilft, die Verstimmung durchzuarbeiten, die wir mit uns herumschleppen, weil wir in der Kindheit gelernt haben, dass Streit mit geliebten Menschen schließlich zu befreienden Tränen führt. (Wäre es nicht ein grandioser Fortschritt für unsere Beziehungen, wenn wir lernen könnten, den Streit auszulassen und dafür sofort die Tränen zu vergießen?)

Wie läuft das nun bei Ihrem Kind ab? Ihr Sohn kann sich

in der Schule den ganzen Tag tadellos benehmen,

aber dann zu Hause völlig ausflippen. Das geschieht,

weil er über den Tag seinen emotionalen Rucksack mit

Gefühlen gefüttert hat, als ihn ein anderes Kind geschubst

hat, er es fast nicht mehr rechtzeitig auf die Toilette geschafft

hat oder ihn der Lehrer ausgeschimpft hat. Kommt Ihr

Sohn dann nach Hause und fühlt sich sicher, setzt oft der

Heilungsprozess ein und all jene tagsüber aufgestauten

Gefühle steigen an die Oberfläche, damit sie geheilt werden.

Aber diese Gefühlsüberschwemmung fühlt sich nun gar

nicht gut an. Schließlich wurden die Gefühle ja in den

emotionalen Rucksack gestopft, weil sie zum sofortigen

Verarbeiten zu aufwühlend waren. Sie sind furchterregend.

Nun, da sie an die Oberfläche steigen, sucht das Kind eine

Verteidigungsstrategie. Angriff ist die beste Verteidigung.

Also provoziert Ihr Sohn einen Streit mit Ihnen, um sich von

den aufsteigenden schmerzhaften Gefühlen abzulenken.

Er schaut Sie geradewegs an und bricht eine Familienregel

oder brüllt Ihnen ins Gesicht. Verständlicherweise brüllen Sie

zurück, da Sie angegriffen wurden. Als Antwort rüstet sich

sein Körper zum Kampf. Da dies nun für die Verarbeitung

aufgestauter Gefühle kein guter Zeitpunkt mehr ist,

verschwinden diese wieder im emotionalen Rucksack, um ein

anderes Mal geheilt zu werden. Krise gebannt – Ihr Kind muss

jene schrecklichen Emotionen aus dem Rucksack nicht fühlen.

Allerdings stecken Sie jetzt natürlich mit Ihrem Kind in einem

völlig überflüssigen lautstarken Streit, was Ihnen beiden den

Tag verderben kann. Außerdem ist der Rucksack Ihres

Sohnes jetzt sogar noch voller und wird zu einem späteren

Zeitpunkt erneut getriggert werden.

Jegliche Emotion, die wir für die sofortige Verarbeitung zu verletzlich fanden, kann in unserem emotionalen Rucksack verschwinden. Angst in ihren verschiedenen Facetten, einschließlich sich gefangen, abgetrennt oder machtlos fühlen, erscheint uns so bedrohlich, dass sie sehr oft in den Rucksack zurückgedrängt wird. Dasselbe geschieht mit Trauer und Einsamkeit.

Ärger befindet sich dagegen nicht im Rucksack. Er ist die Kampfreaktion des Körpers, also ist er eine Antwort auf Bedrohung, soll Sie mobilisieren und beschützen. Daher ist Ärger, obwohl er sich instinkthaft und absolut unmittelbar anfühlt, meist eine Sekundäremotion als Reaktion auf die Gefahr, dass verletzlichere Emotionen des emotionalen Rucksacks getriggert werden könnten. Natürlich können wir als Antwort auf echte aktuelle Bedrohungen, wie zum Beispiel einen Taschendieb, ärgerlich reagieren. Aber in unserem Alltag treffen wir relativ selten auf solche extremen Ereignisse. Je mehr wir unseren emotionalen Rucksack ausleeren, umso mehr erkennen wir, dass die meisten Alltags-Bedrohungen bestenfalls Gereiztheit rechtfertigen. Meistens triggert uns der emotionale Rucksack in den »Kampfmodus« zur Schlacht ums Überleben.

Beachten Sie, dass der Streit mit Ihnen den emotionalen Rucksack Ihres Kindes nicht leert, genauso wenig, wie es den Ihren leeren würde, wenn Sie Ihr Kind anbrüllen. Die Kampfreaktion soll Sie vor Gefahr schützen, damit Sie sich zum Angriff rüsten können. Sie unterstützt Sie jedoch nicht darin, jene empfindlichen, verstörenden Emotionen unter dem Ärger zu fühlen. Doch nur so lässt sich der emotionale Rucksack entladen.

Es wäre um so vieles leichter, wenn Ihr Kind einfach nach Hause kommen, um eine Umarmung bitten und sich darin ausweinen könnte, anstatt einen Streit zu provozieren, der schließlich in Tränen mündet. Dieses Buch wird Ihnen zeigen, wie so etwas wahrscheinlicher wird. Doch sogar Erwachsene verhalten sich oft ähnlich schwierig. Wenn Angst oder Schmerz in unserem emotionalen Rucksack getriggert werden, brechen wir genauso in Wut aus, wie unser Kind uns einfach angreift, anstatt zu weinen oder uns zu erzählen, dass es sich vor etwas fürchtet. Leider haben viele von uns (einschließlich unsere Kinder) gelernt, dass man sich mit Ärger wirksam gegen das Fühlen all jener starken Emotionen verteidigen kann, die wir vermeiden; also stürzen wir uns auf Ärger, sobald wir eigentlich Angst oder Trauer spüren. Das ist ein Grund dafür, dass Eltern so schlecht vom Schreien loskommen.

Aber was ist, wenn …?

Wir haben uns bisher auf Sie und Ihre Fähigkeit zur Selbstregulation konzentriert, ohne uns dem Verhalten Ihres Kindes zuzuwenden. Wenn Sie – wie so viele Eltern – das Verhalten Ihres Kindes gewohnheitsmäßig über Ihren Ärger regeln, haben Sie vielleicht viele Fragen, die mit »aber was ist, wenn …?« beginnen. Wir wollen jene Fragen beantworten.

»Aber was ist, wenn mein Kind meinen Ärger ›verdient‹?« Erinnern Sie sich daran, dass es kein Mensch je verdient, angeschrien zu werden, egal was Ihr Kind angestellt hat. Natürlich haben Sie Anspruch auf Ihren Ärger, aber es bleibt immer Ihr Ärger, und kein anderer ist dafür verantwortlich. Niemand sonst kann uns »ärgerlich« machen.

»Aber was ist, wenn das Benehmen meines Kindes Disziplin erfordert?« Das Kind mag wohl Grenzen benötigen (und wir werden in Teil 3: »Coaching statt Kontrolle«, erörtern, wie man Kinder wirkungsvoll unterweist), aber jede Entscheidung, die wir im Ärger treffen, ist von Angst motiviert und nicht von Liebe. Sie werden viel effektiver eingreifen und Ihr Kind anleiten können, sobald Sie sich beruhigt haben. Ich garantiere Ihnen sogar, dass Sie dann den Fehltritt Ihres Kindes nicht annähernd so schrecklich finden wie zuvor, egal worum es sich handelt.

Unsere Rolle als Eltern besteht eben darin, unseren Kindern im konstruktiven Umgang mit Emotionen Vorbild zu sein. Das heißt, dass wir auf unseren Ärger niemals aus dem »Flucht-Kampf-Starre-Modus« heraus reagieren, der unser Kind wie den Feind erscheinen lässt und sich so anfühlt, als müssten wir »gewinnen« und unser Kind »verlieren«. Vergessen Sie es, Ihrem Kind etwas beizubringen, bevor Sie sich als emotional großzügig erleben und Sie liebevoll vermitteln können. Lehrreiche Augenblicke ereignen sich nur, wenn alle Beteiligten zugänglich und positiv gestimmt sind. Ärger und Strafe gründen niemals auf Liebe, denn Ihr Kind nimmt Ihnen die Liebe nicht ab, wenn Sie ärgerlich sind. Es kann dann gar nicht anders, als in den Kampf-Flucht-Starre-Modus zu wechseln, was bedeutet, dass die am Lernen beteiligten Hirnregionen dicht machen.

»Aber ist es denn nicht gesund, meinen Ärger auszudrücken?« Ihren Ärger an jemand anderem auszulassen ist nie gesund; das verstärkt bloß Ihre Wut.14 Gesund ist es dagegen, sich selbst einzugestehen, wie Sie sich fühlen und dann mutig genug zu sein, um innezuhalten und das zu spüren, was sich unter Ihrem Ärger verbirgt – Verletzung, Angst, Traurigkeit, Enttäuschung. Wenn Sie sich erlauben, diese Empfindungen in Ihrem Körper zu fühlen, dann lösen sie sich allmählich auf. Sobald Sie sich beruhigt haben, werden Sie sich besser um Ihre eigenen Verletzungen kümmern und bei Ihrem Kind so eingreifen können, dass es sein Benehmen besser in den Griff bekommt.

»Aber hat mein Kind nicht eine Lektion zu lernen?« Natürlich, aber Wut oder sogar Kritik sind nicht die Lektionen, die Sie Ihrem Kind beibringen wollen. Wenn Sie Ihre lehrreichen Augenblicke in lernbare Momente verwandeln, indem Sie warten, bis Ihr Kind dafür empfänglich ist, dann wird es Ihre Unterweisung aufnehmen. Außerdem wird Ihr Kind etwas viel Besseres mitnehmen als eine Lektion über gutes Benehmen: nämlich eine Lektion in Selbstregulation. Und es wird die ebenso wichtige, unerschütterliche Überzeugung entwickeln, dass es mitsamt allen chaotischen und leidenschaftlichen Emotionen, die unser Verhalten antreiben und unser Menschsein ausmachen, ganz und bedingungslos geliebt wird.

»Aber soll mein Kind nicht lernen, dass alle Menschen ärgerlich werden, dass das zum Leben dazugehört; es ist doch normal und nicht furchterregend?« Erst, was die Eltern mit ihrem Ärger anstellen, erschafft die Überzeugung, dass Ärger furchterregend ist. Wenn Sie explodieren, lernt Ihr Kind, dass Ärger furchterregend ist. Wenn Ihr Kind dagegen sieht, dass Sie ärgerlich werden – und das lässt sich im Alltag einfach nicht vermeiden – und dann beobachtet, wie Sie innehalten, ein paar tiefe Atemzüge nehmen und dann Ihre Bedürfnisse ohne Angriff oder Tobsuchtsanfall äußern, dann haben Sie Ihrem Kind beigebracht, dass Ärger normal und eben nicht furchterregend ist. Außerdem haben Sie Ihr Kind gelehrt, wie man mit Ärger verantwortungsvoll umgeht und ihn sich auch noch zunutze macht, um eine Situation zu verbessern.

»Aber ich will nicht, dass mein Kind glaubt, Emotionen seien nicht erlaubt.« Gutes Argument! Hoffentlich fühlen wir uns mit unseren Gefühlen wohl genug, um sie zu achten, wenn sie in uns aufsteigen. Den ganzen Tag wechseln wir also von einer Emotion in die nächste. Glück/Zufriedenheit, Traurigkeit, Enttäuschung, Frustration, Freude – Emotionen kommen und gehen. Tränen fallen und Lächeln entsteht. Wenn wir all diese Emotionen akzeptieren und durch uns hindurchziehen lassen, ist es wahrscheinlicher, dass sie sich auflösen anstatt uns zu triggern. Wenn wir mit unseren Kindern darüber reden, wie man auf jene Emotionen konstruktiv reagiert, während man sie spürt, dann unterweisen wir sie in emotionaler Ganzheit (dem Integrieren von positiven und negativen Emotionen in ein Ganzes) und Selbstdisziplin. Also sagen Sie hoffentlich den Tag über immer wieder etwas von der Art:

»Mir tut die warme Sonne am Rücken so wohl!«

»Oh, nein! Der Boden ist mit Farbe bekleckst! Das bringen wir jetzt schnell in Ordnung.«

»Ich vermisse meine Schwester. Es macht mich traurig, dass sie so weit weg wohnt.«

»In fünf Minuten müssen wir aus dem Haus und ich mache mir Sorgen, wie wir das schaffen sollen. Was braucht jede noch, um startklar zu sein?«

»Ich bin so frustriert, dass ich das nicht aufbekomme.«

»Mich nerven all die Spielsachen auf dem Fußboden! Wir müssen beim Aufräumen zusammenarbeiten, damit wir es schaffen.«

Falls das Zulassen unserer Emotionen beinhaltet, manchmal weinend auf dem Fußboden zu sitzen, dann glaube ich, dass es Kindern guttut, das zu sehen. Wir können ja einfach erklären, dass wir gerade traurig sind und deshalb weinen, aber dass alles wieder gut wird. Und wenn unsere Kinder darüber bestürzt sind? Dann nehmen wir sie in die Arme und versichern ihnen, dass sie an unseren Tränen nicht schuld sind, dass jeder manchmal weinen muss und wir damit klarkommen. Das ist für ein Kind eine großartige Lernerfahrung, insbesondere wenn wir es dabei anlächeln und kurz danach darüber reden können. Auf diese Weise Vorbild zu sein, vermittelt den Kindern die Sicherheit, sich zu erlauben die ganze Bandbreite ihrer Emotionen zu fühlen. (Wenn Sie natürlich täglich weinen müssen, dann brauchen Sie Unterstützung, um heilen zu können, ohne Ihr Kind in diesen tiefgehenden emotionalen Heilungsprozess einzubeziehen.)

»Wenn ich aber meinem Kind gegenüber echt sein will?« Um authentisch zu sein, wird von Ihnen nie verlangt, Ihre Erfahrung auf jemand anderen ungefiltert »abzuwälzen«. Wie schon der Dalai Lama sagt: »Wenn möglich, sei freundlich. Es ist immer möglich.«15

Abgesehen davon, beinhaltet Ärger an sich nicht die ganze Wahrheit. Er ist die Verteidigungsreaktion des Körpers auf Angst, Machtlosigkeit, Trauer oder eine sonstige zutiefst verstörende Emotion. Wenn wir also wirklich beabsichtigen, unseren Kindern gegenüber authentisch zu sein, dann würden wir sie nicht anschreien, wenn sie keine Hausaufgaben machen wollen. Wir würden die tiefere Wahrheit zugeben: »Ich mache mir schreckliche Sorgen, dass du eine Lernstörung haben könntest, wenn du so handelst, … ich fühle mich machtlos, dich dazu zu bringen, deine Aufgaben zu erledigen, und ich habe Angst, du versagst in der Schule und ruinierst dein Leben.«

Aber natürlich wäre es ebenso schädlich im Namen der Authentizität dem Kind gegenüber unsere Urängste zu äußern. Auch jene Ängste sind nicht die Wahrheit. Angst ist selten die Wahrheit und schon gar nicht die ganze.

Die Lösung besteht darin, unsere Bedürfnisse auszudrücken, Grenzen zu setzen und das Problem mit unserem Kind partnerschaftlich anzugehen. Schließlich entstehen jene Emotionen aus Bedürfnissen. In diesem Beispiel ist Ihr Bedürfnis, dass Ihr Kind seine Hausaufgaben erledigt. Also würden Sie genau das tun, worum wir immer unsere Kinder bitten – das Bedürfnis ausdrücken, ohne dabei den anderen anzugreifen: »Ich möchte, dass du deine Hausaufgaben machst, weil das von der Schule verlangt wird. Mich frustriert es, wenn du die Aufgaben anscheinend nicht bereitwillig erledigst und ich sehe, dass sie dir wirklich keinen Spaß machen. Aber du kommst nicht darum herum, also lass uns herausfinden, wie du es schaffen kannst.«

»Aber was ist, wenn mein Kind auf die Straße rennt? Da muss es doch wissen, dass mich das wütend macht?!« Viel eher glaube ich, dass Ihr Kind erfahren soll, dass Sie darüber fürchterlich erschrocken waren. Jedes Kind übernimmt Sicherheitshinweise von seinen Eltern; nur so hat die Menschheit bis jetzt überlebt. Ihr Kind wird viel wahrscheinlicher Ihren Schrecken ernst nehmen als Ihren Ärger. Kinder spüren bei unserem Ärger sogar oft das Bedürfnis, uns auszutesten. Ihrem Kind gelegentlich zu sagen, wie sehr Sie sich über einen größeren Verstoß ärgern, ist wahrscheinlich unvermeidlich und wird ihm nicht schaden, aber es ist nicht der beste Weg, ihm etwas beizubringen oder seine Kooperation zu erreichen.

ÜBUNG

Geben Sie Ihren Bedenken Raum

Jedes Mal, wenn wir uns für Veränderung entscheiden, ist ein Teil von uns motiviert, den neuen Weg einzuschlagen. Aber ein anderer Teil hängt noch loyal am Vorherigen. Solange wir diese Anteile in uns nicht anerkennen und auf ihre Bedenken eingehen, entsteht in uns keine Einheit für das neue Ziel. Wir blockieren selbst unsere Veränderung.

Denken Sie über die Ideen nach, die Sie über Selbstregulation gelernt haben. Spüren Sie irgendwelche Ängste oder Vorbehalte dagegen, diesen Ansatz auszuprobieren? Zählen Sie im Folgenden alles auf. Dann gehen Sie, so gut Sie können, mit dem bisher Gelerntem auf jeden Vorbehalt ein und schreiben die Antwort daneben. Falls Ihnen noch nichts einfällt, markieren Sie diese Seite mit einem Klebezettel und beantworten diese Bedenken, sobald Sie während der Arbeit an diesem Buch eine Antwort gefunden haben.



Ihre emotionalen Trigger

Von einem Schüler Folgendes gefragt: »Meister, wie gelingt es Dir, ununterbrochen zentriert zu bleiben?«, antwortete dieser: »Ich halte die Zentrierung nicht ununterbrochen aufrecht, ich gewinne sie nur schneller zurück.«

MORIHEI UESHIBA,

Gründer der Kampfkunst Aikido16

Getriggert zu werden bedeutet, dass durch unsere aktuelle Erfahrung alte Gefühle in unserem emotionalen Rucksack stimuliert werden, die das Alarmsystem des Gehirns auslösen und uns so in einen Zustand von »Kampf, Flucht oder Starre« versetzen. Anders ausgedrückt, nehmen die Emotionen dem präfrontalen Kortex das Heft aus der Hand und wir verlieren den Zugang zum logischen Denken. In diesem Augenblick halten wir unsere Reaktion oft für angemessen, weil wir die Bedrohung überbewerten. Erst im Nachhinein erkennen wir unsere Überreaktion.

Wir werden oft von unserem Kind getriggert, aber unser Kind hat den Trigger nicht in uns eingebaut. Wir tragen ihn schon lange in uns. Vielmehr verhilft uns unser Kind zu einer Gelegenheit, den Trigger zu bemerken und zu heilen. Tun wir das nicht, werden wir diese Altlasten wahrscheinlich auf unser Kind abwälzen.

Nahezu jeder von uns trägt Trigger in sich, es sei denn, wir haben bereits viel an uns gearbeitet. Egal wie liebevoll und zugänglich Ihre Eltern waren, gab es fast sicher Situationen, in denen Sie etwas Überwältigendes erlebt haben. Und weil es so überwältigend für Sie war, konnte das Gehirn diese Erfahrung nicht wie gewohnt verarbeiten – die Erinnerung wurde also nicht in ein neuronales Netzwerk eingegliedert, das zusammengehörige Erinnerungen speichert. Bei der im Schlaf erfolgenden Verarbeitung unserer Erinnerungen werden normalerweise die mit den Gedächtnisinhalten verknüpften Emotionen entfernt. Deswegen ist eine Situation, über die man einige Nächte geschlafen hat, meist nicht mehr so aufwühlend.

Aber jedes Mal, wenn die Erinnerung so aufregend war, dass das Gehirn sie nicht wie gewöhnlich verarbeiten konnte, wurde sie mitsamt all jenen Empfindungen, die Sie währenddessen gespürt haben, unverarbeitet gespeichert. Daher werden Sie während einer ähnlichen Erfahrung – die vielleicht einen anderen Inhalt hat, aber identische Gefühle auslöst – mit Körperempfindungen überflutet, die eine Überreaktion sind. Diese Gefühle stammen nicht aus der aktuellen Erfahrung. Sie waren zusammen mit der früheren unverarbeiteten Erinnerung gespeichert.

Das geschieht nicht ohne Grund. Falls Sie in der Kindheit einmal fast ertrunken wären, bleiben Sie später eher am Leben, wenn Sie diese Erfahrung mit der damit verknüpften Furcht erinnern. Vielleicht hat es also Zeiten gegeben, in denen eine leichte Ausprägung von PTBS (posttraumatische Belastungsstörung) für das menschliche Überleben vorteilhaft war.

Das gilt allerdings vielleicht nicht für die Erfahrung, durch einen Lehrer gedemütigt zu werden, die Sie heute noch immer jedes Mal zittern lässt, wenn Sie bei einer Mitarbeiterinnenbesprechung Ihre Meinung sagen müssen. Und sie wird zu einem echten Hindernis, falls die Erfahrung darin bestand, dass Sie von einem Elternteil in Angst versetzt, angebrüllt oder geschlagen wurden. Werden jene Erinnerungen unverarbeitet gespeichert, dann triggert Ihr Kind, sobald es Sie anbrüllt oder nach Ihnen schlägt, all jene Gefühle der Angst und Ohnmacht, die Sie selbst als Kind fühlten. Dann können Sie nicht klar denken. Sie erstarren oder stürzen sich entweder verbal oder körperlich auf Ihr Kind.

Also haben die meisten von uns einige unverarbeitete Emotionen aus der Kindheit, was nichts anderes bedeutet, als dass wir jene alten Gefühle und Erinnerungen im emotionalen Rucksack mit uns herumschleppen. Dieses unbewusste »Gepäck« wird unvermeidlich im Lauf unseres Lebens getriggert werden. Es katapultiert uns geradewegs in unser Unterbewusstsein, was heißt, dass wir dann Dinge tun und sagen, vor denen wir im voll bewussten, aufmerksamen Zustand zurückschrecken würden. Vielleicht finden Sie sich in der folgenden Tabelle mit den häufigsten Reaktionen auf Trigger wieder.

KampfFluchtErstarren
UngeduldFantasierenBetäubung
VerärgerungGeistig wegtretensich distanzieren
SchuldzuweisungMediennutzungeinschlafen
Sich als Opfer erlebenwiederkehrende Gedankenessen
Emotionale und körperliche AusbrücheMagenverstimmung, Kopfschmerzen, körperliche AnspannungAlkohol, Drogen
SelbstrechtfertigungEinkaufstourrauchen

Glücklicherweise zeigen Studien17, dass Sie die emotionalen Trigger einfach heilen können, indem Sie dem Körper erlauben, sie zu fühlen, ohne sich jedoch dadurch zum Handeln aktivieren zu lassen. Ich wiederhole: Für die Heilung Ihrer Trigger ist entscheidend, dass Sie die Körperempfindungen wahrnehmen, aber dem daraus entstehenden Handlungsimpuls widerstehen.

Natürlich müssen Sie zuvor bemerkt haben, dass Sie getriggert wurden, was nicht immer leicht ist. Aber sobald Sie sagen können: »Oh, hier triggert mich gerade etwas!«, können Sie mit dem Rennen, Betäuben oder Ausrasten aufhören. Sie können den Trigger heilen. Bitte beachten Sie, dass das Wahrnehmen der Gefühle im Körper, die mit einem alten Trigger verknüpft sind, eben nicht bedeutet, sich wieder in den alten Erzählfaden verwickeln zu lassen. Beim Nachdenken darüber, was damals alles passiert ist, werden Sie sich nur tiefer verstricken. Also bedeutet die Wahrnehmung der Gefühle, einfach die Körperempfindungen zur Kenntnis zu nehmen.

ÜBUNG

Gefühlstrigger heilen

Hier stelle ich Ihnen einen einfachen dreiteiligen Prozess zur Heilung eines emotionalen Triggers vor. Einfach, aber deswegen nicht unbedingt leicht. Vielmehr kann es ziemlich verstörend sein, mit den im Körper angesammelten Empfindungen einfach dazusitzen. Gehen Sie es behutsam an und kehren Sie zur Zentrierung immer wieder zu Schritt 1 und 2 zurück. Sie schaffen das! Falls Sie sich überfordert fühlen, vereinbaren Sie zur Unterstützung der Erforschung Ihrer Trigger einen Termin mit einer Beraterin.

1. Zentrieren Sie sich, soweit es Ihnen möglich ist. Sitzen Sie bequem, atmen Sie tief ein. Nehmen Sie bewusst wahr, wie Sie von dem Stuhl oder Fußboden unter Ihnen getragen werden.

2. Verstärken Sie Ihr Gefühl des Wohlbefindens und der Sicherheit. Das können Sie tun, indem Sie sich an etwas erinnern, wofür Sie dankbar sind. Sie können sich mit Liebe und Licht umgeben oder ein tröstliches Mantra oder Bild verwenden.

3. Denken Sie jetzt an ein kürzliches Ereignis, das Sie getriggert hat. Sie müssen den ursprünglichen Trigger dafür nicht kennen, denken Sie nur an das kürzliche Ereignis. Beobachten Sie, wie sich dieses Erinnern im Körper anfühlt. Bleiben Sie mit der Aufmerksamkeit beim Körper, anstatt Gedanken über das Ereignis nachzuhängen. Atmen Sie weiter. Nehmen Sie wahr, dass Sie vielleicht wegrennen (Flucht), etwas essen (Starre) oder jemanden anrufen wollen, um ihm richtig die Meinung zu sagen (Kampf). Widerstehen Sie all dem. Wenn Ihnen danach ist, aufzuspringen und nach Ihrem Telefon zu schauen, tun Sie es nicht. Wenn Sie unbedingt meinen, die Küche putzen zu müssen, lassen Sie es bleiben. Atmen Sie einfach und legen sich selbst die Arme um den Körper und spüren dem nach, wie sich diese Empfindung im Körper anfühlt. Atmen Sie in die Empfindung hinein. Sie schaffen das. Sobald Sie sich überwältigt fühlen, suchen Sie wieder den Ort Ihres Wohlbefindens auf (Schritt 1 und 2).

Das ist alles. Jene Körperempfindungen sind die abgespeicherten Gefühle aus Ihrem emotionalen Rucksack, die Ihre aktuelle Überreaktion triggern. Wenn wir sie von der ruhigen, sicheren Warte unseres erwachsenen Selbst beobachten – was einige Psychologen als das »beobachtende Ego« bezeichnen – verändern sie sich allmählich und lösen sich auf. Wenn Sie in Ihrem Beobachter-Selbst bleiben können, bewahrt Sie das davor, von den Emotionen gekapert zu werden und das Gehirn kann den entsprechenden Schaltkreis neu verdrahten.

Wird dieser alte Trigger dann ein nächstes Mal durch ein neues Ereignis aktiviert, werden Sie merken, dass seine Kraft nachgelassen hat. Jedes Mal, wenn Sie diesen Prozess durchführen, schwächen Sie die emotionale Ladung ab. Schließlich wird es Ihnen sogar gelingen, angesichts eines Ereignisses ruhig zu bleiben, das Sie früher getriggert hätte.

Forscher sind der Meinung, dass Sie tatsächlich die Nervenbahnen der triggernden Erinnerung neu vverknüpfen, indem Sie sich beim Wiederaufsuchen in einem Gefühl von Sicherheit und Wohlbefinden halten.18 Anscheinend deaktiviert das die emotionale Ladung, worauf das Gehirn die alte Erinnerung vollständig verarbeiten kann. Also erinnern Sie sich vielleicht immer noch an die demütigende Erfahrung mit der Lehrerin, nehmen aber als Kernbotschaft mit, dass die Lehrerin damals einen schlechten Tag, oder vielleicht den falschen Beruf hatte. Sie spüren nun Mitgefühl für das Kind, das Sie waren, anstatt Scham. Als Folge davon werden Sie nicht mehr erschaudern, wenn Sie an die Erinnerung denken, und Sie werden sich wohler fühlen, wenn Sie vor anderen stehen und Ihre Meinung sagen müssen.

Oder Sie werden sich an die Interaktion mit Vater oder Mutter erinnern, diesmal mit Mitgefühl für sich selbst als das Kind und vielleicht sogar einem gewissen Verständnis für den Elternteil. Sie werden sich über die Erinnerung nicht aufregen. Ihr Körper wird sich nicht im Kampf-Flucht-Starre-Modus anspannen. Und aus all dem werden Sie schließlich gelernt haben, unerschütterlich bleiben zu können, wenn Ihr Kind emotional erregt ist.

Ich stelle mir das so vor, als würden wir das Licht des Bewusstseins auf diejenigen Erinnerungen scheinen lassen, die wir in den dunklen Keller unserer Psyche zurückgedrängt haben. Einfach unser liebevolles Gewahrsein auf die Schatten zu richten, lässt sie dahinschwinden. So verarbeiten wir eine Erinnerung nach der anderen, entfernen die emotionale Ladung von den Triggern und lösen sie auf diese Weise auf. Sie tauchen nicht mehr plötzlich auf, um uns auf unserem Lebensweg zum Straucheln zu bringen. Dann fühlen wir uns so viel freier, glücklicher, weniger ängstlich und sind fähig, ruhig zu bleiben.

Stammen alle Trigger aus der Kindheit? Natürlich nicht! Jederzeit kann sich ein Trauma ereignen. Aber die Kindheitstraumata wirken häufig am machtvollsten, weil wir in dieser Lebensphase von Emotionen am stärksten überwältigt werden. Und viele Traumata, die wir im späteren Leben erfahren, sind Neuinszenierungen früherer Traumata.

Vielleicht denken Sie jetzt, dass es ein ganzes Leben dauern

wird, bis Ihre Trigger geheilt sind. Und damit haben Sie

recht. Das ist eine Lebensaufgabe. Aber machen Sie sich

keine Sorgen. Denn die gute Nachricht lautet, dass Sie sich

mit jedem Schritt nach vorn besser fühlen. Jedes Mal, wenn

Sie jene großen Emotionen zwar fühlen, aber dem Impuls

auszurasten widerstehen, verrichten Sie an diesem Trigger

Heilungsarbeit und verringern seinen Einfluss. Diese Trigger

werden dann im Lauf der Zeit entschärft.

Betrachten wir nun die Situationen, die bei Ihnen am ehesten Ärger oder Verstimmung triggern. Das wird Ihnen nicht nur helfen, mehr Gewahrsein in diese Situationen zu bringen, sondern beim Nachdenken über diese Frage unterstützen Sie auch die Entwicklung Ihres präfrontalen Kortexes, was Sie dazu befähigt, in der nächsten Trigger-Situation eine günstigere Antwort zu wählen.

ÜBUNG

Identifizieren Sie Ihre Trigger

Denken Sie an die letzte Woche, den letzten Monat oder das letzte Jahr. Wann wurden Sie wütend oder sehr aufgebracht, sodass Sie in einer Weise reagiert haben, die Sie später bereuten? Notieren Sie unten fünf Beispiele. Dann schauen Sie sich jede Situation noch einmal genau an. Schreiben Sie sich zu jedem Beispiel einige Ideen dafür auf, wie Sie Ihr Abrutschen hätten verhindern können.



ÜBUNG

Ihre automatische Reaktion unterbrechen.

Wenn wir uns erlauben, eine Emotion zu fühlen und darauf mit der »vorprogrammierten« gewohnten Reaktion antworten, haben die Nervensignale ihre übliche Kettenreaktion abgespult. Aber was ist, wenn wir diese Kettenreaktion durchbrechen wollen? Zum Beispiel reagieren Sie vielleicht normalerweise auf Ihre miteinander streitenden Kinder, indem Sie sie anschreien. Aber jetzt haben Sie beschlossen, dass Sie stattdessen gern emotional reguliert bleiben wollen, damit Sie den Sturm stillen können, anstatt ihn noch mehr anzufachen.

Was können Sie also tun, wenn Ihre Kinder das nächste Mal streiten? Eigentlich ist es ziemlich einfach. Das bedeutet nicht, dass es leicht ist – es ist eine der schwierigsten Dinge, die Sie lernen können – aber jedes Mal, wenn Sie es versuchen, verändern Sie Ihr Gehirn, sodass es Ihnen beim nächsten Mal leichter fällt.

1. Achten Sie auf die Botschaft, die Ihnen Ihr Körper zu übermitteln sucht, indem Sie die Emotionen wahrnehmen. Für gewöhnlich treffen Sie wahrscheinlich auf eine komplizierte Mischung aus:

• Ärger (»Das sollten sie wirklich im Griff haben!«)

• Angst (»Werden sie sich ihr Leben lang hassen?«)

• Scham (»Alles ist mein Fehler, weil ich meine Emotionen nicht besser in Griff kriege und ihnen ein schreckliches Vorbild bin!«)

• Machtlosigkeit, die eine Variante der Angst ist (»Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll, um sie vom Streiten abzubringen!«)

• Manchmal Dumpfheit, oder gar keine Gefühle, ein Zeichen dafür, dass Sie sich im »Starremodus« befinden (der sie zum Rückzug drängt, anstatt zum Brüllen).

2. Nehmen Sie wahr, dass Sie von den Emotionen zu einer automatischen Reaktion gedrängt werden – in diesem Beispiel, Ihre Kinder anzubrüllen.

3. Widerstehen Sie diesem Automatismus. Aktivieren Sie Ihre Pausentaste, indem Sie einmal tief durchatmen. Nehmen Sie wahr, aber reagieren Sie nicht. Entschleunigen Sie. Das unterbricht die habituellen Nervenverbindungen. (In diesem Fall legen Sie vielleicht sogar die Hand über den Mund, um sich dabei zu unterstützen, die gewohnte Schreireaktion zu vermeiden.)

4. Lenken Sie Ihre Impulse in Richtung einer gesünderen Antwort. Üben Sie sich zum Beispiel darin, einen tiefen Atemzug zu nehmen und diesen langsam wieder auszupusten, anstatt zu brüllen. Es ist bewiesen, dass bewusstes Atmen die Ärgerreaktion beruhigt. Indem Sie diese durch eine andere Reaktion ersetzen, werden die Nervenbahnen allmählich neu verbunden.

Was passiert, wenn Sie dem »vorprogrammierten« Handlungsimpuls nicht widerstehen können, in diesem Fall dem Brüllen? Schließlich hält der Körper das für einen Notfall und Ihr Unterbewusstsein (diese Nervenverschaltung) meint genau zu wissen, wie man die Situation in den Griff bekommt. Sie sind fürs Handeln präpariert.

Deswegen gibt es den vierten Schritt. Sie können Ihrer gewohnten Reaktion leichter widerstehen, wenn Sie stattdessen Ihre körperliche Energie auf eine andere Aufgabe umlenken. Anstatt Ihr Kind anzubrüllen, wenden Sie sich ab und blasen Ihren Atem kräftig in die Luft, während Sie die Hände ausschütteln.

Viele Eltern berichten, dass sie sich zwar davon abhalten können, ihren Kindern Gemeinheiten an den Kopf zu werfen, aber das Brüllen an sich nicht abstellen können, selbst wenn es einfach nur »Stopp!« ist oder ein lautes Geräusch wie »Arrrgh!«. Das ist natürlich besser, als etwas Herabsetzendes zu schreien, also ist es ein guter Schritt in die richtige Richtung. Aber immer noch wird dadurch das Drama aufgeschaukelt. Verwenden Sie ruhig übergangsweise laute Geräusche, aber bleiben Sie nicht dabei stehen. Der nächste Schritt besteht darin, das laute Geräusch in eine weniger bedrohliche Antwort zu verwandeln.

Schließlich werden Sie die entsprechenden Nervenverbindungen trennen, sodass Ihre Reaktion auf streitende Kinder zu einem Ausatmen Ihrer emotionalen Erregung wird, während Sie auf Ihre Kinder zugehen, um die Situation zu beruhigen. Im Abschnitt: »Wenn sich Ihre Kinder während einer Autofahrt streiten«, betrachten wir in einem ausführlichen Beispiel, wie das geht.

Aber zuerst wollen wir einen kurzen Blick darauf werfen, was sich während der Übung in Ihrem Gehirn abgespielt hat.

Wie sich das Gehirn neu verknüpft

Jahrzehntelange Forschung hat zu der Schlussfolgerung geführt, dass das menschliche Gehirn sehr anpassungsfähig ist.20 Wird eine bestimmte Aufgabe wiederholt ausgeführt, verknüpft sich das Gehirn so, dass es diese Aufgabe immer besser erfüllen kann. Somit wird das Gehirn durch jede neue Gewohnheit frisch verknüpft. Gewohnheiten wie Meditation, Training und das Fühlen von Dankbarkeit verändern Gehirn und Körper tatsächlich, sodass wir unsere Emotionen allmählich besser regulieren können.21 (Auch helfen uns diese Gewohnheiten dabei, dass das Immun- und Verdauungssystem sowie andere Systeme ebenfalls effektiver funktionieren!)

Das heißt, jedes Mal, wenn wir uns davon abhalten, in einen »elterlichen Tobsuchtsanfall« auszubrechen, bauen wir an den Nervenbahnen, die uns beim Beruhigen unterstützen, damit wir auch dann zentriert bleiben können, wenn das Leben nicht rund läuft.22 Der einzige Haken? Diese Gewohnheiten müssen so lange trainiert werden, bis das Gehirn neu verknüpft ist und selbst dann müssen sie regelmäßig praktiziert werden, um die Verschaltung aufrechtzuerhalten.

Das ist eine große Verpflichtung. Aber Sie werden merken, wie sehr sich das lohnt. Während Sie immer achtsamer werden, selbst dann, wenn Sie innerlich zu kochen beginnen, werden Sie verhindern können, dass sich die Emotionen Ihrer bemächtigen. Es braucht tägliche Übung, damit wir in jenen schwierigen Augenblicken die Liebe wählen können.

Hier folgt ein kurzer Blick darauf, was im Gehirn vorgeht, wenn Sie sich aufregen. Danach betrachten wir, wie Sie diese Automatismen neu verknüpfen können.


Der Hirnstamm ist der Teil des Gehirns, der Ihre Atmung, Verdauung und andere automatischen Körperfunktionen in Gang hält. Vielleicht haben Sie davon unter der Bezeichnung »Reptiliengehirn« oder »Eidechsengehirn« gehört. Es arbeitet hart, um Sie am Leben zu erhalten.

Das limbische System besteht aus den Gehirnbereichen, die für Emotionen, Motivation, Verhalten und Gedächtnis zuständig sind. Das limbische System verbindet uns mit anderen, stellt sicher, dass wir aus vergangenen Erfahrungen lernen, und arbeitet hart für unsere Sicherheit. Alle Säugetiere haben ein limbisches System.

Der Teil des limbischen Systems, der Alarm schlägt, wenn uns Gefahr droht, ist die Amygdala. Sobald die Amygdala zum Alarm bläst – »Gefahr, Gefahr, Pass auf!« – wird das sympathische Nervensystem aktiviert und mobilisiert Sie zur Verteidigung durch Kämpfen, Weglaufen (Flucht) oder Verstecken (Starre). Stresshormone und Neurotransmitter überfluten den Körper: dazu bestimmt, Ihr Leben zu retten. Die Amygdala kann die Gefahr nicht einschätzen. Ihre Aufgabe besteht nur darin, beim kleinsten Hinweis auf ein Problem, Alarm zu schlagen. Sobald Sie also einen lauten Krach hören, sind Sie schon halb aus dem Sessel, bevor Sie überhaupt zu denken anfangen.

Die Amygdala tut immer ihr Bestes, damit Sie in Sicherheit sind, aber manchmal kommt es zu Überreaktionen, wenn sie etwas als Bedrohung einordnet, was keine ist. Während es zwar sinnvoll ist, dass die Amygdala ein Signal an den präfrontalen Kortex sendet, um noch einmal bewusst zu überprüfen, ob wirklich Gefahr besteht, ergibt es keinen Sinn, alle Verteidigungsregister zu ziehen, wenn Ihre Dreijährige trotzt. In diesem Fall ist wahrscheinlich eine Portion Humor – eine Spezialität des präfrontalen Kortexes – die beste Verteidigung.

Der zerebrale Kortex ist der bewusste oder »denkende« Teil des Gehirns. Er schließt den präfrontalen Kortex mit ein, den wir uns als die Exekutivfunktion oder Kommandozentrale des Gehirns vorstellen können. Der präfrontale Kortex kommuniziert mit dem übrigen Gehirn, um alle hereinkommenden Informationen zusammenzustellen, zu beurteilen, ob eine Gefahr real ist, und zu beschließen, wie sie am besten beantwortet werden soll. Beispielsweise mag er entscheiden, dass es sich bei dem lauten Krach um die Fehlzündung eines Autos und keinen Schuss gehandelt hat, also können Sie sich wieder in Ihren Sessel setzen.

In diesem Moment signalisiert der präfrontale Kortex dem Vagusnerv, Ihren Körper zu beruhigen. Der Vagusnerv, der dem Hirnstamm entspringt und sich durch den ganzen Körper zieht, ist der Hauptnerv des parasympathischen Nervensystems und hat die Aufgabe, die Kampf-Flucht-Reaktion des Körpers zu beruhigen und Herztätigkeit, Atmung und andere physiologische Funktionen wieder in ihren Optimalzustand zu bringen. Ist Ihr vagaler Tonus stark – das heißt, der Vagusnerv reagiert schnell – dann fällt es dem Körper leichter, sich nach Stress wieder zu beruhigen. (Ein starker vagaler Tonus wird ebenfalls mit optimaler körperlicher Gesundheit verbunden, einschließlich verminderter Entzündungsneigung.)

Ihr Werkzeugkasten zur Neuverdrahtung.

Sie kennen bereits das erste Werkzeug für die Neuverdrahtung Ihres Gehirns, das in der Aktivierung der Pausentaste Stopp-lass-los-atme besteht. Wenn Sie neben den weiteren Werkzeugen und Übungen in diesem Buch »Stopp-lass-los-atme« als neue Gewohnheit einführen, wird das die Tendenz der Amygdala zur Überreaktion verringern und den Vagusnerv kräftigen, sodass Sie sich in Zukunft schneller beruhigen können.23

Die vorherige Übung »Ihre automatische Reaktion unterbrechen«, verändert und ersetzt Ihre gewohnte Programmierung (beispielsweise schreien oder essen Sie vielleicht normalerweise, wenn Sie verstimmt sind) durch eine neue Alternative (beispielsweise Ihre Sorge mit jemandem teilen und um Hilfe bitten). Jedes Mal, wenn Sie auf diese andere Weise agieren, verknüpft sich das Gehirn neu, damit diese Wahl in Zukunft wahrscheinlicher wird.

Wenn wir über ein vergangenes Ereignis, das uns verstimmt hat, von der Warte des Geliebtseins und des Liebens nachdenken, dann entwickelt sich der präfrontale Kortex weiter, der uns hilft, vergangene Ereignisse zu verarbeiten und zu integrieren.24 Deshalb bekommen Sie von mir eine Übung, um sich von früher Gelerntem, das Ihnen nicht länger dienlich ist (zum Beispiel die Überzeugung, Sie seien nicht gut genug), zu trennen und es durch eine neugewonnene Erkenntnis zu ersetzen. (Sie sind mehr als gut genug, genauso wie Sie sind.) Zusätzlich habe ich im späteren Abschnitt des 1. Teils »Trauma heilen« eine Tagebuchübung zur Weiterentwicklung des präfrontalen Kortex für Sie.

Eine weitere Praxis, mit der Sie im Teil 2 »Verbundenheit ist das Geheimnis glücklicher Elternschaft« beginnen, ist das Kultivieren von Empathie. Das wird Ihnen nicht nur dabei helfen, eine tiefere Verbundenheit zu Ihrem Kind herzustellen (und wahrscheinlich auch zu Ihrer Partnerin / Ihrem Partner und anderen Menschen), sondern das Kultivieren positiver Emotionen lässt auch das Niveau der Hormone und Neurotransmitter im Körper ansteigen, die Ihnen ein Gefühl von Sicherheit und Wohlbefinden vermitteln.

Schließlich zeigen Tausende von Studienergebnissen, dass Meditation, die Sie sich als eine Art »Gehirntraining« vorstellen können, das Gehirn neu verknüpfen kann, Angst und Depression verringert und die Fähigkeit des Gehirns, zu Gelassenheit zurückzukehren, verbessert. Achtsamkeitsmeditation, einschließlich Körper-Scan und Fokussierung auf den Atem, fördert ebenfalls die Entwicklung des präfrontalen Kortex.26 Die Liebende-Güte-Meditation fördert das Mitgefühl, verändert, wie wir uns in Beziehungen mit anderen verhalten und erhöht das Wohlbefinden.27 Bereits acht Wochen engagierte Praxis der Achtsamkeitsmeditation28 kann die Amygdala beträchtlich zum Schrumpfen bringen. Daher ermutige ich Sie, zumindest mit einer kurzen täglichen Meditation oder Achtsamkeitsübung zu beginnen. Wir widmen uns dem Thema ausführlicher im Abschnitt über Achtsamkeit in Teil 1.

Heute in drei Monaten werden Sie merken, dass Sie

in diesen schwierigen Situationen nicht mehr so häufig

getriggert werden und sich schneller beruhigen. Auch

werden Sie wahrscheinlich feststellen, dass Sie im

Allgemeinen ruhiger und weniger gestresst sind. Wenn

weniger Stresshormone im System zirkulieren, heißt das,

dass Ihr Körper weniger vom Sympathikus und dafür

mehr vom Parasympathikus gesteuert wird. Also

wird auch Ihr Immunsystem besser arbeiten. Sie werden

gesünder und neigen weniger zu Übergewicht.

Was Sie nicht werden sehen können, weil wir keine Bilder von Ihrem Gehirn machen, ist, dass sich Ihre Gehirnstruktur tatsächlich verändert. Der Hippocampus, verknüpft mit Selbstwahrnehmung, Einsicht und Mitgefühl (wie auch mit Lernen und Gedächtnis), nimmt in seiner Substanzdichte zu, was bedeutet, dass tatsächlich neue Nervenverbindungen gebildet werden.29 Während Sie Ihr Sicherheitsgefühl steigern und sich seltener Sorgen machen, wird die Amygdala viel weniger zu tun haben, was ihr Schrumpfen begünstigt. Der Vagusnerv wird dazu befähigt, Sie rascher zu beruhigen. Schließlich wird der präfrontale Kortex an Aktivität und Größe zunehmen und Ihren Antwortreaktionen mehr geistige Klarheit, Einsicht und Flexibilität verleihen.30

Das heißt, wenn Sie sich mit jenen neuen Erfahrungen der Selbstregulation und Verbindung beschenken, wie in diesem Buch dargestellt, wird das die bevorzugte Antwort des Gehirns verändern: anstatt eine Bedrohung wahrzunehmen, die Alarmglocke zu läuten und loszuschlagen, wird es wahrnehmen, dass Sie emotional erregt werden, sich wieder beruhigen und eine gesündere Reaktion wählen. All jene Veränderungen werden zusammenwirken, um Ihr Gehirn neu zu verknüpfen, Sie zufriedener zu machen und Sie dazu zu befähigen, häufiger die Eltern zu sein, die Sie gern sein wollen. (Und in Teil 3 des Buches unterstützen wir Ihr Kind durch Coaching, damit sich auch sein Gehirn gesünder entwickelt.)

Gelassene Eltern - zufriedene Kinder

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