Читать книгу About Shame - Laura Späth - Страница 12
Die Scham fürchten
ОглавлениеWir verfolgen jetzt gemeinsam (m)eine Geschichte, also du, der*die Lesende, und ich. All das schreibe ich in der Hoffnung auf, dass du Verständnis hast. Ich erzähle die Geschichte, weil ich ziemlich lange nach Verständnis gesucht habe, weil sich durch meine Erzählung das Gefühl zieht, unverstanden zu sein. Immer fehl am Platz, irgendwie (w)ortlos. Unverständnis paart sich mit dem Gefühl, ausgeschlossen zu sein, nicht dazuzugehören. Vielleicht kannst du nachvollziehen, wie ich mich gefühlt habe, warum ich so gehandelt habe, weil du Teile meiner Geschichte wiedererkennst? Weil Teile meiner Geschichte auch Teile deiner Geschichte waren und vielleicht noch sind? Vielleicht haben unsere Geschichten ja manchmal etwas gemeinsam. Vielleicht begegnest du dir in einigen meiner Erfahrungen. Und vielleicht beginnst du mit Freund*innen, deiner Familie, Kolleg*innen, Vertrauenspersonen, vielleicht sogar mit weniger vertrauten Personen darüber zu sprechen, dich auszutauschen, zu diskutieren. Vielleicht zu streiten.
In dieser Geschichte gibt es keine bösen Menschen. Es gibt nur Menschen, die Entscheidungen treffen. Und Menschen, auf die diese Entscheidungen Auswirkungen haben. Alle Figuren sind immer beides, ich sowieso.
Man wird in diesem Buch über Scham vergebens nach Antworten auf Schuldfragen suchen. Wenn ich hier schreibe, dass mir Handlungen und Haltungen wehgetan haben, dann geht es nicht um diejenigen, die das gemacht haben und warum sie so gehandelt haben. Sondern es geht um das, was es in mir ausgelöst hat und warum. Solange wir das nicht verstehen, können wir die Geschichte nicht verstehen, die Scham nicht sezieren. Wenn wir immer nur nach Gründen fragen, aber nie nach Folgen. Die Scham ist Grund und Folge zugleich.
Ich bin keine Psychologin, habe kein psychologisches Studium abgeschlossen, keine psychotherapeutische Ausbildung gemacht. Auch deshalb ist das hier kein Ratgeber, der Menschen sagt, wie sie glücklicher werden oder besser mit Scham umgehen können. Das hier ist einfach nur meine Geschichte, inklusive ein paar der Dinge, die ich aus meinem Studium oder meiner Therapie weiß, die ich im Lesen begriffen habe und die ich versuche für mein Leben zu lernen.
Die Vorstellung, meine Geschichte zu erzählen, macht Angst. Nicht weil sie so besonders schlimm wäre oder weil ich mich nicht gründlich genug mit ihr auseinandergesetzt hätte, um zu wissen, was da ist. Nein, ich habe Angst vor eurem Blick, eurem Urteil. Davor, dass ihr mir meine Geschichte entreißt und sie anders erzählt oder dass ihr sie anders lest, als ich es mir wünsche. Das fällt mir immer noch schwer: zu akzeptieren, dass andere Menschen vielleicht ganz anders über mich denken und reden, als ich es will. Dass andere Menschen eine andere Geschichte von mir erzählen könnten. Wenn jemand mir meine Geschichte nehmen will, gerate ich in Panik, werde wütend. Weil es schon Momente gab, wo das passiert ist; wo sich Menschen meiner Geschichte bemächtigt haben und geglaubt haben, sie dürften über meine Geschichte entscheiden. Deshalb führe ich den Kampf um meine Geschichte manchmal mit absurder Vehemenz und manchmal an Stellen, an denen es absolut überflüssig ist. Aber diese übermäßige Vorsicht ist eine Folge aus dem, was ich bisher erlebt habe. Gerade jetzt merke ich, wie ich versuche mich zu rechtfertigen. Und das ist ein weiteres Muster in meinem Verhalten, das mich nervt, aber immer da ist: das Bedürfnis, mich zu rechtfertigen, um keinesfalls falsch verstanden zu werden. Die riesige Angst davor, nicht zu gefallen. Und sich nicht richtig darzustellen: mich als schwächer zu präsentieren, als ich sein will. Nur die negativen Facetten hervorzuheben oder gar zu jammern. Die große Frage dabei: Wie bringt man Leute dazu, die eigene Geschichte und ihre Scham zu verstehen, ohne wie der letzte mitleiderregende Wurm dazustehen?
In Schreibtisch mit Aussicht merkt Ilka Piepgras im Vorwort an: »Frauen denken beim Schreiben den Blick von außen instinktiv mit, sie zensieren sich selbst.«6 Um Blicke wird es in diesem Buch oft gehen, denn mit ihnen kommt und geht die Scham. Und ich denke, Piepgras hat recht mit ihrer Behauptung – ich kann mich da nicht ausnehmen. Ich weiß, welche Kritik an meinem Schreiben kommen kann und wird: auch dies hier sei »Betroffenheitsprosa«, wäre selbstbezogen, nach innen gerichtet, wenig übertragbar. Ich weiß, dass ich radikal subjektiv schreibe, dass ich mit dieser Geschichte meiner Geschichte einen Raum gebe, den ich ihr sonst nie gegeben habe. Weil ich immer versucht habe, den Blick von außen mitzudenken. Mich ihm anzupassen, um Scham zu vermeiden.
Immer war ich damit beschäftigt, eben genau nicht zu tun, was ich wollte, weil das nicht ist, was ich gelernt habe. Mit diesem Buch nehme ich mir endlich Raum. Eigentlich ist dieses Buch also all das, was ich mich nie getraut habe, wovor ich immer Angst hatte, was mit viel zu viel Scham belegt war. Und gleichzeitig ist das, was du hier in der Hand hältst, auch ein Kampf um das Recht auf Emotion und auf Scham. Ein Kampf um meine Scham.
Trotzdem: Blicke ich auf die Menschen, oft Frauen, die sich so vorbildlich in mein Leben eingeschrieben haben, die mir Teile ihrer Geschichte erzählt haben, so eindrücklich, als würde ich mit ihnen gemeinsam bei einem guten Wein auf der Couch sitzen und ihnen zuhören – blicke ich auf sie, ihr Schreiben und darauf, wie mit ihren Werken umgegangen wird und wurde, bekomme ich Angst. Mely Kiyak zum Beispiel, die als Teil der »Hate Poetry«-Veranstaltungen an sie gerichtete Mord- und Vergewaltigungsdrohungen, Hassbriefe und Verwünschungen vorlas. Oder Margarete Stokowski, die sich auch in ihrer Kolumne immer wieder mit Hate Speech auseinandersetzt. Wäre mein Französisch gut genug, würde ich auch nachlesen, welche Reaktionen es auf Annie Ernaux’ Werke so gab. Gut, dies sind Frauen, die wirklich bekannt sind, zu deren Texten es Kommentarspalten gibt. Das sind alles Frauen, deren Schreiben kritisch beäugt wird und deren politische Ansichten noch mal doppelt kritisch begutachtet werden. Aber trotzdem weiß ich, dass man nicht bekannt sein muss, um gehasst zu werden. Vielleicht werden Leute sagen: »Ach, das war ja klar, wieder so eine Frau, die halt über Gefühle schreibt, nichts Neues.« Vielleicht werden Leute mir vorwerfen, ich würde jemanden nachahmen oder imitieren. Wenn sie wollen, wird ihnen etwas einfallen.
Ich versuche gedanklich alle Argumente durchzuspielen, die mich treffen könnten und mir Gegenargumente zu überlegen. Ich versuche mich mental schon vorbereitend zu immunisieren, vergesse dabei, dass ich ja noch vor dem Anfang stehe. Und dass es hier darum geht, mal nicht auf die Blicke der anderen Rücksicht zu nehmen, sie schon im Vorhinein zu beachten und zu deuten. Sondern meinen Blick auf mich zu richten und auf das, was meine Geschichte ausmacht. Dabei tue ich natürlich den Geschichten anderer Leute unrecht. Ich webe sie einfach so in meine Geschichte ein, obwohl ich sie zum Teil gar nicht komplett kenne. Weil ich weiß, wie furchtbar es sich anfühlt, seiner Geschichte beraubt zu werden, fürchte ich mich davor, das anderen Leuten auch anzutun.