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Wachsende Scham

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Fast würde ich mir wünschen, dir eine ästhetische Geschichte über die Scham und das Schreiben erzählen zu können. Mit Spannungsbogen und Happy End. Sie würde dann einer klassischen Dramaturgie folgen – in Kurzform etwa so:

Irgendeine Erfahrung der Demütigung, der Ausgrenzung, die Schamgefühle nach sich zieht. Sie steigern sich klimaktisch bis zum schmerzhaften Höhepunkt. Dann: schreiben als Erlösung, als Rettung. Ende: Die Scham ist weg. Ich habe sie schreibend überwunden. Die Moral: sich öffnen, erzählen, Schreiben löst die Scham auf. In der Verbindung mit den Lesenden stirbt sie, weil Scham sich von der Einsamkeit nährt. Das stimmt und gleichzeitig ist es auch falsch.

In dieser Geschichte würde ich mit einem Glas Rotwein an meinem Küchentisch sitzen, vor meinem Laptop, vielleicht noch eine Zigarette in der Hand? Rauchen und Schriftstellerin sein, das passt zusammen. Aber ich würde dich anlügen, würde ich meine Geschichte so erzählen.

Die Wahrheit ist, dass die Seiten teilweise entstanden sind, als mir nichts mehr gesichert schien, kein einziger Gedanke, kein Wissen, keine Überzeugung. Oder als ich noch neben der Kloschüssel saß, das Erbrochene noch nicht einmal hinuntergespült und den Speichel in meinem Mundwinkel noch gar nicht richtig weggewischt hatte. Die Wahrheit ist, dass nichts an diesem Schreibprozess ästhetisch oder erleichternd war.

Es war schmerzhaft. Es war unangenehm. Wie ein Tier habe ich mich um das Schreiben gewunden. Ich war der Überzeugung, es hätte keinen Zweck, all das aufzuschreiben. Es würde nicht helfen, mir nur noch mehr schaden, weil es in der Vergangenheit eine so selbstschädigende Praxis gewesen war, alles aufzuschreiben, was mir durch den Kopf ging.

Ich dachte mal, ich würde an meiner Scham sterben. Sie würde mich umbringen, sich wie eine Schlingpflanze allmählich um meinen Hals legen, um mich irgendwann im Schlaf zu erdrosseln.

Und tatsächlich ist das Bild der Pflanze eines, was mir im Bezug auf die Scham sehr gut gefällt: Eine Freundin erzählt mir von einem ganz bestimmten Moment, der für ihre Schamgefühle maßgeblich war. Um das zu veranschaulichen, wählt sie das Bild der Pflanze: Jemand demütigt uns, verletzt uns oder trifft uns an einem sehr verwundbaren Punkt unseres Selbst. Wir werden hart kritisiert, vielleicht sogar traumatisiert, ausgegrenzt oder sind öffentlicher Stigmatisierung und Beschämung ausgesetzt – hier wird der Samen für die zukünftige Schampflanze gesät. Im Laufe der Jahre kommen andere Schamsituationen hinzu. Wir fallen raus aus irgendwelchen Mustern, die von wem auch immer zum Ideal erklärt werden, und die Schampflanze wächst weiter. Sie wächst und wächst und wächst. Vielleicht wächst sie uns über den Kopf.

Ich will wissen, woraus meine Schampflanze besteht und wie sie so groß werden konnte. Das zu ergründen bedeutet, auch die Existenzbedingungen dieses Textes abzustecken, auf bestimmte Figuren immer wieder zurückzukommen. Was sind die Voraussetzungen meiner Scham, was ist das Material, aus dem die Pflanze besteht? Und, wenn ich es herausgefunden habe, was mache ich damit?

Annie Ernaux schreibt: »Nur weil man die eigene Scham versteht, kann man sie noch lange nicht überwinden.«7 Und ich glaube, sie hat recht damit. In den Schmerz reinzugehen, heißt nicht, dass er erträglicher wird. Und ich suche mir immer wieder Auswege, um bestimmten Erinnerungen nicht gegenübertreten zu müssen.

Meine Scham soll nicht gänzlich verschwinden, deshalb will ich ihr begegnen. Ich will die Distanz zwischen mir und meinem vergangenen Ich verringern, sie abschreiten. Dafür muss ich an die Schammomente ran, auf denen die Distanz beruht. Versuchen, noch mal zurückzugehen in die eigene Jugend, auch wenn ich manchmal glaube, dass das unmöglich alles passiert sein kann, dass ich unmöglich so empfunden haben kann, dass nie im Leben ich diejenige war, die diese Tagebucheinträge geschrieben hat. So groß ist die Distanz zum eigenen Selbst geworden.

Als ich vor einem Bekannten zugebe, dass ich wahnsinnig gerne irgendwann meine Autobiografie schreiben würde, erwidert er: »Für eine Autobiografie muss man was erlebt haben.« Vermutlich meint er damit nicht einfach nur, dass man irgendetwas erlebt haben muss, sondern dass man etwas Besonderes erlebt haben muss. Was auch immer das dann sei.

»Stimmt«, denke ich, und bin entmutigt. Ich habe nichts erlebt. Schon gar nichts Besonderes. Ich habe genau das erlebt, was tagtäglich zig Menschen irgendwo erleben, und darüber öffentlich zu schreiben lohnt sich nicht. Und ich fürchte an diesem Abend auch, nicht gelebt zu haben. Nichts mehr erzählen zu können, keine Geschichte mehr zu besitzen. Aber die Scham belehrt mich eines Besseren – und deshalb will ich meine Geschichte entlang der Scham erzählen, des Schamerlebens. Denn vielleicht sollte man ja dem Alltäglichen mehr Aufmerksamkeit widmen, den Randgestalten, dem Beiläufigen, den wiederkehrenden Ängsten und Gedanken und den sich immer wiederholenden Mustern.

Georges Perec: »Schreiben: peinlich genau versuchen, etwas überleben zu lassen: der Leere, die sich hält, einige deutliche Fetzen entreißen, irgendwo eine Furche, eine Spur, ein Merkmal oder ein paar Zeichen hinterlassen.«8

AUnter anderem Richard Wollheim, Sighard Neckel, Caroline Bohn und Achim Geisenhanslüke, die im Laufe des Buches noch stärker zu Wort kommen werden, aber auch Klassiker der Soziologie wie Georg Simmel oder Norbert Elias.

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