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Kapitel Zwei KEIMEN
ОглавлениеSei wie alle, dann bist du sicher vor dem Ausschluss aus dem Rudel.
Benehme dich ordentlich, normal, unauffällig, zahl deine Steuern,
wasch deine Gardinen, sonst wird der Mob dich erschlagen mit
Fackeln in der Hand. Wenn es schon keine neue Welt gibt nach dem
schweren Jahr, dann kann man wenigstens klein beginnen – streichen
wir das Wort »normal« aus unserem Wortschatz, es hat schon so oft
zur Vernichtung, zu Hass und Krieg geführt.
SIBYLLE BERG
Raum einnehmen: Ich wachse. Mein Körper wird größer. Ich lerne zu sitzen, zu stehen, zu gehen, zu sprechen.
In meiner Familie bin ich das jüngste Kind, das sich darüber im Klaren ist, dass alle ihm Vorgaben machen dürfen. Wobei das trotzdem nie heißt, keine Wahl zu haben. »Zu folgen« ist zunächst nicht mein Ding. Ich bin relativ schnell der Überzeugung, es besser zu wissen als der Rest der Welt.
Kinder entwickeln meist im Alter von drei bis fünf Jahren ihr Schamgefühl. Zunächst schämen sie sich immer nur für sich selbst, Fremdscham kennen sie noch nicht. Um sich zu schämen, müssen sie sich in andere Menschen hineinversetzen können. Die ersten Empfindungen von Scham sind meistens an die Regeln gekoppelt, die sie in ihrer Familie lernen und mitbekommen: Was die Eltern schlecht, falsch oder eklig finden, lehnen die Kinder oft auch erst mal ab. Das kindliche Schamgefühl ist also eng verbunden mit einem »Regelverstoß«.9 Das Schamgefühl geht mit einem ersten Anflug von Moral einher und dem Bewusstsein darüber, dass es etwas gibt, was außerhalb des eigenen Empfindens liegt: Die Gefühle und Bedürfnisse anderer, meist der Familie. Dass es überhaupt eine Welt abseits des eigenen Kopfes gibt.
Dieses Bewusstsein weitet sich im Laufe der Zeit aus: Wir bemerken, dass es nicht nur die eigenen vier Wände und vielleicht noch die Straße vor dem Haus gibt, sondern viele Straßen, viele Häuser, ganze Städte, Länder, Kontinente, die sich dem eigenen Blick entziehen.
Das bedeutet auch, dass es für jeden Menschen eine Zeit ohne Scham gegeben haben muss. Auch für mich. Über diese Zeit kann ich nichts sagen und vielleicht kannst du das über deine auch nicht, denn: Erst in der Abgrenzung zu anderen, also dadurch, dass wir erkennen, dass wir nicht identisch mit anderen sind, dass wir uns von ihnen unterscheiden, können wir uns selbst wahrnehmen. Unsere Gefühle, unsere Bedürfnisse, unser individuelles Wesen. Byung-Chul Han schreibt in Die Austreibung des Anderen: »Der Andere ist konstitutiv für die Bildung eines stabilen Selbst.«10 Konflikte sind notwendig, um eine stabile Identität zu entwickeln, beständige Bindungen und Beziehungen aufzubauen. Das Problem des Menschen der Gegenwart sei aber, dass dieser nur den Zustand des Funktionierens oder Versagens kenne, aber nicht den Zustand des Konflikts.11 Bezogen auf Scham kann ich nicht uneingeschränkt mit Han mitgehen, der behauptet, wir würden »dem Anderen« nicht mehr wirklich begegnen, sondern in unseren immer gleichen Filterblasen verloren gehen.12 Aber dann dürfte es ja eigentlich auch nicht mehr zu Scham kommen, oder? Denn für Scham ist der Blick der anderen, entweder wirklich oder in der eigenen Vorstellung vorhanden, essenziell: Sighard Neckel, wohl einer der bekanntesten Soziologen, wenn es um Scham geht, macht deutlich »dass das menschliche Selbstbewusstsein auf die Wahrnehmung durch andere angewiesen und damit durch sie auch verwundbar ist. Das persönliche Selbstbewusstsein baut sich nicht nach der Logik des eigenen Ich auf. Das persönliche Selbstbewusstsein versichert sich seiner durch die Wertungen Dritter, und an diesen Wertungen geht es womöglich zugrunde.«13 Neckel und Han haben gemeinsam, dass sie um die Bedeutung der anderen für die Bildung einer eigenen Identität wissen. Erst dadurch, dass wir ein »Außen« definieren, also etwas, das außerhalb unserer eigenen Grenzen, unseres Körpers liegt, entwickeln wir ein Gefühl dafür, wer wir denn eigentlich sind, was uns als Individuen ausmacht. Aber genau mit dieser Abgrenzung von anderen wird gleichzeitig das Schamgefühl ermöglicht. Wir sind auf das angewiesen, was außerhalb unseres Selbst liegt. In der Scham zeigt sich, dass das vielleicht nicht so weit weg ist, wie Han denkt.
Wir lernen, dass wir nicht nur Beobachtende sind, sondern gleichzeitig auch immer die Objekte von Beobachtung. Und dass wir uns von anderen unterscheiden, möglicherweise auch in einer Art, die wir selbst oder aber andere nicht gutheißen. Es gibt also nicht nur unseren eigenen Blick, der sich beurteilend und bewertend auf andere richtet, sondern immer auch den Blick der anderen, der wiederum uns bewertet und beurteilt. In diesem Blick der anderen liegt laut Jean-Paul Sartre die erste Möglichkeit für Scham: »Die Scham aber ist […] Scham über sich, sie ist Anerkennung dessen, daß ich wirklich dieses Objekt bin, das der Andere anblickt und beurteilt.«14
… und beurteilt. Sartre beschreibt, dass der Blick kein neutraler ist, sondern dass dieser uns prüft. Und wenn andere und wir selbst merken, dass wir anders sind als jene oder als »die Norm«, wenn dieses Anderssein dann von uns selbst und anderen negativ beurteilt wird, schämen wir uns.
Das klingt komplex. Das klingt nach schwierigen Philosophen, die sich in ihren Studierzimmern irgendwas mit Blicken und Objekten und Subjekten überlegt haben. Deshalb sehe ich mir an, wann eigentlich meine Scham eingesetzt hat und worauf sie sich bezogen hat. In der Hoffnung, dass der Beginn des Schamgefühls verständlicher wird.
Mein Opa, bei dem ich als Kind die meiste Zeit verbringe, und ich haben unseren eigenen kleinen Kosmos, mit unseren eigenen Regeln: Wir sind gut zu anderen, tun uns und auch niemand anderem weh. Wir machen niemandem Ärger, entsprechen den an uns gestellten Erwartungen und streiten nicht mit Leuten, schon gar nicht mit unserer Familie. Am wichtigsten aber ist: Wir kümmern uns um andere. Vor allem kümmert er sich um mich und ich mich um ihn, aber auch sonst kümmern wir uns um andere. Meine Familie trägt Fürsorge für mich und ich gebe diese Fürsorge zurück, indem ich keinen Mist baue.
Im Kindergarten hätte es dank meiner Kindergärtnerin viel Potenzial für Scham gegeben, aber ich realisiere das damals nicht als Beschämung. Ich schlucke ihre Grausamkeiten schlicht runter, schiebe sie weg, befasse mich nicht damit. Dass meine Kindergärtnerin mir bedingungslosen Gehorsam auf ziemlich harte Art und Weise beigebracht hat, verstehe ich erst Jahre später. Aus ihren Erziehungsmethoden lerne ich, dass ich mich nach anderen zu richten habe, wenn ich nicht bestraft werden will. Auf ihre Methoden werde ich an anderer Stelle noch zurückkommen, denn deren Folgen zeigen sich erst einige Jahre später.
Weil ich im Kindergarten lerne, mich immer anzupassen und unterzuordnen, bin ich auch in Konflikten mit meiner Familie relativ wehrlos. Ich versuche, Streit zu vermeiden und weiß nicht, wie ich zu mir oder für mich einstehen soll. In ernsteren Streitsituationen mit Familienmitgliedern stehe ich immer nur da, den Tränen nahe und kann keine Widerworte geben. Ich schweige. Während dieser Zeit fühle ich mich oft schuldig, wenn man davon ausgeht, dass Schuld sich auf Handlungen bezieht und Scham auf das Selbst:A Ich nehme mich nicht grundsätzlich als falsch wahr, sondern ordne meine Handlungen dann als fehlerhaft ein (und mich als schuldig), wenn diese von außen so bewertet werden. Mein Verhalten richte ich vorsorglich immer anhand der Meinung anderer aus, ich bin ein Schwamm: Ich sauge einfach alles auf, was ich in meinem Umfeld wahrnehmen kann und entscheide danach, was ich eigentlich will und fühle. Ich lerne also nicht richtig, mich eigenständig und bewusst von anderen abzugrenzen, sondern ich werde abgegrenzt, von außen, von anderen. Zur Gänze erklären kann ich diese Prozesse auch heute nicht, aber meine mangelnde Fähigkeit zur Abgrenzung macht mich ziemlich schamanfällig, was nicht folgenlos bleibt: Ich lerne nicht, in der Differenz zu leben.
Im Kindergarten zeigt mir niemand, dass meine Gefühle und Bedürfnisse in Ordnung sind und dass ich bei Meinungsverschiedenheiten nicht gleich verlassen werde. Konflikte bedeuten für mich immer auch potenziell Alleinsein als Strafe, obwohl das gar nicht so sein muss.
Also lerne ich auch nicht, mich durchzusetzen, obwohl meine Mutter versucht, mir genau das immer beizubringen. Sie weiß, dass ich das brauche, um durch meine Schulzeit zu kommen. Und sie weiß, dass ich mit so etwas konfrontiert sein werde wie Gruppenzwang. Sie versucht mir mitzugeben, dass ich darüberstehen kann. Aber das schaffe ich nicht.
Überangepasstheit bedeutet ein sich stetig erweiterndes Feld möglicher Schamsituationen. Wenn du dich immer angenehm verhalten möchtest, vermehren sich die Situationen, in denen du Scham fühlst, weil du den Blick der anderen immer mitdenkst.
Schon in der Grundschule will ich das, was vermutlich alle Kinder wollen: dazugehören und genau so sein wie die anderen. Sich kollektiven Zwängen zu verweigern, heißt, in den Konflikt mit Normen zu geraten. Du weißt, was jetzt kommt:
Zunächst erlebe ich Überforderung im Angesicht der Orientierungslosigkeit, der ich in der Schule ausgesetzt bin. Die elterliche Autorität mit klaren Regeln trifft auf ein vollkommen neues soziales Gefüge, mit anderen Regeln und Normen. Es geht in erster Linie nicht mehr so sehr um »Gehorsam« und »Aufrichtigkeit«, sondern eben um »Zugehörigkeit«, vor allem innerhalb der Peer-Group. Hier zählt Anpassung, ohne dabei unauthentisch zu wirken. Das Problem bei all diesen Begriffen wie »Zugehörigkeit«, »Norm« und »Identität« ist die Tatsache, dass sie eine sehr enge Beziehung zur Scham pflegen, die sich manchmal für diejenigen, die damit Schwierigkeiten haben, sehr schmerzhaft anfühlt.
Wo der Normverstoß ist, wo die Abweichung, das Fremde und Unbekannte lauern, da ist auch die Beschämung, die Demütigung nicht weit. Meine größte Angst? Unbeliebt zu sein, nicht gemocht zu werden. Beschämt zu werden, wieder und wieder. Das hat natürlich etwas mit einer Selbstsicherheit zu tun, die wir erst gewinnen können, wenn unser Umfeld signalisiert: Du bist in Ordnung, so wie du bist. Passiert das Gegenteil, stürzen besonders Kinder und Jugendliche oft in eine Krise. Weil sie in ihrem bisherigen Leben weniger Möglichkeiten hatten zu erfahren, was sie zu einem wertvollen Menschen macht. Ihre Identität ist unsicher, noch im Werden, und Erfahrungen, nicht gemocht oder gewollt zu sein, stecken sie zwar auf den ersten Blick oft leichter weg, nehmen daraus aber vielleicht trotzdem eine psychische Verletzung mit.15 Ein anderer bedeutender Faktor ist, dass ab dem Punkt, an dem Kinder in den Kindergarten oder zur Schule gehen, ein anderer Druck auf ihnen lastet, die Gesellschaft einen anderen Einfluss auf sie nimmt als zuvor. Und mit der Gesellschaft kommen auch Normen mit einer neuen Intensität ins Bewusstsein von Menschen. Als Bedingung für dieses Bewusstsein sieht der Soziologe Sighard Neckel die Verinnerlichung dieser Normen.16 Beschämend wirken sie erst auf uns, wenn wir diese Normen einhalten und sie so zu einem individuellen Verhaltensmaßstab erklären.17 Verkürzt könnte man also behaupten: Scham braucht den Normbruch und damit verbundene Normen, imaginierte oder real vorhandene Blicke von außen, und das Bedürfnis in uns, diesen Normen zu entsprechen. Wir werden später sehen, dass das nicht uneingeschränkt stimmt, aber fürs Erste nehmen wir’s mit.
Man könnte jetzt denken, dass Anpassung um jeden Preis ein Garant für die Vermeidung von Scham wäre. Aber: Sowohl der Normbruch kann Scham erzeugen als auch die Anpassung, gerade in der Kindheit und Jugend. Nämlich dann, wenn der Wille zur Anpassung als solcher sichtbar und von anderen erkannt wird. Wenn man es »zu sehr versucht«. Genau die Überangepasstheit stellt dann den Normbruch dar:
Vermutlich kennen wir alle Menschen, von denen wir irgendwann einmal gedacht haben, dass sie es »zu sehr wollen«, dazuzugehören. Dass sie zu aufdringlich sind in ihrem Bedürfnis nach Anerkennung. Wahrscheinlich kennen wir den Gedanken, dass wir Menschen zur Individualität, zum Widerspruch herausfordern wollen. Letztendlich ist das schon in der Clique nicht anders: Von uns wird erwartet, Trends zu folgen. Gleichzeitig aber diese Trends früh genug mitzumachen, bevor sie zum Trend werden. Ab dem Moment, an dem etwas Trend ist, ist es eine Schande sich dem Zwang noch unterzuordnen. Man sei dann nicht mehr »authentisch«, was immer das ist. Du musst dich dem Kollektiv unterordnen, darfst dabei aber auf keinen Fall so wirken, als würdest du dich anbiedern, verstellen oder absichtlich so verhalten, dass du zu den anderen passt. Du sollst unangepasst angepasst sein, quasi.
In der Grundschule setze ich aber keine Trends. Ich habe nie coole Pausenbrote dabei, trage die alten Klamotten von meinen Schwestern, bin nicht überdurchschnittlich begabt in irgendetwas und außerdem eine beschissene Fängerin. Die Kinder auf dem Schulhof haben es lieber, wenn ich nicht mitspiele, und kommt es doch mal dazu, hasse ich es, die komplette Pause über in der exponierten Position der Fängerin bleiben zu müssen. Immer irgendjemandem hinterherzulaufen, den man doch nie erreicht. Die meiste Zeit verbringe ich allein, in einer Ecke des Schulhofs. Und manchmal kommt ein Junge zu mir und teilt seinen Zitronenkuchen mit mir.
Natürlich würde ich gerne mitspielen und leide darunter, dass ich nicht dazugehöre. Aber das ist damals noch keine Scham. Ich schäme mich für dieses Alleinsein kaum, weil ich noch nicht weiß, dass man dafür beschämt werden kann oder dass die anderen Mädchen mich komisch finden könnten. In diesen Momenten bin ich naiv, weil ich nicht verstehe, was die Hälfte meiner Schulzeit eigentlich passiert. Die Scham dafür kommt erst im Nachhinein.
Es gibt nicht nur die kurzfristige Scham, die direkt auf ein Ereignis folgt. Bis die Scham eine*n einholt, können Jahre vergehen. So ist es auch bei mir: Ich schäme mich damals nicht dafür, von den anderen nicht gemocht oder schlecht behandelt zu werden. Ich schäme mich nicht dafür, ausgeschlossen zu sein, meine Pausen allein zu verbringen. Ich erlebe es einfach nur und manchmal fühlt es sich unschön an. Erst Jahre später fühle ich all die Gefühle, bemerke ich all die Ängste, die ich damals nicht realisiert habe. Oder die ich vielleicht auch nur verdrängt hatte, weil ich nicht bereit war, mich damit zu beschäftigen.
Für mich ist es zunächst ein Rätsel, warum dieses Mädchen, das im Kindergarten meine beste Freundin ist, mich in der Grundschule links liegen lässt wie einen zu klein gewordenen Mantel. Ich verstehe nicht, warum manche Mädchen nicht wollen, dass ich in der Pause mitspiele. Ich verstehe nicht, warum manche Mädchen nur dann nett zu mir sind, wenn wir uns zu zweit auf dem Heimweg befinden. Auf diesem Schulhof taucht eine Figur auf, die mich zwei Drittel meiner Jugend begleiten wird: dass Leute aufrichtig gerne mit mir Zeit verbringen – wenn sie mit mir allein sind. Dass sie dabei nicht gesehen werden wollen.
Warum mich meine Familie und bestimmte Freundinnen zwar zu mögen scheinen, andere aber wiederum nicht, ist mir ein Rätsel. In meiner Welt gibt es keine unterschiedlichen Einschätzungen oder Meinungen über Personen. Es gibt nur die Möglichkeit, ein wertvoller Mensch zu sein oder eben nicht. Ich lese das an den Reaktionen auf mich ab. Die Entscheidung liegt also für mein Empfinden nie in meiner Macht, sondern sie wird für mich immer von anderen getroffen. Meine Familie hatte beschlossen, dass ich wertvoll bin. Und in der Schule habe ich gelernt, dass das Gegenteil der Fall ist.
Manche Mädchen bestimmen bereits in der Grundschule, dass ich zwar Hauptrollen im Theater spielen kann, aber eben immer die eine Person zu viel beim Fangen bin. Oder dass ich in der Gruppe der Mädchen, die man zum Geburtstag einlädt, zwar dabei bin, aber innerhalb dieser Gruppe immer eine Außenseiterinnenposition innehabe. Bis heute gehe ich auf Geburtstagsfeiern nie ohne die Angst vor unangenehmen Situationen, in denen ich irgendwie deplatziert wirken könnte. Überhaupt, das Gefühl des »Fehl am Platz«-Seins betritt hier zum ersten Mal die Bühne. Und mit ihm ein Gefühl der Duldung.
Stell es dir vor: Überall, wo du bist, bist du maximal geduldet, aber weit davon entfernt, dazuzugehören. Du kannst es dir nicht erklären, dein »Anderssein« nicht entschlüsseln. Seit Jahrhunderten denken und schreiben Menschen an genau dieser Figur herum: Dem »Anderen«, dem Anderssein. Und sie versuchen sich einen Reim darauf zu machen, weil es immer diese »Anderen« gab. Man liest davon in nahezu jeder Autobiografie. Zahllose Highschool-Filme drehen sich um diese »anderen« Figuren, Hauptrollen dieser Geschichten, die dann irgendwann als »umso wertvoller« entdeckt werden. Eigentlich alle Menschen wollen sich »anders« wissen, aber wenn man in der Position des »Anderen« ist, ist das gar nicht mehr so angenehm. Dann tut es weh. Dann kommt die Scham. Sie markiert die Grenze zwischen Norm und Abweichung. Und du bist eben die Abweichung. Letztendlich endest du auf dem Boden des Schulhofs, mit diesem einen Freund, der seinen Zitronenkuchen mit dir teilt. Der dir zuhört – vielleicht? Und du hoffst, dass die Schulzeit bald wieder vorbei ist, denn bisher ist sie nicht so, wie man es dir versprochen hatte. Bisher erweist sie sich als die anstrengendste Zeit deines Lebens, weil du dich damit beschäftigst, passen zu wollen und daran zu scheitern. Zu viel und nicht genug zu sein. Ein deplatzierter Legostein in einem Haufen neuen Spielzeugs zu sein.
Gehen wir noch mal kurz zurück zu Sartre, der schreibt, dass für Scham eine irgendwie geartete negative Beurteilung notwendig ist. Entweder sie wird uns von außen direkt kommuniziert oder aber wir wissen, dass wir garantiert negativ beurteilt werden, würde uns jemand sehen. Eine dritte Möglichkeit ist, dass wir selbst uns negativ bewerten – dass unsere eigene Bewertung immer abhängig davon ist, was wir bisher gelernt und mitbekommen haben, ist klar. Wie wir mit diesen negativen Beurteilungen oder auch nur ihren Annahmen umgehen, bestimmt mit, wie wir Erfahrungen verarbeiten. Und das wiederum hängt auch von unserer individuellen Psyche ab: Theoretisch wäre es denkbar, Ausgrenzung hinzunehmen, ohne am eigenen Selbstwert zu zweifeln. Dann würde Scham vermutlich nur begrenzt oder gar nicht auftreten. Das ist aber vor allem natürlich im späteren Kindesalter und in der Jugend nur sehr schwer möglich. Ich für meinen Teil weiß, dass ich die Ausgrenzung der anderen stark auf mich bezogen habe und auf die Frage danach, was ich eigentlich wert bin. Zu wenig, schließe ich aus ihrem Verhalten mir gegenüber. Und weil ich glaube, dass es nicht eine konkrete Verhaltensweise an mir ist, die man nicht mag, oder ein Charakterzug, den ich an mir habe, sondern mein gesamtes Selbst, kommt Scham über mich. Sie ist – wie wir bereits wissen – das Gefühl, das auftritt, wenn du nicht eine Sache falsch machst, sondern insgesamt und komplett, als Ganzes falsch bist.
Cut. Anmerkung zu dem, was ich bisher geschrieben habe: Meinem Schreibprozess sehe ich den Schmerz an. Meine Therapeutin fragt mich, wie ich so nüchtern über alles sprechen kann, was damals war. So als hätte ich bereits mit allem abgeschlossen, mich damit arrangiert, dass die Umstände suboptimal waren, besser hätten sein können.
Und im Schreiben wird deutlich, was eigentlich tief sitzt. Ich schlucke immer wieder, muss ständig Pausen machen, lenke mich ab, schließe das Dokument, öffne es wieder, gehe laufen, litere Tee und Kaffee in mich hinein, um den Hunger nach dem zu stillen, was aufkommt, wenn ich über diese Vergangenheit nachdenke. Um das Loch zu schließen, das die Scham in meinen Körper gefressen hat. Wenn ich laufe, laufe ich weg von meiner Erinnerung. Und gleichzeitig hin zu einem Umgang mit ihr, der weniger schmerzhaft, aber dafür vermeidend-abwehrend ist.
Wenn es zu hart ist, rufe ich eine Freundin an, die weiß, womit ich damals gekämpft habe. Spreche darüber, um nicht darüber schreiben zu müssen. Spreche, weil ich vor ihr nicht mehr erklären muss, sondern reden kann. Die Erklärung ist das Problem. Die Darstellung bis zur vollkommenen Nachvollziehbarkeit entzieht sich mir. Ich kann nicht lange am Stück hieran schreiben. Auch weil es viel Anstrengung kostet, sich an alles zu erinnern. Denn mein Gedächtnis hat beschlossen, das, was damals war, hinter einen sehr schweren Vorhang zu packen. Es weigert sich, ihn zu lüften. Wäre es nicht besser, die Scham begraben zu lassen, im Vertrauen darauf, dass mein Bewusstsein ganz genau weiß, womit es umgehen kann und womit nicht?
Andererseits: Ich trage Verantwortung. Gegenüber dem Mädchen, das damals so verzweifelt nach Antworten gesucht hat. Eine Verantwortung zur Beantwortung ihrer Fragen. Es hat all das durchgestanden und hatte nicht den Schutz, den die Vergangenheitsform als Abwesenheit beinhaltet. Es hatte keinen ermutigenden Blick in die Zukunft und die Gewissheit, dass es eine geben wird. Es hatte nur sich und seinen naiven Blick auf die Welt.
Dritte Klasse. Die beiden ersten furchtbaren Jahre sind vergangen und immer noch habe ich die Message nicht verstanden: »Du gehörst nicht hierher. Weil du nicht so bist wie wir.« An der Stelle ein Lob der Naivität: Sie ist mehr als nur ein Mittel zur Verschleierung von Offensichtlichem. Sie ist eine Überlebensstrategie. Sie ist ein Schutzmechanismus.
In der vierten Klasse beschließe ich, dass die Zugehörigkeitsfragen endgültig geklärt werden müssen. Und dass ich diejenige bin, die zu entscheiden hat, wer zu wem gehört. Ich bilde Fronten, wiederhole das, was ich von den anderen schon kenne. Ich suche mir die Leute aus, die um mich sein sollen, und ich binde sie an mich, indem ich ihnen das Gefühl gebe, sie zu verstehen, als Einzige. Ich gebe ihnen das Gefühl von Exklusivität, weil ich verstanden habe, dass viele Menschen genau das suchen. Ich mache mir die Gruppendynamik unbewusst zunutze, die mir die ersten beiden Jahre meiner Schulzeit so zugesetzt hat. Ich bestimme das Innen, das Außen und die Grenze. Beschämen, um nicht beschämt zu werden. Die Scham abwehren, von der eigenen Scham ablenken, indem man sie anderswo produziert. Es bilden sich zwei Gruppen unter den Mädchen der Klasse, maßgeblich vorangetrieben durch mich. Kinder, die sich vorher den Heimweg geteilt haben, gehen nun getrennte Wege, weil sie nicht in derselben Gruppe sind. Wir versuchen die Willkür hinter der Gruppenbildung zu verbergen und tun so, als gäbe es wirklich Eigenschaften, die die Mitglieder der einen Gruppe gravierend von der anderen unterscheiden.
Unser mit aller Mühe inszenierter »Bandenkrieg« dauert vielleicht ein paar Wochen und findet jäh sein Ende, als meine Klassenleitung uns alle zu einem klärenden Gespräch vor die Klassenzimmertür ruft. Ein Junge aus meiner Klasse hatte ihr gesagt, dass sich die Mädchen der Klasse in Cliquen aufgeteilt haben, einander ignorieren und ausschließen. Diese Erfahrung ist für mich die erste und einzige, bei der ich mich aktiv an Ausgrenzungsprozessen beteilige. Mein Versuch, mich zur Wehr zu setzen gegen Menschen, die mir zuvor das Gefühl gegeben hatten, nicht dazugehören zu können.
Die beiden Cliquen vertragen sich noch am selben Tag und ich gehe wieder mit meiner Nachbarin nach Hause. Über diese ganze Bandensache verlieren wir nie wieder ein Wort. Die eigens ausgedachten Geheimschriften, das inszenierte Selbstverständnis und diese kleinen Objekte, die die Zugehörigkeiten festlegen sollten, verschwinden in einer Kiste, die wiederum irgendwann im Müll landet. Eigentlich faszinierend, wie wenig nachtragend Kinder manchmal sind. Und wie willkürlich ihre Grenzziehung funktioniert, fast schon banal. Trotzdem ist sie nicht folgenlos, sie macht etwas mit denen, die ins Abseits verfrachtet werden. Jahre später schreibe ich in ein Notizbuch, dass man eine Person dann kontrolliert, wenn man ihre Scham kontrolliert.
Fast wünsche ich mir, es hätte weiterhin genügt, das coolere Pausenbrot dabeizuhaben. Oder sich mittels einer Geheimsprache zu verständigen, in der man sich doch letztendlich nichts zu sagen hat; die man nur verwendet, um Zugehörigkeit zur Schau zu stellen.
Aber aus der Geheimsprache wird Alltagssprache. Und aus den kleinen Objekten werden körperliche Merkmale, Verhaltensweisen, Besitztümer, Markenklamotten, Statussymbole. Über all diese Dinge verhandeln wir tagtäglich Zugehörigkeit. Für all diese Dinge bekommen wir Anerkennung – oder eben nicht.
Die jüngere Version meines Selbst kommt ins Gymnasium. In der fünften und sechsten Klasse denke ich nicht über Zugehörigkeiten nach. In diesem Zeitraum schäme ich mich nicht, weil mich meine Naivität weiterhin schützt. In dieser Zeit bemerke ich vielleicht erneut, dass ich anders bin, aber ich hadere deshalb nicht mit mir selbst und wünsche mir auch nicht, eine andere zu sein.
Am ersten Schultag im Gymnasium bin ich eines der wenigen Mädchen, die sich absichtlich neben eine Unbekannte setzen. Ich nehme mir vor, direkt neue Freundinnen finden zu wollen, Kontakte zu knüpfen, mich nicht nur mit den Mädchen zu umgeben, die ich sowieso schon aus meiner Grundschule, meinem Ort kenne.
Und es funktioniert. Ich finde Freundinnen. Ich finde sogar Freundinnen, die mich am liebsten für sich allein hätten. Ich halte mich an die Mädchen, die mich als ihre »beste Freundin« bezeichnen. Sie schützen mich vor Scham, indem sie mir Zugehörigkeit signalisieren. Ich werde für kurze Zeit eines dieser Mädchen vom Typ »Doppelpack«.
Den Ausdruck nehme ich wörtlich: Eine »beste Freundin« zu sein heißt, die Beste in etwas zu sein, perfekt, unfehlbar. Es heißt, dass Menschen zufrieden mit mir sind, mich gerne bei sich haben. Man wird gemocht. Man passt.
Eine »beste Freundin« ist auch diejenige, die verlässlich ist und Verantwortung trägt. Spannenderweise sucht sie sich ihre Position nicht aus: Die Rolle der »besten Freundin« ist ein Zuschreibungsphänomen. Und diese Rolle kann sie nicht verneinen ohne einen Konflikt, Streit oder den Bruch der Beziehung heraufzubeschwören. Ich war nie die Richtige für ein Doppelpack – so sehr ich sie sein wollte.
Scham ist also anerzogen, für jüngere Kinder ist sie unbekannt. Man könnte sich nun zurücksehnen zu dieser »Zeit der Schamlosigkeit«, um es mal so pathetisch auszudrücken. In dieser Zeit sind sie aber nur vermeintlich unschuldig: Genau aufgrund ihrer Schamlosigkeit sind Kinder so grausam. Die Scham, die auf meiner Seite vorhanden war, ist die Scham, die andere leider nicht hatten.
Scham ist nicht nur ein Gefühl, eine ganz individuelle Emotion. Es ist auch ein Macht- und Herrschaftsphänomen, ein soziales Phänomen, eine Sache, die nur im Austausch und in der Interaktion funktioniert: »Ein Individuum zur Scham zu veranlassen, heißt, Macht auf es auszuüben: Beschämungen erlauben Machtgewinn. Sich selbst zur Scham zu bewegen, heißt, sich seiner selbst zu bemächtigen. Scham ist Selbstzwang.«18 Ich begebe mich hier auf eine neue Ebene in der Auseinandersetzung: die von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Diese Ebene zu analysieren, ist nicht einfach. Man denkt oft, dass Macht einfach von außen auf eine*n wirkt, dass man sie immer unmittelbar sehen und spüren kann. Aber die Scham ist ein ganz gutes Beispiel dafür, dass es nicht immer so sein muss.
Jemanden beschämen zu können, zeugt oft von einer Macht, an der die beschämte Person sich »beteiligt«, wenn auch unter anderen Vorzeichen: »Beschämen kann uns nur, wessen Anerkennung wir überhaupt Bedeutung zuschreiben. Und umgekehrt gilt: Sobald wir einem Menschen unsere Anerkennung entziehen, sobald wir einer Person absprechen, anerkennenswert zu sein, verliert diese damit die Macht, uns zu beschämen«,19 schreibt Rita Werden. Macht baut auf wechselseitiger Anerkennung20 auf, also darauf, dass ich die anderen Kinder anerkenne als Personen, die mich beschämen können und damit Macht auf mich ausüben. Dann haben die Mädchen die Möglichkeit, mich nicht anzuerkennen und dadurch Scham in mir hervorzurufen.
Wir machen einen Zeitsprung in das Jahr 2009, in dem ich in der siebten Klasse bin. Ein Jahr, in dem ich, ausgelöst durch den Tod meiner Oma, etwas bekommen habe, was man Jugenddepression nennt. Und wenn eine depressive Phase zu Ende geht, dann fühlt es sich manchmal ein bisschen so an, als wäre man stehen geblieben. Alle Entwicklungen, die andere in der Zeit gemacht haben, sind einfach an einem*r vorbeigezogen und man fühlt, dass man im Vergleich zur Peergroup woanders steht.
Im Sommer will ich etwas, das Stephen Chbosky »teilnehmen« nennt, und dieser Begriff könnte nicht perfekter passen. Es geht nach einer Depression, nach einer Psychose und im Übrigen auch sonst im Leben sehr oft darum, (wieder) am Leben teilzunehmen. Ohne Chbosky damals gelesen zu haben, versuche ich dasselbe. Aber für die Teilnahme braucht es zwei Dinge: erstens etwas, woran man teilnimmt, und zweitens ein Umfeld, das eine*n teilnehmen lässt. Das Erste ist relativ leicht zu bekommen, weil es immer schon da ist. Egal, an was, an irgendetwas kann man immer teilnehmen. Aber das Zweite ist wesentlich schwerer zu organisieren.
Mir fällt auf, dass ich mich schon wieder darum herumwinde, diese Geschichte zu erzählen. Ich will aufstehen, meinen Tee austrinken und den Raum verlassen. Weil es wehtut, mich an Folgendes zu erinnern:
In meinem Umfeld gibt es einige Mädchen, die mit mir zum Handball gehen. Und schon hier weigert sich alles in mir »Wir« zu schreiben, denn dieses »Wir« gab es nie. Es gibt ein »Ich« und ein »die Anderen«. Diese Trennung hat nicht nur damit zu tun, dass ich in meinem 13. Lebensjahr eben ausschließlich physisch anwesend war, ständig über den Tod nachgedacht und mich nicht an Entwicklungsprozessen beteiligt habe. Dass ich die erste Bravo nicht mit den anderen gelesen habe. Sondern auch damit, dass die Mädchen es so wollten.
Im Handballtraining sehe ich diese Mädchen ständig und sie haben etwas, um was ich sie damals beneide: zum einen eine Unbeschwertheit, die fremd ist, sobald man auch nur einmal depressiv war. Zum anderen Zusammenhalt, der bei jeder Einzelnen für ein Gefühl von gesunder Zugehörigkeit führt. Und diese Zugehörigkeit ist es, die ich will. Dafür brauche ich die Anerkennung der Mädchen.
Zugehörigkeit erwirken die meisten Menschen mithilfe der Konstruktion von Ähnlichkeit. Wenn ich zu jemandem gehören will, versuche ich ein »Wir-Gefühl« zu erschaffen, Verbindungslinien zu ziehen und mich darauf zu berufen, dass es etwas gibt, in dem wir zueinander passen, zueinander gehören. Scham tritt dort auf, wo Menschen die Rolle des »Anderen« einnehmen müssen. Wo sie keine Wahl haben, dazuzugehören oder nicht. Wo Menschen, Verhältnisse und Normen ein Abseits bestimmen, in das man gezwungen wird.
Zugehörigkeit muss nicht unbedingt verbal verweigert werden. Es gibt subtilere Mittel, einer Person Anerkennung und Zugehörigkeit zu entziehen und sich dadurch der Situation zu bemächtigen: Wie man auf Wortbeiträge von einer Person reagiert, wie man sie ins Gespräch mit einbezieht. Wie man in einer Gruppe zusammensteht. Wird jemand konsequent abgedrängt? Wird jemand durchgehend ignoriert? Bekommt er*sie nur dann Aufmerksamkeit, wenn seine*ihre Worte belächelt werden sollen?
Nur schwer lässt sich rekonstruieren, wie diese Ausgrenzung damals funktioniert. Das alles ist begraben unter 100 anderen Erinnerungen, 200 Versprechungen, das niemals an die Oberfläche dringen zu lassen, und 300 Versuchen die Situation zu beschönigen, sie anders abzuspeichern. Aber die Scham ist erbarmungslos, weiß Ernaux, weiß ich, weißt du, und sie lässt die schlimmsten Erinnerungen glasklar aufblitzen.
Ich sage etwas und werde ausgelacht. Was ich sage, ist eigentlich egal; es geht darum, dass ich es bin, die spricht. Oder dass ich es bin, die etwas macht oder sich verhält oder auch nur etwas (an sich) hat. Diese Mädchen lachen und grenzen mich für das aus, was ich bin. Ich werde wegen vollkommen willkürlicher Sachen ausgelacht: meiner Gangart beispielsweise. Eines dieser Dinge, die nur im Leben von Kindern so eine große Rolle spielen können. Meine Gangart ist für die Mädchen ein ganz großes Thema, weil ich federnd gehe. Mehr nicht. Es ist einfach nur die Art und Weise, wie ich meinen Fuß beim Auftreten abrolle und dass ich manchmal ein wenig auf Zehenspitzen gehe. Absurd, oder?
Natürlich ging es nie wirklich um die Gangart. Sie ist einfach nur irgendein Merkmal, das sich die Mädchen gesucht haben, um ihre Abneigung an mir auslassen zu können. Und ich? Denke, ich bin der einzige Mensch auf der Welt, der so geht. Dabei treffe ich tagtäglich Menschen, die so laufen. Ich weiß nicht, ob die alle dafür ausgelacht wurden, aber ich hoffe nicht.
Wenn es nicht meine Gangart ist, über die sie sich lustig machen, sind es meine Klamotten: Ich trage ganz selbstverständlich die alte, aber noch – phänomenaler Ausdruck von Mama – »pfenniggute« Kleidung meiner Schwestern. Meine Mutter lebt in der festen Überzeugung, dass die anderen Kinder ihre Tochter mögen, egal was sie trägt; dass ich außerdem im Zweifel genügend Durchsetzungsfähigkeit besitzen würde. Ich erzähle ihr nie, wie die anderen Kinder zu mir sind. Und wenn es nicht meine Klamotten sind, ist es das, was ich denke und ausspreche, weil ich in so vielerlei Hinsicht eine andere Vorstellung vom Leben habe als sie. Ich weiß vieles noch nicht, was für sie bereits Thema ist, vielleicht sogar ihr Lebensmittelpunkt. Ich komme immerhin frisch aus einer Depression, was weder sie wissen noch ich.
Norbert Elias und John L. Scotson widmen sich in ihrer Untersuchung Etablierte und Außenseiter unter anderem der Rolle von Klatsch innerhalb eines Dorfes. Dabei bemerken sie: »Er hatte zugleich die Funktion, Menschen auszuschließen und Beziehungen zu trennen. Er konnte als ein überaus wirksames Instrument der Ablehnung dienen. Wenn beispielsweise ein Zuzügler als ›nicht so nett‹ empfunden wurde, brachte man in den Klatschkanälen – oft sehr tendenziös gefärbte – Geschichten über Normverstöße in Umlauf«21 mit dem Ziel, die Betroffenen zu beschämen, zu demütigen und dabei gleichzeitig Normen zu manifestieren, aber auch die eigenen Machtansprüche zu konservieren; die eigene Überlegenheit zur Schau zu stellen und abzusichern.22 Der Inhalt des Gesagten ist keine Nebensache: Mit der Betonung von Normverstößen soll die Ablehnung auch vor anderen gerechtfertigt werden können.
Wo liegt der Fehler? Das kommt darauf an, wie man soziale Interaktion versteht. Aber ein Erklärungsansatz besteht darin zu sagen: Der Fehler ist, dass ich dennoch versuche mich für sie als Personen zu interessieren. Dass ich dennoch Begeisterung zeige für das, was sie lieben.
Die Machtverhältnisse sind in meinem Fall asymmetrisch: Ich habe keine Möglichkeit, mich zu behaupten, gleichzeitig gebe ich den anderen Mädchen die Macht, mir Wertschätzung zu verweigern. Mal außen vor gelassen, dass diese Ausgrenzung durch nichts zu rechtfertigen und nicht legitim ist, hätte ich mich früher dazu entscheiden können, ihnen diese Möglichkeit zu entziehen. Dann hätten sie mich nicht mehr beschämen können – zumindest in der Theorie.
Keine Erklärung für das Verhalten der Mädchen zu haben, nagt noch immer an mir. Ich lese Artikel, in denen Leute sich als Mobber outen,23 um es vielleicht doch zu verstehen. Aber immer und immer wieder komme ich nur darauf, dass ich nichts dafür konnte. Nachträglich kann ich nur versuchen, meine Schlüsse daraus zu ziehen oder zu untersuchen, was ich aus der Situation gemacht habe. Ich weiß, dass ich mit dieser Erfahrung eine Art Urvertrauen in die Welt verloren habe: nämlich das Vertrauen hinausgehen zu können und von anderen erst mal nichts Böses erwarten zu müssen. Das sorgt dafür, dass ich hin und wieder Maßnahmen des Selbstschutzes ergreife, die auf andere übertrieben wirken. Manchmal erscheine ich Unbekannten gegenüber abgeklärt, nüchtern, vielleicht kalt. Freundinnen nennen es »unabhängig«, aber auch »unnahbar« und beschreiben damit das, was ich als grenzenloses Bedürfnis nach Selbstständigkeit empfinde. Bloß nichts auf die Meinung anderer über mich geben, denn sie wird nie positiv sein – und auch wenn ich seitdem unzählige Male das Gegenteil erfahren habe, nämlich, dass mich mein Umfeld wertschätzt, gernhat, mich anerkennt, bleibt die Angst vor Wiederholung.
Die subtilen Angriffe der Mädchen treffen mich hart, auch weil sie immer kollektiv agieren. Jeden Tag wird alles destruiert, was ich denke. Jeden Tag wird viel Zeit darauf verwendet, mir das Gefühl zu geben: Mit dir stimmt was nicht.
Und jeden Tag versuche ich, noch besser zu passen. Noch weniger anzuecken. Noch vorsichtiger zu formulieren, um Angriffsflächen zu minimieren. Noch mehr das zu wiederholen, was diese Mädchen sagen. Noch mehr zu sein wie sie. Das wenige Taschengeld, das ich habe, ausschließlich in Klamotten zu investieren, die mir eigentlich gar nicht gefallen. Aber ich habe keinen Geschmack, deshalb ist das egal. Mein Geschmack ist deren Geschmack. Irgendwann schweige ich einfach nur noch.
Das verstärkt ihre Wut auf mich. Das Bedürfnis, sich von mir abzugrenzen. Ich, der Schwamm, den man ausdrückt. Um mich ungeschehen zu machen. Ich, das Chamäleon, das nicht ohne Umwelt funktioniert. Das ohne Umfeld in der Identitätslosigkeit verloren geht.
Sie hassen mich nicht. Sie verachten nur, was ich bin. Sie wollen auf keinen Fall in Verbindung mit mir gebracht werden. Was tut man, um zu verhindern, dass irgendjemand eine Verbindung zwischen sich und jemandem zieht, mit dem man nicht verbunden sein will?
Man macht die Person lächerlich. Möglichst schmerzhaft. Man stellt sich über sie, indem man sie beschämt. Jemanden zu beschämen, bedeutet auch, ihn zu unterwerfen. Wie gesagt: Scham ist auch ein Machtphänomen, um jemandem zu zeigen: Wir werden nie auf einer Wellenlänge sein. Du wirst nie zu mir gehören und ich erst recht nicht zu dir. Wenn die Person diese Intention nicht versteht, ignoriert man sie. Wie man es eben mit Leuten macht, die man unter sich sieht. Die keine Macht über dich haben und deine Anerkennung nicht verdienen.
So sind diese Mädchen. Sie tun manchmal einfach so, als würden sie mich nicht hören, als wäre ich nicht da. Und wenn ich doch da bin, ist klar: »Eigentlich ist sie fehl am Platz, denn sie gehört nicht zu uns. Sie nicht.« Du. Bist. Niemand.
Ich lerne: »Du bist kein Mensch wie sie. Du bist nicht wertvoll, liebenswert und wichtig. Du verdienst keine Aufmerksamkeit. Du verdienst Ignoranz und Abweisung, weil du ein defizitärer Makel bist. Du bist die Person, die man nicht in der Mannschaft haben will. Alles, was du tust, wird uncool und falsch dadurch, dass du es tust. Dadurch, dass du es verkörperst.«
Das Schlimme daran ist, dass du jetzt um dein Anderssein weißt. Weil es dir unmissverständlich, wieder und wieder, klargemacht wurde. Bis heute scanne ich jede Situation ab, in der ich mich befinde, um jederzeit sicherzustellen, dass mich niemand ausgrenzt.
2019: Meine Therapeutin bezeichnet das, was mir passiert ist, als »Mobbing«. Ich spreche über dieselbe Sache immer nur als »das, was diese Mädchen damals gemacht haben«. Ich weigere mich zuerst, von Mobbing zu sprechen. Man hört wenig von Mobbing, obwohl man weiß, welche Rolle es in Schulen, in der Arbeit, nahezu überall spielt. Eigentlich seltsam, oder? Aber zuzugeben, dass man Opfer davon geworden ist, ist schwierig. Das können die wenigsten, weil es oft so undurchschaubar ist. Mobbing in die eigene Geschichte zu integrieren – wie soll das gehen? Meist kann man sich den Grund dafür nie erklären, weil es eigentlich keinen gibt. Und ohne Grund wird das Erzählen schwierig. Du kannst nur Ereignisse wiedergeben, ohne den nötigen Kontext.
Gleichzeitig kenne ich die Geschichten von Mobbing und finde meine Erfahrungen »zu wenig schlimm«, um sie mit den Erlebnissen anderer auf eine Stufe zu stellen. Der Begriff des Mobbings wird sehr unterschiedlich verwendet, wenngleich er in den allermeisten Fällen eben schmerzhafte Erfahrungen der Ausgrenzung beschreibt. Und in der Ausgrenzung steckt etwas, das ich wichtig finde: Es geht um Gruppendynamiken: »Beschämungen […] sind soziale Techniken, um eigene Vorteile gegenüber fremden Ansprüchen konservieren zu können, um abweichende Lebensformen oder Eigenschaften als minderwertig zu klassifizieren, um die eigene Macht in der Interaktion mit Dritten zu erhöhen.«24 Das Innen der Gruppe kann nicht ohne das Außen. Und damit die Statusansprüche der Gruppe erhalten bleiben, damit jene Macht nicht infrage steht, muss klar sein, dass das Außen minderwertig ist.
Im Begriff des »Mobbings« steckt dein Opferstatus immer schon mit drin. Opfer werden gemobbt. Mobbing transportiert die Demütigung, die du erfahren hast, die Gewalt der Gruppe, den Mob, der dich schikaniert, deine Unterlegenheit gegenüber den anderen, die in der Mehrzahl sind. Es bedeutet, dass dich nicht nur eine Person nicht mag, sondern viele. Dass dein Existenzrecht von mehreren Menschen infrage gestellt wird. Dass du für viele ein Niemand bist. Dass du Opfer eines Kollektivs geworden bist.
Solche Erfahrungen im Kindesalter und in der Jugend werden oft bagatellisiert – es »gehöre dazu«, mache jemanden »stärker« oder »widerstandsfähiger«, und: »So sind Kinder nun einmal«. Michael Schulte-Markwort betont, dass es für Kinder keinen Grund gebe andere zu quälen, wenn sie psychisch ausgeglichen wären und keine eigenen Leiderfahrungen zu verarbeiten hätten.25 Zugleich sind die Folgen für die Betroffenen massiv. Suizidgedanken oder Tabletten- und Alkoholmissbrauch sind nur wenige der möglichen Konsequenzen, die sich im unmittelbaren Verhalten, aber auch im späteren Leben durch psychische Erkrankungen äußern können.26
Ich will kein passives Opfer gewesen sein. Ich sage »Ausgrenzung«, um die Grenze endlich mal zu wahren. Um klarzumachen, dass sie die Grenze gezogen haben, die mich von ihnen isoliert hat. Vielleicht ist das mein heutiger Versuch, so zu tun, als hätte ich noch körperliche und geistige Integrität besessen, obwohl ich genau das war, zu dem sie mich gemacht hatten: ein Opfer. Ein wehrloses, machtloses Opfer. Das sich angebiedert hat und passen wollte, in das enge Korsett jugendlicher und weiblicher Identität, das mich vor einer Art der Gewalt geschützt hätte, während es andere Gewalt befördert.
Wenn eines der Mädchen aus dem Handballverein und ich zu zweit sind, verhält es sich mir gegenüber freundlich. Wir lachen gemeinsam, wir unterhalten uns viel, es wirkt so, als wären wir Freundinnen. Ich verstehe nicht, dass wir nur Freundinnen sind, wenn uns dabei niemand sieht. Sie lädt mich zu den Treffen mit den anderen Mädchen ein, abseits des Trainings. Sie verabreden sich regelmäßig und laden mich in ihre Welt ein. In ihre Welt, in der Mädchenfreundinnenschaften, ja sogar Mädchengangs existieren, in der sogar Jungs vorkommen. Und ich soll plötzlich Teil davon sein dürfen.
Aber ich weiß um meinen bisherigen Platz, meinen bisherigen Status, daher frage ich mehrmals nach. Ich erinnere mich noch an diese Fragen: »Ist es sicher in Ordnung, wenn ich mitkomme?«, »Wollt ihr wirklich, dass ich Freitagnachmittag dabei bin?« Immer und immer wieder frage ich, weil ich nicht glauben kann, dass diese Mädchen Zeit mit mir verbringen wollen. Vielleicht ist genau das der Fehler? Schon im Vorhinein zu kommunizieren, dass man sich nicht zugehörig fühlt, dass man auf die Erlaubnis einzutreten wartet?
Mein Bauchgefühl warnt mich, aber ich ignoriere es. Vielleicht warnt es mich auch, weil diese Mädchen bereits junge Frauen sind, während ich mich fühle wie ein Kind. Ich weiß doch um die Situationen im Training, bei denen ich dieses eindringliche Gefühl habe, unerwünscht zu sein.
Kurz vor den Sommerferien im Jahr 2009 komme ich mit zu einem der Freitagnachmittag-Events. Es stellt sich heraus, dass man dabei eigentlich nichts macht, außer Insider auszutauschen. Diese unangenehme »Abseits«-Position, in der ich mich in meinem Leben häufig wähne, fühlt sich immer wieder so an, wie jener Nachmittag. Auf der einen Seite die Mädchen, die Späße machen, absolut sicher in ihrer Zugehörigkeit. Und ich, allein, auf der anderen Seite. Ignoriert, abgehängt, ausgegrenzt. An diesem Nachmittag werden alle Zeug*innen davon, dass ich anders bin. In den ersten Minuten versuche ich noch teilzuhaben, merke aber relativ schnell: Hier ist kein Platz für mich. Obwohl alles, was ich will, ist, zu dieser Gruppe zu gehören.
Manchmal kommt dieses Bild wieder, wie ich auf der Mauer sitze und den anderen zusehe. Wenn ich heute mit anderen unterwegs bin, versuche ich immer noch, dieses Bild nicht abzugeben. Weil ich panische Angst davor habe, diese Scham wieder fühlen zu müssen. Laufe ich heute eine Straße mit Freund*innen entlang, gehe ich ungern außen, aus genau diesem Grund. Es sind diese winzigen Details und ich bin mir unsicher, ob sie in den Köpfen anderer eine genauso große Rolle spielen wie in meinem. Aber ich denke genau solche Kleinigkeiten immer mit.
Mit einem der Mädchen teile ich mir meinen Heimweg. Es ermutigt mich aus einem mir absolut unerfindlichen Grund, Anfang der Sommerferien mit in ein Trainingslager zu fahren, bei dem ich noch nie dabei war. Ich lasse es geschehen. Fahre mit. Weil mich vielleicht ein Restglaube oder ein kleines Stück Hoffnung dazu bewegt und ich denke: »Vielleicht nach diesem Trainingslager. Danach, bestimmt werden sie dich danach akzeptieren.«
Wenn ich heute Menschen frage, wann Scham sie gerettet hat, denke ich an diese Situation. Scham war damals sicherlich in mir vorhanden. Vielleicht habe ich sie zu der Zeit verdrängt oder einfach nicht auf sie gehört. Gesetzt den Fall, ich hätte ihr Raum gegeben: Hätte mich das gerettet? Hätte die Scham dafür gesorgt, dass ich den Mädchen nicht glaube, als sie sagen, dass sie mich dabeihaben wollen? Hätte mich meine Scham vor der Ausgrenzung bewahrt, weil sie mich zur Flucht getrieben hätte? Oder hätte sie mich doch nur realisieren lassen, was passieren könnte, ohne dass ich handlungsfähig gewesen wäre? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass der Scham egal ist, ob ihre Ursachen oder Auslöser »moralisch legitim« oder »rational nachvollziehbar« sind. Scham entsteht mitunter dann, wenn dir jemand das Gefühl gibt, dich schämen zu müssen. Und das konnten die Mädchen gut.
Ich weiß nicht mehr, wie die Busfahrt ins Trainingslager war. Die Erinnerung setzt aus. In meiner Therapie soll ich Bilder zeichnen von den Situationen, an die ich mich noch erinnere. Es sind wenige. Aber ich spreche in der Therapie über die Todesangst, die ich damals habe. Ich habe Angst, zurückgelassen zu werden. Zu sterben, an dem abgelegenen Ort, an dem die anderen Kinder und ich die Tage verbringen.
Es ist schwierig, dieses Gefühl zu beschreiben, das so intensiv ist und das viele nicht nachvollziehen können: Wieso fühle ich Todesangst, wenn ich doch umgeben bin von einem Haufen Leute, die mich zwar ignorieren, die doch aber keinesfalls böswillig genug wären, um mich sterben zu lassen?
Damals weiß ich das nicht. Ich träume von meinem Tod, weil ich denke, die anderen hassen mich genug, um mich allein zurückzulassen. Ich kann damals nicht einschätzen, was die anderen tatsächlich denken. Ich fühle nur ihre Ablehnung und ihr Bedürfnis nach Abgrenzung von mir. Was ich wahrnehme, ist das Alleinsein, die Einsamkeit. Und die Angst, die ich in manchen Trainingseinheiten auch vor den Betreuern habe. Vielleicht wollen auch sie mich loswerden? Mittlerweile bin ich mir nicht einmal mehr sicher, ob ich einen Lebenswert habe und ob andere der Ansicht sind, dass ich es verdienen würde, am Leben zu sein.
Wenn ich darüber so schreibe, will ich mich schon wieder für meine damalige kindliche Naivität geißeln. Aber ich versuche, Verständnis aufzubringen für dieses Mädchen von damals, nach wie vor. Und deshalb ist nicht wichtig, ob das Mädchen es hätte besser wissen können, sondern es ist wichtig, dass es Todesangst gefühlt hat. Und dass ihm diese Angst niemand genommen hat. Dass niemand ihm die Hand gegeben und gesagt hat: »Ich pass auf dich auf, keine Sorge.«
»Achtungsverlust kann sich hier in eine existenzielle Scham steigern, deren Urbild das ungeliebte und nicht gewollte Kind ist. Das Opfer dieser Existenzialscham ist der sich nutz- und wertlos fühlende Mensch. Dessen Empfindung hat die Psychologin Helen Lynd beschrieben: ›Wir sind Fremde in einer Welt geworden, in der wir dachten, zuhause zu sein. Mit jeder wiederholten Verletzung unseres Vertrauens werden wir wieder zu Kindern gemacht, unsicher über uns selbst in einer feindlichen Welt.‹«27 Dieses ungeliebte und ungewollte Kind. Eine spannende Figur, die sich in der Auseinandersetzung mit bestimmten psychischen Erkrankungen öfters zeigt. Die Gefühle der Fremdheit und Wertlosigkeit tauchen immer wieder im Kontext der Scham auf und steigern sich im Laufe der Schamerfahrung. So lange, bis das ganze Selbst Scham ist. Das ist dann »Existenzialscham«: Man schämt sich dafür, zu existieren. Nicht mehr nur dafür, an einem konkreten Ort zu einer konkreten Zeit, sondern überhaupt auf dieser Welt zu sein.
Das Gefühl der Nutz- und Wertlosigkeit. Ich erinnere mich an unzählige Situationen in dem Trainingslager, in denen alle mit irgendjemandem sprechen, außer mit mir. Ich, wie ich ständig alleine trainiere oder herumsitze. Mit wem sollte ich sprechen? Längst ist mir klar, dass mich hier niemand haben will. Dass mich überhaupt niemand irgendwo haben will. Denn ich komme für die anderen einfach nicht vor und wenn, dann nur als Abgrenzungsfolie. Eine Frage brennt sich in meinen Kopf ein: Warum? Warum bin ich hier das ungewollte Kind?
Ich habe Angst unbemerkt zu sterben, daher beschließe ich, mir Aufmerksamkeit zu verschaffen. Es ist das erste Mal, dass ich glaube, durch eine Lüge mein Leben zu retten. Durch eine gut geschauspielerte Lüge. Denn ich erfinde ein Problem, eine Krankheit, ein Leiden. Ich breche einfach zusammen, werde ohnmächtig. Durch mein Verhalten bekomme ich zum einen Sympathien der Betreuungspersonen, die ab diesem Moment auf mich aufpassen, zum anderen stelle ich sicher, dass mich die anderen Mädchen nicht mehr mies behandeln. Diese Mädchen sorgen zwar weiterhin mit Nachdruck dafür, dass ich mich an keinem Punkt so fühle, als wäre ich Teil ihrer Peergroup, aber zumindest greifen sie mich nicht mehr an. Ich darf einfach auf dem Zimmer liegen, in meinem Bett. Ich darf krank sein. So krank, wie ich mich fühle. So anders, wie ich mich fühle. In der Woche esse ich kaum etwas. Es wiederholt sich, was ich aus meiner Kindergartenzeit noch zu gut kenne: Auf emotionalen Stress reagiere ich mit Erbrechen. Ich hungere mal wieder, mit Absicht. Um die Aufmerksamkeit sicherzustellen, die im Zweifel mein Überleben garantiert. Ich will nicht vergessen werden, in diesem Zelt. Am Ende der Woche steige ich aus dem Bus und beschließe, nie, nie, nie wieder über das, was dort passiert ist, zu sprechen. Als ich meinen Eltern von der Woche erzählen soll, weine ich fast. Meine Familie scheint nichts zu bemerken. Ich vergrabe diese Woche tief in meinen Erinnerungen und erst zehn Jahre später soll sie in Teilen an die Oberfläche dringen. Wodurch sie nach oben dringt? Durch Scham und einen Wiederholungszwang.
Spätestens seit dieser Woche ist gewiss: Ich bin und denke anders. Ich denke in Welten und Formen und Farben, die nicht zu den Gedanken der anderen passen. Und ich meine das nicht als intellektuelle Überhöhung. Sondern ich verbringe mein Leben ab diesem Moment damit, mir zu wünschen, einmal so denken zu können, wie jene Mädchen. Ich habe nur meine Gedanken, die nie sonderlich erbaulich sind, sondern tendenziell entmutigend, pessimistisch, belastend.
In diesem Bruchteil meiner Geschichte habe ich über viele unterschiedliche Momente und Ausdrucksformen von Scham geschrieben. Sie sind unterschiedlich intensiv, dauern unterschiedlich lange an und erfordern einen unterschiedlichen Umgang. Über manche Situationen kann ich heute lachen. Aber nicht über die Ausgrenzung, die ich damals erlebt habe. Sie ist ein zentraler Baustein in meiner Geschichte der Scham. Die Scham ist dort, wo der Normbruch ist. Wo die Abweichung lauert. Auch über zehn Jahre später kenne ich das Gefühl von grenzenloser Zugehörigkeit eigentlich nicht. Auch wenn ich seitdem nie wieder absichtlich ausgegrenzt wurde, nie mehr in der Intensität von Ablehnung betroffen war, kenne ich nur zu gut das Gefühl des Andersseins, die Position des »Anderen«.
»Im Kontext der Scham gibt es keine Wiedergutmachung. Scham ist grundsätzlich nicht verhandelbar. Die unbeabsichtigte Beschämung eines Menschen kann zwar tiefes Bedauern bis hin zu Schuldgefühlen im ›Täter‹ auslösen, ohne dass dieser jedoch irgendeine Form der Entlastung anbieten kann. Er kann nichts weiter tun, als die beschämte Person allein ihrer Scham zu überlassen, da sie den Schutz der Isolation und Einsamkeit benötigt, um die Schmach der Entdeckung zu verwinden. Im Gegensatz zu anderen Emotionen, die durch Beistand gelindert werden können, wie beispielsweise Angst oder Panik, gibt es keine Möglichkeit einen Menschen aus seinem Schamgefühl zu befreien. Dieser Bewältigungsakt kann nur durch die betroffene Person selbst vollzogen werden, und zwar in Form von Rückzug in die Einsamkeit.«28
Als ich diesen Abschnitt bei Caroline Bohn finde, denke ich sofort an jene Situationen, in denen ich mich ausgeschlossen fühlte und daran, dass manche später versucht haben, sich dafür zu entschuldigen. Aber Bohn hat recht: Wenn man jemanden aufrichtig beschämt oder gedemütigt hat, über Monate oder Jahre hinweg, kann man keine Vergebung erwarten. Der Satz »Es war nicht so gemeint« taugt meist nicht zur Linderung von Schamgefühlen. Trotzdem sagen Menschen das immer wieder, ein Nachsatz zu jeder demütigenden Aussage. Noch schlimmer ist es, wenn man erklärt bekommt, was man nicht alles falsch verstanden hätte, dass man ja letztendlich nur irgendwas in den falschen Hals bekommen hätte. Der Scham sind solche Aussagen egal. Überhaupt sind der Scham Intentionen oft gar nicht so wichtig, denn sie wirkt so oder so.
Es sind nicht einfach nur ein paar blöde Erlebnisse, mit denen man dann schon irgendwie abschließt. Da wurde am Selbstwert einer Person geschraubt, da wurde ein Mensch essenzieller Sicherheiten beraubt, beispielsweise der Gewissheit, ein Mensch zu sein, der anerkannt wird, der ein Daseinsrecht hat. Der sprechen und sich frei bewegen darf. Und manchmal ist egal, was danach kommt. Man nimmt diese Erfahrung in das spätere Leben mit und wird überall eine Wiederholung erahnen. Ich befürchte, dass ich mich nie wieder jemandem grenzenlos zugehörig fühlen werde.
Ich gebe die Mädchen auf. Tauche nie mehr im Training auf. Meide die Orte, an denen ich ihnen unbeabsichtigt begegnen könnte. Gebe nichts mehr darauf, wenn eines der Mädchen nett zu mir ist, kommt es durch Zufall doch zu einem Aufeinandertreffen. Will mit ihnen allen nichts mehr zu tun haben. Nach der Isolation und Einsamkeit, die Bohn beschrieben hat, ziehe ich aus der ganzen Geschichte meine ganz eigenen Konsequenzen: Ich gehöre nicht dazu und deshalb will ich auch nicht mehr dazugehören. »Einen Platz in einer Welt zu finden, die für dich keinen Platz hat – Lass mal lieber alles abfackeln, bevor man abkackt.«29 Ich beschließe, die Sache mit der Zugehörigkeit abzuhaken und meine Position nicht zu verändern, sondern umzudeuten und dafür zu sorgen, dass ich wieder in eine Handlungsposition komme: Abgrenzung statt Ausgrenzung.
Das bedeutet auch bis zu einem gewissen Grad den Blick der Mädchen zu übernehmen, unter dem ich gelitten habe. Ich beschließe, dass sie recht hatten: Sie finden mich nicht nur falsch, ich bin falsch. Aber genau diese Falschheit beginne ich, anders zu bewerten. Beschämung und Demütigung funktionieren umso leichter, je mehr die betroffene Person von der eigenen Wertlosigkeit überzeugt ist, genauso wie die beschämende Person. Erkennt die beschämte Person ihre unterlegene Position als Gedemütigte nicht mehr an, wird es schwierig. Dann öffnet sich ein neuer Raum – der Raum des Widerstands. Ich versuche mein Anderssein neu zu besetzen. Ich verleibe mir die Position des »Anderen« ein und eigne sie mir an, aber nicht als Unterlegenheit. Ich provoziere das Anderssein, schmücke es aus, beharre darauf. Will, dass es ein ganz besonderer Teil meiner Geschichte wird, den ich nicht mehr verschweige.
Je stärker ich mich aus bestimmten Gruppenkonstellationen heraushalte und versuche eine eigene Haltung zu entwickeln, desto besser geht es mir, desto eher gelingt es mir, etwas zu bekommen, das vielleicht »Selbstbewusstsein« ist. Mit einem Mal sind Abgrenzung und sogar Widerstand die wesentlich sympathischeren Optionen als Anpassung und Zugehörigkeit. Ich will unantastbar sein. Und deshalb suche ich mehr und mehr »das Andere«, das Alleinsein. Denn: »Allein tanz ich am besten.«
So ganz hat mich diese Perspektive nicht mehr verlassen, auch wenn ich heute anders darüber denke. Aber: Ich gehe gerne allein ins Kino, fahre allein in den Urlaub, sitze allein an meinem Schreibtisch. So verschissen eklig und unnötig diese ganze Ausgrenzungsgeschichte war, so sehr habe ich durch sie gelernt, mit mir selbst allein zu sein und das auch zu schätzen. (Und hier wird die Zitrone zu einer widerlich-süßen Limonade.) Viele finden es seltsam, wenn ich auf Partys irgendwo allein herumstehe und andere beobachte, oder wenn ich lieber allein heimgehe. Für mich ist das ein Raum geworden, den ich für mich einfordere. Ja, ich fordere phasenweise Einsamkeit als Freiraum. Meine Scham gehört mir.
ADiese Unterscheidung ist in der Forschung relativ gängig und ganze Kulturen wurden danach voneinander unterschieden. Vgl. Benedict, Ruth: Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2014. Der Satz »Shame is about the self; guilt is about things.« stammt von Helen B. Lewis, die jene Unterscheidung maßgeblich mitgeprägt hat. Neckel, Sighard: Die Macht der Unterscheidung. Essays zur Kultursoziologie der modernen Gesellschaft. Frankfurt/Main: Campus 2000, S. 96.