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Tot oder lebendig: So entscheiden die Mitochondrien über Leben und Tod

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Die wohl zweitwichtigste Funktion der Mitochondrien nach der Energieproduktion ist die Regulierung des Zelltods. Wenn Zellen verbraucht oder zu sehr beschädigt sind, müssen sie „Selbstmord“ begehen: Die Apoptose beginnt. Die Apoptose ist von zentraler Bedeutung für die Integrität und Organisation von Mehrzellern. Falls die Mechanismen, die sie regulieren, versagen, kommt es schlimmstenfalls zu Krebs. Diesen Prozess steuern die Mitochondrien.

Mehrzellige Organismen bestehen aus genetisch identischen Zellen, die zum Wohle des Gesamtorganismus‘ bestimmte Aufgaben erfüllen. Das ist ein einzigartiges Konzept, denn alles Leben hat den angeborenen Wunsch, um jeden Preis zu überleben. Warum und wie geraten Zellen in einem mehrzelligen Organismus somit an den Punkt, dass sie (in den meisten Fällen) zum Wohl des Ganzen gehorsam in den Tod gehen? Wahrscheinlich hat sich dieser Prozess über Jahrmillionen hinweg etabliert, in denen das Durchsetzen dieser altruistischen Verhaltensweise den Mitochondrien übertragen wurde. Sonst würden Mehrzeller überall jede Menge Tumore entwickeln und vermutlich schon in jungen Jahren an Krebs sterben.

Um in einer Gemeinschaft zu leben und von all ihren Vorteilen zu profitieren, muss jede und jeder Einzelne zum Gemeinwohl beitragen und dafür von gewissen selbstsüchtigen Interessen absehen. Krebs ist leider eine häufige Erkrankung, weil die selbstsüchtigen Zellen manchmal nicht rechtzeitig erkannt werden und ihrem Todesurteil entgehen. Solche Krebszellen teilen sich in fieberhaftem Tempo, ohne die Folgen auf den Gesamtorganismus zu beachten. Leider führt das Verhalten solcher Übeltäter am Ende zum Absterben der gesamten Gemeinschaft und damit auch zu ihrem eigenen Tod.

Um dieses Los zu verhindern, hat die Evolution den Mitochondrien eine zentrale Rolle für den zivilisierten Zelltod zugewiesen. Dazu müssen sie verschiedene Signale aus unterschiedlichen Quellen zusammenführen. Sobald das Gesamtbild dieser Signale anzeigt, dass die Zelle nicht mehr richtig funktioniert oder nicht mehr zum Wohl des Gesamtorganismus‘ beiträgt, leiten die Mitochondrien den programmierten Zelltod ein. Zunächst werden dafür bestimmte Membranrezeptoren und Signalwege aktiviert, die eine weitere Organelle, das endoplasmatische Retikulum, einbeziehen. Bei vielen Formen der Apoptose wird über bestimmte Reize der mitochondriale Apoptosekanal (mAC) aktiviert. Sobald dieser Kanal sich öffnet, steigt die Permeabilität der äußeren Membran des Mitochondriums stark an, wodurch sie ihre elektrische Ladung und den Protonengradienten verliert. Daraufhin entstehen plötzlich sehr viele freie Radikale, welche die verschiedenen Lipide der inneren Membran oxidieren. Wird dabei beispielsweise Cardiolipin oxidiert, so kann es sich an Komplex IV binden, der wiederum seinen Platz in der inneren Membran aufgibt und so die Elektronentransportkette absperrt.

Bei diesem Anstieg der freien Radikale wird unter anderem auch Cytochrom c frei, das sich mit anderen Bestandteilen des Zytoplasmas zum „Aptosom“ zusammenschließt, welches wiederum die Enzyme für den Zelltod aktiviert, die Caspasen. Sie erinnern sich? Cytochrom c sorgt dafür, dass Elektronen von Komplex III an Komplex IV weitergereicht werden. Unter normalen Umständen sitzt es fest in der Außenseite der inneren Mitochondrienmembran. Sobald es jedoch frei in der Zelle schwimmt, verbindet es sich mit anderen Molekülen zu einem Komplex, der die Caspasen auf den Plan ruft.

Die Freisetzung von Cytochrom c aus der inneren Membran scheint ein entscheidender Schritt für die Apoptose zu sein. Ab diesem Punkt gibt es in diesem Prozess kein Zurück mehr. Interessanterweise reicht es übrigens, einer gesunden Zelle Cytochrom c zu injizieren, damit sie abstirbt – ein gutes Beispiel für die „Gefährlichkeit von Halbwissen“. In der Elektronentransportkette gibt es zwei Komponenten, die keine Komplexe darstellen, Coenzym Q10 (CoQ10) und Cytochrom c. CoQ10 ist ein Naturheilmittel von verblüffender Wirkung, dessen Einnahme sich bei vielen Gesundheitsproblemen als hilfreich erwiesen hat. Wenn wir jedoch davon ausgehen würden, dass dies auch für Cytochrom c gilt (das ja schließlich Elektronen auf Komplex IV übertragen soll), so würden wir uns umbringen (weshalb es keine Nahrungsergänzungsmittel mit Cytochrom c gibt).

Sind die Caspase-Enzyme einmal aktiviert, bauen sie die Zelle gezielt ab. Solange die Zelle schrumpft und dann zerlegt wird, bleiben ihre Organellen noch einigermaßen intakt und von ihren Membranen umschlossen. Nachbarzellen oder Makrophagen verdauen die Einzelteile und bereiten ihre Wiederverwertung vor. Bei korrekter Durchführung ist die Apoptose ein Ablauf, bei dem die Zelle sich nach einem festen Programm selbst zerstört. Auf diese Weise baut der menschliche Körper Tag für Tag rund zehn Milliarden Zellen ab.

Die Regulierung der Apoptose ist komplex. Bis der Tötungsmechanismus in Gang kommt, sind viele Prüfstellen zu überwinden, und praktisch jedem Schritt stehen andere Proteine entgegen, die sich der Apoptose widersetzen, um falschen Alarm zu verhindern. Doch sobald die Caspasen aktiviert sind, ist der Prozess kaum mehr stoppen. Eine Zelle kann auf tausenderlei Weise erfahren, dass sie sterben muss. Zum Beispiel können aktivierte Immunzellen Signale senden, die eine Apoptose bei Krebszellen auslösen. UV-Strahlen, Umweltgifte und Schadstoffe, Viren und Bakterien, körperlicher Stress und diverse Traumata sowie Entzündungen können DNA-Mutationen bewirken. All diese Auslöser aktivieren am Ende die Caspase-Kaskade. Im Stadium der Caspasen laufen also alle diese Signale irgendwie zusammen, und die Caspasen wiederum werden durch einen Ansturm freier Radikale in Gang gesetzt, der nach der Depolarisierung der inneren Mitochondrienmembran und der Freisetzung von Cytochrom c erfolgt.

Zahlreiche Studien belegen den Wert der Apoptose über die Verhinderung unkontrollierten Wachstums und eine ausgewogene Zellteilung hinaus. Denn die Apoptose gibt es in der Natur überall. Während der menschlichen Embryonalentwicklung beispielsweise sterben in mehreren Wellen Unmengen an Neuronen ab. In bestimmten Gehirnarealen bilden sich über 80 Prozent der in frühen Entwicklungsphasen angelegten Nervenzellen zurück (ein ähnliches Verhältnis wie der Eizellverlust von der Embryonalentwicklung bis zur Geburt). Der Tod all dieser Neuronen gestattet dem Gehirn, sich sehr präzise zu verdrahten. Zwischen bestimmten Neuronen entstehen funktionelle Verbindungen, welche die Ausbildung neuronaler Netzwerke ermöglichen, wohingegen andere ausgemerzt werden. Werden bestimmte dieser Verbindungen nicht entfernt, so könnten ungewöhnliche Verbindungen zwischen Hirnarealen bestehen bleiben, die normalerweise nicht direkt miteinander kommunizieren. Das könnte erklären, weshalb manche Menschen Farben oder Oberflächenbeschaffenheiten wahrnehmen, wenn sie Zahlen sehen, oder warum bestimmte Ziffern mit bestimmten Emotionen verknüpft werden (sogenannte Synästhesie).

Ein Beispiel aus Lanes Werk beschreibt, wie wir zugunsten der Fingerbildung bestimmte Anlagen an unseren Händen nicht ausbilden. Denn nach der Handentwicklung setzt die Apoptose ein und entfernt die Zellen zwischen den Fingern. Misslingt dieser Versuch, so bekommt das Kind Schwimmhäute. Die Körperformung entsteht also nicht durch Hinzufügen, sondern durch Wegnehmen.

Beim nekrotischen Zelltod hingegen, der Nekrose, schwillt die Zelle an, bis sie reißt. Die Organellen zerfallen, und es kommt meist zu Entzündungen. Dieser Prozess kann auch mit der Öffnung eines Kanals in der inneren Mitochondrienmembran beginnen, dem Megakanal (auch als mitochondriale Permeabilitäts-Transitions-Pore oder mPTP bezeichnet). Hinzu kommt ein in jüngerer Zeit entdeckter dritter Mechanismus des Zelltods, der zwischen Apoptose und Nekrose einzuordnen ist, die Nekroptose (eine programmierte Form der Nekrose), an der die mPTP beteiligt sein kann.

Die Untersuchung des Zelltods ist eine komplexe Angelegenheit. Noch komplizierter wird sie angesichts von Studien, denen zufolge die Apoptose dicht von der Nekrose gefolgt ist und umgekehrt. Offenbar können all diese zellulären Prozesse also nahezu gleichzeitig ablaufen. Doch unabhängig davon, welcher Signalweg den Zelltod einleitet, spielen die Mitochondrien immer eine zentrale Rolle.

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