Читать книгу Die Mito-Medizin - Lee Know - Страница 30

Es wird so heiß hier drin: Die Entkopplung des Protonengradienten

Оглавление

Keine Diskussion zu den Mitochondrien wäre letztlich komplett, wenn wir ihre Rolle für die Wärmeproduktion übergehen. Der Protonengradient dient nicht nur der Energieerzeugung. Manchmal wird er von der Energieproduktion abgekoppelt und entlädt sich in Form von Wärme. Dabei laufen Elektronenfluss und Protonenpumpen ganz normal weiter, aber die Protonen fließen nicht mehr über die ATPase zurück, sodass kein ATP entsteht. Stattdessen passieren die Protonen wieder durch andere Poren in der Membran (die Entkoppelungsproteine), wo die Energie, die im Protonengradient gespeichert ist, als Wärme frei wird.

Über diesen Prozess werden wir zu Warmblütern, und so entsteht die normale Thermogenese, also Wärmeentwicklung, ohne zu zittern. Sie verläuft in erster Linie über das braune Fettgewebe (man spricht vereinfacht von braunem Fett). Im Gegensatz zu kaltblütigen Tieren wie Reptilien können Vögel und Säugetiere als Warmblüter ihre Wärme selbst erzeugen. Dieser Prozess nennt sich Endothermie. Das ist die eigentliche Definition von „warmblütig“ – die Fähigkeit, innerlich Wärme zu erzeugen. Die tatsächliche Temperatur des Blutes kann bei warm- und kaltblütigen Tieren dabei ähnlich hoch sein.

Viele Lebewesen, unter ihnen Schlangen, Haie und sogar manche Insekten, sind endotherm. Normalerweise erzeugen sie Wärme bei körperlicher Aktivität über ihre Muskeln. Säugetiere (auch der Mensch) können die Endothermie durch Muskelarbeit ergänzen, indem wir bei starker Kälte zittern oder indem wir uns körperlich anstrengen. Vögel und Säugetiere können aber auch über die Aktivität ihrer inneren Organe wie Gehirn oder Herz Wärme erzeugen.

Wie es dazu kam, ist eine ganz andere interessante Diskussion, die Sie bei Lane nachlesen können. Jenseits der offensichtlichen Vorteile für die körperliche Leistungsfähigkeit (warme Muskeln reagieren zum Beispiel schneller) und die Anpassung an kalte Umgebungen schützt die Endothermie letztendlich die Mitochondrien, indem sie bei geringem Energiebedarf den Elektronenfluss aufrecht erhält.

Aber wie? Wird ATP nicht verwertet, weil zu wenig Energie verbraucht wird, wird ADP rar, und die ATPase-Aktivität kommt ins Stocken. An dieser Stelle neigen Elektronen innerhalb der Elektronentransportkette zum Ausbrechen, reagieren mit Sauerstoff und erzeugen die destruktiven freien Superoxid-Radikale. Kehren wir noch einmal zu unserer Analogie eines Wasserkraftwerks zurück, das von einem Fluss gespeist wird. In Zeiten geringen Energiebedarf fließt weniger Wasser (Protonen) durch die Turbinen (ATPase). Irgendwann droht der Stausee hinter dem Damm jedoch überzulaufen (Entstehung von freien Radikalen). Dieses Risiko sinkt, wenn die Überlaufventile (Entkoppelungsproteine) geöffnet werden.

Noch klarer werden die Mechanismen, wenn wir uns einen Sportler ansehen, der nach dem Training hungrig eine Mahlzeit vertilgt und sich dann zum Ausruhen hinsetzt. Beim Training wird viel Energie verbraucht, doch die Reserven werden durch Glykogen und Fett aus der Nahrung schnell wieder aufgefüllt. Es gibt keinen Grund, mehr Energie freizusetzen, und die Mitochondrien füllen sich mit Elektronen aus der Nahrung. Aus unseren vorherigen Überlegungen wissen wir, dass es nun schwierig werden kann. Wenn die Elektronentransportkette mit Elektronen vollläuft (weil jetzt kein hoher Energiebedarf mehr besteht, die Elektronen also langsamer abfließen), können die Elektronen leicht entkommen, reaktive Radikale bilden und so die Zelle schädigen.

Nun könnte der Sportler natürlich aufstehen und einen Teil der überschüssigen Energie wieder verbrauchen. Er könnte die Energie aber auch verpuffen lassen und so das System vor dem Überlauf bewahren. Das passiert über die Entkoppelungsproteine, die als Überlaufventile oder -kanäle dienen. Dadurch wird der Protonengradient entkoppelt, damit der Elektronenfluss nicht länger an die ATP-Produktion gebunden ist. Wenn die Protonen über diese Kanäle abfließen, wird die im Protonengradienten gespeicherte Energie als Wärme frei. Sobald der Protonengradient auf diese Weise entlastet wird, können die Elektronen wieder weiterfließen, weil die Protonenpumpe weitergeht, ohne dass der Gradient übermäßig ansteigt. Dadurch entstehen weniger freie Radikale.

Im Ruhestoffwechsel nutzen Säugetiere bis zu 25 Prozent des Protonengradienten in Form von Wärme. Kleine Säugetiere wie Ratten, aber auch menschliche Säuglinge müssen ihre normale Wärmeproduktion über das braune Fett ergänzen. Braunes Fett enthält viele Mitochondrien und viele Entkoppelungsproteine, und weil fast alle Protonen über diese Kanäle zur Wärmeentwicklung genutzt werden, ist dieses Fett umso wichtiger, je größer die Oberfläche eines Säugetieres im Vergleich zu seinem Volumen ist (kleinere Säugetiere oder Säuglinge verlieren viel schneller Wärme als größere Säugetiere oder Erwachsene).

Die Möglichkeit, auf das braune Fett, die Entkoppelungskanäle und die Stoffwechselrate einzuwirken und zugleich weniger freie Radikale zu erzeugen, hat große Bedeutung für die Prävention diverser Gesundheitsbeeinträchtigungen (siehe auch Kapitel 3, Seite 218, „Massage und Hydrotherapie“). Das braune Fett könnte zumindest gut dazu beitragen, Menschen vor Adipositas zu bewahren. Mich fasziniert jedoch vor allem die Vorstellung, dass sich ohne die Mitochondrien und ihre Entkopplung des Protonengradienten niemals Warmblüter entwickelt hätten. Dann würden wir alle vermutlich nach wie vor der Lebensweise von Reptilien nachgehen, die mit diversen Einschränkungen einherginge.

Interessanterweise überleben Tiere – zum Beispiel Eisbären oder Kamele – auf diese Weise unter extrem unterschiedlichen Umweltbedingungen (siehe auch Seite 33, „Wie eine heiße Kartoffel: Die Elektronentransportkette“). Eisbären gibt es nur im Bereich der nördlichen Arktis, wo sie einen Großteil ihres Lebens auf dem Eis verbringen. Sie leben unter extrem kalten Bedingungen bei bis zu –55 °C und Windgeschwindigkeiten von bis zu 50 Kilometern pro Stunde in Alaska, Kanada, Russland, Grönland und Norwegen.

Dank ihrer dicken Unterhautfettschicht, dem „Blubber“, sind die Bären nicht nur gute Schwimmer (denn sie nutzen ihr Fett und zwei Schichten dichten fetthaltigen, wasserabweisenden Pelz, um leichter oben zu bleiben), sondern reichlich braunes Fett ermöglicht ihnen auch, sehr viel Wärme zu erzeugen, um nicht zu erfrieren.

Angesichts solcher Mengen braunem Fett brauchen Eisbären rund die Hälfte ihrer Nahrung nur, um sich warmzuhalten. Je kälter es in der Arktis wird, desto mehr müssen sie fressen, um nicht zu erfrieren. Das angesammelte Fett, das verzehrte Fett (vor allem Robbenblubber) und die Fettverbrennung zur Wärmebildung bedeutet, dass Eisbären nur wenig Wasser trinken müssen, denn ihr Wasserbedarf wird über die Ernährung und die Fettverbrennung gedeckt, bei der letztlich Wasser entsteht (in Komplex IV wird im Rahmen der Elektronentransportkette Wasser erzeugt – ähnlich wie bei Kamelen). Sieht man einen Eisbären Wasser trinken, so ist dies Studien zufolge ein Hinweis auf extreme Erschöpfung und großen Hunger. Aufgrund der globalen Erwärmung und des Klimawandels geht im natürlichen Lebensraum der Eisbären nun aber das Eis zurück, sodass die Eisbären mehr Energie benötigen, um bei der Robbenjagd zwischen den Eisflächen zu schwimmen. So bleibt weniger Fett für die Wärmeproduktion. Hinzu kommt, dass sie Beobachtungen zufolge mangels Eisflächen mehr an Land auf Nahrungssuche gehen. Dort ist die Beutesuche so schwierig, dass sie Vogeleier fressen, die allerdings nicht annähernd genug Fett liefern, um einen Eisbären zu ernähren.

Laut Lane lassen sich anhand des braunen Fetts auch bestimmte unterschiedliche Gesundheitsrisiken in verschiedenen ethnischen Gruppen erklären. Wie bereits erläutert bilden Mitochondrien den Dreh- und Angelpunkt für degenerative Erkrankungen und Alterung. Der Entkoppelungsgrad hat sich bei unterschiedlichen Populationen unterschiedlich entwickelt. Bei den Inuit im hohen Norden beobachten wir beispielsweise einen relativen hohen Anteil an braunem Fett. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die ständige Kälte in ihrer Umgebung erforderte die Fähigkeit, wie Eisbären große Mengen Wärme zu produzieren, um warm zu bleiben. Dank des höheren Anteils an braunem Fett stoßen die Mitochondrien der Inuit nicht so viele freie Radikale aus. Deshalb sind degenerative Erkrankungen wie Herzinsuffizienz in dieser Population weniger verbreitet als zum Beispiel in westlichen Bevölkerungsgruppen.

Menschen afrikanischer Abstammung hingegen, deren Mitochondrien sich in der brütenden Hitze des Äquators entwickelt haben, würden von exzessiver Wärmeproduktion nicht profitieren. Deshalb besitzen sie vergleichsweise wenig braunes Fett. Ihre Mitochondrien sind „fest verschlossen“, und der Protonengradient dient eher zur Erzeugung von ATP und Energie, nicht von Wärme. Dabei entstehen leider auch mehr freie Radikale, und Studien zufolge haben Amerikaner afrikanischer Abstammung ein erheblich höheres Risiko für degenerative Erkrankungen als die meisten anderen Bevölkerungsgruppen. Menschen, deren Abstammung matrilinear auf Äquatorialkulturen zurückverfolgt werden kann (denn die Mitochondrien werden über die mütterliche Linie vererbt), sollten darauf achten, ihr ATP ständig zu verbrauchen, weil Sport und Bewegung für sie besonders wichtig sind. Natürlich sind die Mitochondrien nur ein Teil des Gesamtbilds, denn bei dieser Population tragen viele weitere physiologische, epigenetische und sozioökonomische Faktoren zu einem höheren Risiko für degenerative Erkrankungen bei. Dennoch eröffnet es einen neuen Blickwinkel, dass zumindest ein Teil dieser Daten sich über Unterschiede der Mitochondrialgenetik erklären ließe.

Ich kann nicht für andere sprechen, doch ich persönlich finde solche Zusammenhänge unglaublich faszinierend! Sie hoffentlich auch. Bisher haben wir uns mit der Geschichte, Evolution und Bedeutung der Mitochondrien auseinandergesetzt. Betrachten wir nun, inwiefern sie an der Entstehung von Krankheiten beteiligt sind.

* An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass ich damit nicht die Abermilliarden Bakterien meine, die in und auf dem menschlichen Körper leben und jüngsten Untersuchungen zufolge nicht nur von größter Bedeutung für unsere Gesundheit sind, sondern unverzichtbarer Teil unseres Menschseins.

Die Mito-Medizin

Подняться наверх