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Mitochondriale DNA (mtDNA): Ein Relikt aus den Anfängen des Lebens
ОглавлениеNachdem die ersten Bakterien zu einer eukaryoten Zelle verschmolzen, lebten die umschlossenen parasitischen Bakterien (die irgendwann zu Mitochondrien wurden) in „Saus und Braus“. Das Wirtsbakterium stellte vieles zur Verfügung, was der Parasit zum Überleben brauchte, und dabei wurde er sozusagen träge. Viele Funktionen wurden vom Wirt ausgeführt, sodass es nicht mehr notwendig war, selbst klobige und redundante DNA mitzuschleppen. Schließlich brauchte der Mitbewohner keine Proteine mehr zu codieren, die bereits von der DNA der Wirtszelle hergestellt wurden. Die Natur war seiner Meinung, und weil die Natur gnadenlos zweckmäßig orientiert ist, begannen die parasitischen Bakterien, ihre nun überflüssigen Gene abzustreifen.
Abbildung 1.9 Zusammenfassende Illustration der Energieproduktion über oxidative Phosphorylierung durch Komplex I (obere Hälfte) und Komplex II (untere Hälfte).
Solange dabei keine unverzichtbaren Gene abhandenkommen, ist das unproblematisch. Wenn hingegen wichtige Gene verloren gehen, sterben Zellen unweigerlich ab. Lane erläutert diesen Prozess in seinem Buch anhand des Beispiels, wie unsere fernen Urahnen vor Millionen von Jahren das Gen einbüßten, das Vitamin C erzeugt. Da sie regelmäßig Früchte aßen, die viel Vitamin C liefern, war dieser Genverlust zum Glück keine Katastrophe. Sie haben auch so überlebt und sich vermehrt. Woher wissen wir nun, dass der Mensch dieses Gen einst besaß, es irgendwann jedoch verlor? Ein Großteil dieses Gens ruht nach wie vor in unserer „Junk-DNA“ (im „Genmüll“), und dieser verbliebene Teil bildet eine Parallele zu dem Gen, mit dem anderen Spezies bis heute Vitamin C erzeugen.
Der Verlust eines Gens im Namen der Effizienz ist völlig normal. Bakterien können unnötige Gene innerhalb von Stunden bis Tagen verlieren. Warum ist das effizient? Nun, Bakterien vermehren sich über Zellteilung, und diese erfordert viel Energie. Andererseits produzieren Bakterien (im Vergleich zu eukaryoten Zellen) nur sehr wenig Energie. Je kleiner die Bakterien-DNA ist, desto weniger Energie ist erforderlich, um die gesamte DNA für die Tochterzelle zu kopieren. Wie effizient dieser Genverlust auf dem Hauptchromosom von Bakterien ist, erkennt man an der geringen Menge Junk-DNA darauf.
Man möchte meinen, dieser Weg führe geradewegs in die Sackgasse, denn schließlich könnten die Bakterien die abgestreiften Gene ja später noch einmal brauchen. Aber das Entsorgen von Genen ist weniger selbstmörderisch, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Das liegt daran, dass Bakterien dieselben – und andere – Gene später erneut aufnehmen können, falls sie sie doch noch einmal brauchen. Dabei kommt das Konzept des lateralen Gentransfers ins Spiel. Bakterien können DNA aus ihrer Umgebung (zum Beispiel aus toten Zellen oder anderen Bakterien) aufnehmen. Diese „Kopulation“ wird als bakterielle Konjugation bezeichnet und ist dem Gentransfer beim menschlichen Geschlechtsverkehr gar nicht so unähnlich. (Ein gewisser Unterschied besteht natürlich – es geht mir nur darum, dass Bakterien neue Gene gewinnen können und dies auch tun.) Da Bakterien durch lateralen Gentransfer Gene aufnehmen können, müssen die großen Agrar- und Biotechkonzerne in meinen Augen noch weit mehr Forschungen anstrengen, ehe sie genetisch manipulierte Pflanzen und Tiere in die Nahrungskette einschleusen. Schließlich können unsere Darmbakterien oder die Bakterien im Darm von Nutztieren solche gezielt veränderten Gene übernehmen, und sie können auch auf zahllosen Umwegen „entwischen“ und in Fauna und Flora irreversible Schäden anrichten.
Das derartige Aufnehmen und Abgeben von Genen hält das Leben beständig im Fluss – was gut ist, weil es damit unwahrscheinlich wird, dass zu einem beliebigen Zeitpunkt alle redundanten Gene aus einer bestehenden Bakteriengemeinschaft verloren gegangen sind. Zumindest ein Bruchteil der Bakterien einer bestimmten Gemeinschaft dürfte jeweils noch eine voll funktionsfähige Kopie dieses redundanten Gens besitzen. Wenn sich die Umweltbedingungen ändern und dieses Gen plötzlich wichtig wird, können die Bakterien mit diesem Gen es über lateralen Gentransfer an die Bakterien in ihrer Nähe weitergeben. Diese Bereitschaft zum Teilen von Genen erklärt, warum ganze Bakterienpopulationen derart schnell eine Antibiotikaresistenz entwickeln können. Zugleich ist sie der Grund, warum kanadische und US-amerikanische Regulierungsbehörden regelmäßig Nachweise verlangen, dass Probiotikastränge in Nahrungsergänzungsmitteln keine Antibiotikaresistenz aufweisen (denn diese Gene könnten leicht auf potenziell pathogene Bakterien im Darm überspringen). Bei den winzigen Chromosomenringen der bereits erwähnten Plasmiden verläuft das Tempo des lateralen Gentransfers deutlich schneller. Bakterien können aber auch Gene aus ihren Hauptchromosomen übertragen, was einfach langsamer geschieht. Tendenziell wird jedes Gen, das nicht regelmäßig verwendet oder aktuell nicht benötigt wird, zugunsten schnellerer, effizienterer Replikation verworfen.
Als Abkömmlinge von Bakterien haben die Mitochondrien über diesen Prozess die meisten ihrer Gene eingebüßt. Wozu aber brauchte das Mitochondrium überhaupt noch Gene, wo es doch als verwöhnter Parasit in seinem Wirt lebte? Das ist eine gute Frage, besonders wenn man bedenkt, dass jede Zelle einige hundert bis tausend Mitochondrien besitzt und dass jedes Mitochondrium fünf bis zehn DNA-Kopien enthält. Lane hat sich ausführlich mit diesem Problem befasst. Zum Zeitpunkt der Teilung ist die Menge der Mitochondrien pro Zelle eine echte Bürde. Sowohl bei der Teilung der Mitochondrien – der mitochondrialen Fission oder mitochondrialen Biogenese – als auch bei der Zellteilung müssen all diese Mitochondriengene mitkopiert werden. Zudem muss jedes Mitochondrium seinen eigenen Apparat zur Gentranslation sowie proteinbildende Ribosomen aufrechterhalten. Dieser Prozess erscheint für die Nachfahren von Bakterien, die auf kompromissloser Effizienz beruhen, eher ineffizient.
Hinzu kommen potenziell katastrophale Folgen, wenn Mitochondrien mit unterschiedlichem Genom in derselben Zelle vorliegen (zum Beispiel, wenn väterliche Mitochondrien aus der Samenzelle überleben und mit den mütterlichen Mitochondrien aus dem Ei koexistieren – was meist zu einer Fehlgeburt führt). Vermeidbar wäre dies zum Beispiel durch die dauerhafte Übertragung aller Mitochondriengene auf den Zellkern.
Wenig sinnvoll erscheint zudem, dass das exponierte, wehrlose genetische Material in den Mitochondrien unmittelbar neben den Elektronentransportketten liegt, die immer wieder destruktive freie Radikale erzeugen. Diese freien Radikale können die mtDNA schädigen und Mutationen auslösen, was zum Absterben des Mitochondriums (und in der Folge zu diversen Krankheiten einschließlich Krebs) führen kann. Darauf komme ich später noch zurück.
Warum also wurde nicht das gesamte Erbgut der Mitochondrien in den Zellkern übertragen? Wenn diese DNA nach fast zwei Milliarden Jahren Evolution trotz guter und logischer Gegenargumente nach wie vor in den Mitochondrien ruht, muss es einen logischen Grund dafür geben – und das sollte schon ein sehr überzeugender Grund sein.
Ein Grund für die Erhaltung bestimmter Gene scheint darin zu liegen, dass sie die oxidative Phosphorylierung steuern. Das Tempo der oxidativen Phosphorylierung reagiert sehr sensibel auf den jeweiligen Energiebedarf, der oftmals von einer Minute zur anderen schwanken kann, je nachdem, ob wir wach sind oder schlafen, Sport treiben oder sitzen, mit einer Grippe kämpfen, eine Prüfung schreiben, verdauen, dieses Buch lesen oder was auch immer. Bei solchen rasch veränderlichen Szenarien müssen die Mitochondrien die Energieproduktion auf zellulärer Ebene prompt anpassen können, und zudem muss jede Zelle – ob Muskelzelle, Gehirnzelle, weißes Blutkörperchen, Darmzelle oder Leberzelle – individuell reagieren.
Eine geschmeidige Reaktion auf solche abrupten Veränderungen des Energiebedarfs müssen die Mitochondrien unmittelbar vor Ort justieren können, und diese Kontrolle wird über bestimmte Gene in der mtDNA sichergestellt. Die Reaktionen, die in der Elektronentransportkette in der Innenmembran der Mitochondrien ablaufen, müssen auf der Ebene des individuellen Mitochondriums genau reguliert werden. Wenn dieser Prozess aus der Ferne gesteuert werden müsste – über Gene, die fernab im Zellkern stecken –, wäre dies nicht nur ineffizient, sondern die Zelle könnte auf einen abrupt veränderten Energiebedarf auch nicht rasch genug reagieren.
Klingt das so weit einleuchtend? Gut! Dann sollten wir uns mit dem Gesetz von Angebot und Nachfrage befassen, ehe wir genauer überlegen, warum die Mitochondrien noch eigene Gene besitzen. Sie erinnern sich sicher, dass der gesamte Prozess in den Mitochondrien – von den einzelnen Komplexen in der Elektronentransportkette bis hin zur ATP-Erzeugung durch ATPase – wie ein fein abgestimmtes Räderwerk ineinandergreift. Die Geschwindigkeit des einen Rädchens hat Einfluss auf die des nächsten. Bei hohem Energiebedarf fließen die Elektronen rasch die Transportkette hinunter. Die Protonen werden schnell gepumpt, und der Protonengradient steigt zügig an (womit das Protonenreservoir sich füllt). Je steiler der Protonengradient, desto höher wird der Druck, rasch ATP zu bilden, weil die Protonen durch die ATPase gedrängt werden.
Die oxidative Phosphorylierung verwandelt aber auch dann alles ADP in ATP, wenn kein ATP-Bedarf besteht. Da die Zelle das ATP nicht verbraucht (wobei sie es wieder in ADP und Phosphat zerlegen würde), muss die ATPase ihren Dienst mangels Rohmaterial einstellen. Ab diesem Zeitpunkt können die Protonen die ATPase nicht mehr passieren, und das Protonenreservoir wird immer voller. Sobald der Protonengradient einen bestimmten Wert übersteigt, reicht die geringe Energiemenge, die entsteht, wenn die Elektronen über ihre Transportkette rinnen, nicht mehr aus, um gegen dieses starke Gefälle anzupumpen. Das Ausbleiben der Protonenpumpe führt dazu, dass der Elektronenstrom entlang der Kette ins Stocken und schließlich zum Erliegen kommt. Aber keine Sorge, sobald der Energiebedarf wieder steigt, gerät der Kreislauf wieder in Gang, und die Zelle verbraucht etwas ATP (wobei wieder ADP und Phosphat als Ausgangsbasis für die Arbeit der ATPase entsteht). Genau deshalb ist Bewegung so wichtig, denn sie verbraucht ATP. Auch hierzu kommen wir später noch. Es könnte natürlich auch zu wenig Sauerstoff vorliegen, wenn etwa bei einem Schlaganfall die Durchblutung bestimmter Gehirnareale ausbleibt. Ohne ausreichend Sauerstoff können die Elektronen am Ende der Atmungskette nicht abgenommen werden und stauen sich auf, ganz wie bei einem Verkehrsstau. Damit kommt die oxidative Phosphorylierung zum Stillstand. In beiden Situationen können die aufgestauten freien Elektronen austreten und freie Radikale erzeugen.
Neben Angebot und Nachfrage müssen wir jedoch weitere Komponenten der Elektronentransportkette berücksichtigen. Jede Komponente kann entweder reduziert (ein Elektron bekommen) oder oxidiert (ein Elektron abgeben) werden, aber nicht beides gleichzeitig. Wenn Komplex I also bereits ein Elektron bekommen hat, kann er kein weiteres aufnehmen, ehe er das erste an das nächste Carrier-Molekül in der Kette, Ubiquinon, weitergereicht hat. Bis dieses Elektron übergeben ist, stockt die Atmungskette. Wenn umgekehrt Komplex I kein Elektron hat, kann es so lange nichts an Ubiquinon weitergeben, bis es (von NADH) ein Elektron erhalten hat. Die Atmungskette stockt, bis dieses Elektron eingetroffen ist.
Diese Abfolge von Reduktion und Oxidation, die gemeinhin als Redoxreaktion bekannt ist, gilt in der Medizin als zukunftsweisendes Forschungsgebiet. In jedem Mitochondrium gibt es Tausende von Elektronentransportketten (pro Mitochondrium knapp 10 000, was eine beeindruckende Zahl ist), und die oxidative Phosphorylierung verläuft am reibungslosesten, wenn zwischen oxidierten und reduzierten Transportmolekülen (Carrierproteinen) ein ausgewogenes Verhältnis von 50:50 besteht.
Wenn dieses Gleichgewicht verloren geht, werden nicht nur oxidative Phosphorylierung und Energieproduktion ausgebremst, sondern auch die Mitochondrien massiv geschädigt. Das liegt daran, dass jedes Transportmolekül in der Kette reaktiv ist. Bei normalem Elektronenfluss gibt jeder Carrier seine Elektronen an den nächsten Carrier weiter, der ein etwas höheres Bedürfnis nach diesem Elektron hat als sein Vorgänger. Da die Carrier jedoch nicht gleichzeitig oxidiert und reduziert werden können, ist die Elektronentransportkette in dem Moment blockiert, wenn das folgende Molekül bereits ein Elektron hat. Dann besteht die Möglichkeit, dass dieses Elektron vorzeitig mit Sauerstoff reagiert. Wenn Sauerstoff ein Elektron nicht von Komplex IV (dem letzten Trägermolekül in der Kette), sondern von einem anderen Carrier bekommt, entsteht das giftige freie Radikal Superoxid. Das ist nicht unbedingt schlimm (worauf ich später eingehe). An dieser Stelle sollten wir jedoch bedenken, dass Superoxid anschließend alle möglichen biologischen Moleküle schädigen kann. Und das wollen wir in der Regel nicht. Der Vorgang ließe sich mit Zügen auf einer Bahnstrecke vergleichen: Wenn ein Zug einen bestimmten Bahnhof nicht rechtzeitig verlässt, kann der nächste Zug nicht einfahren. Bestenfalls gerät dann der Bahnverkehr ins Stocken. Falls ein herannahender Zug aber kein Signal erhält, dass der Bahnhof besetzt ist, und nicht früh genug abbremst, kann es leicht zu einem Unfall kommen. Die Waggons entgleisen, und es kommt zu unterschiedlichen Schäden.
Daher sorgt die Erhaltung einer 50:50-Bilanz für die Redoxreaktion nicht nur für einen raschen, effizienten Elektronenfluss entlang der Transportkette, sondern sie minimiert auch das Risiko für die Bildung des freien Radikals Superoxid. Die Erhaltung dieses Gleichgewichts hängt jedoch auch vom Verhältnis der Carriermoleküle in der Elektronentransportkette zueinander ab. Hat ein Mitochondrium beispielsweise jede Menge Komplex I, der ein Elektron von NADH übernommen hat, aber nicht genug Ubiquinon, so jonglieren viele „volle“ Komplex-I-Einheiten mit ihrem Elektron herum, bis dieses irgendwann auf Sauerstoff überspringt. Und wie alles im Körper ist auch die relative Menge aller Komponenten der Elektronentransportkette beständig im Fluss. Alles wird unablässig abgebaut und ersetzt.