Читать книгу Die Mito-Medizin - Lee Know - Страница 29
Degenerative Erkrankungen und das definitive Ende
ОглавлениеDas exakte Signal für die Apoptose kennen wir noch nicht genau. Wahrscheinlich sind zwei miteinander zusammenhängende Faktoren daran beteiligt, nämlich der prozentuale Anteil an schlecht funktionierenden Mitochondrien und der ATP-Spiegel in der Zelle insgesamt im Verhältnis zur Nachfrage. Was im Gewebe und womöglich in einem ganzen Organ abläuft, nachdem eine Zelle das Signal zur Apoptose erhält, hängt vom vorliegenden Zelltyp ab. Bei Zelltypen, die regelmäßig über Stammzellen ersetzt werden, in denen die Mitochondrien in unverbrauchtem Zustand vorliegen, treten keine negativen Auswirkungen auf. Handelt es sich jedoch um eine Zellform, die üblicherweise unersetzlich ist, zum Beispiel eine Nervenzelle, dann atrophiert mit jedem Zelltod das Gewebe, und die verbliebenen Zellen sind stärker gefordert, wenn sie den Anforderungen an die Organfunktion weiterhin gerecht werden wollen. Je mehr die überlebenden Zellen nun an ihre eigene Stoffwechselschwelle gelangen, desto leichter können zahllose externe Faktoren sie zusätzlich unter Stress setzen. Mit zunehmendem Alter beschleunigt sich dieser Prozess, weil immer weniger Zellen übrig sind, die die Arbeit von vielen übernehmen müssen. Das erklärt zugleich, warum wir (wie bereits erwähnt) keinen Nachweis dafür entdecken, dass die Mitochondrienmutationen außer Kontrolle geraten – defekte Mitochondrien und die Zellen, die sie enthalten, werden kontinuierlich abgebaut. Damit nimmt allerdings die Anzahl der funktionstüchtigen Zellen in jedem Organ allmählich ab, was als Atrophie (Geweberückgang) bezeichnet wird.
So können degenerative Krankheiten Einzug halten. Wenn die Qualität der Betazellen in der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) zurückgeht, sinkt der Insulinspiegel. Wenn das Herz Muskelzellen einbüßt, werden die Kontraktionen weniger effizient. Wenn die Neuronen im Gehirn absterben, kommt es zu Demenz. Jedes Mal gibt es einen Schwellenwert. Solange nur wenige Zellen im Herzen verloren gehen, ist eine Herzinsuffizienz unwahrscheinlich. Ab einer gewissen Menge wird die Herzfunktion eingeschränkt.
Diese Überlegungen zur Entstehung degenerativer Erkrankungen klingt ganz ähnlich wie die Überlegungen zur Alterung? Stimmt. Der Prozess ist derselbe, und das zeigt, wie eng Alterung und degenerative Krankheiten zusammenhängen. Wichtig ist dabei: Wenn wir den Alterungsprozess beeinflussen könnten, der dahinter steckt, ließe sich die maximale Lebenserwartung womöglich ausdehnen, und man könnte alle altersbedingten degenerativen Erkrankungen hinauszögern.
Wichtig ist dabei, dass zwar die Austrittsrate der freien Radikale eng mit der Lebensspanne verknüpft ist – entscheidend ist jedoch, wie die Produktion freier Radikale den Schwellenwert für die Apoptose beeinflusst. Manche Spezies (z. B. Ratten) haben Zellen, die schnell große Mengen freier Radikale absondern. Diese Zellen sind näher an ihrem Schwellenwert, weshalb es nicht lange dauert, bis sie das Signal zur Apoptose erhalten. Beim Menschen erreichen die Zellen diese Schwelle erst viele, viele Jahre später. Schon wenn wir die Leckagerate für freie Radikale aus den Mitochondrien weiter herabsetzen könnten, ließe sich der Beginn degenerativer Erkrankungen signifikant verzögern oder womöglich ganz verhindern. Derzeit scheinen wir degenerative Erkrankungen und die Alterung am ehesten (und realistischsten) beeinflussen zu können, indem wir die Mitochondrienfunktion verbessern und ihren Verfall hinauszögern. Die Vorstellung, dass wir der Aussicht auf ein langes, gesundes Leben womöglich schon so nahe sind, ist unglaublich aufregend.
Die pharmazeutische Industrie gibt Jahr für Jahr Milliarden für die Forschung aus, kann aber immer nur Symptome in den Griff bekommen. Dabei ist der Grundsatz, auf dem diese Industrie fußt, vermutlich selbst ein Problem. Medikamente werden praktisch ausschließlich erst dann verordnet, wenn eine Krankheit sich bereits körperlich manifestiert hat. Selten oder nie dienen sie dazu, Krankheiten von vorneherein zu verhüten. Falls es stimmt, dass die Qualität der Mitochondrien der wichtigste Faktor für Alterung und degenerative Erkrankungen ist, und wenn wir die Uhr der Mitochondrien nicht zurückdrehen können, sollte die Prävention bereits im Kindesalter beginnen.
Wie bereits ausgeführt (siehe Seite 60, „Überholte Theorien zur Alterung“), sind selbst die Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln mit all ihrem Marketing für Antioxidantien auf dem falschen Weg. Der Hype um die Antioxidantien stellt diese Mittel als Heilmittel für alle möglichen Krankheiten dar, und obwohl er allmählich weniger zieht, merken die Verbraucher bei dem Begriff „Antioxidantien“ nach wie vor hoffnungsvoll auf. Doch Antioxidantien können bestimmte Krankheiten zwar – wie ebenfalls bereits erwähnt – laut einigen Studien positiv beeinflussen, doch große Mengen können anderen Studien zufolge auch Schaden anrichten. Dass diese Substanzen als „natürlich“ und „gesund“ angepriesen werden, bedeutet nicht, dass man sie ungezielt oder in großen Mengen verwenden sollte. Wenn der Mensch wild an mitochondrialen Thermostaten herumschraubt, kann die Zelle ihre Stressreaktion nicht angemessen anpassen. Langfristig ist das keine gute Idee und unterminiert die Selbstschutzmechanismen der Natur. Dieser „Mitochondrienthermostat“ erklärt auch, warum Antioxidantien in einer kranken Population vielleicht das Leben verlängern können (im Vergleich zu ebenso kranken Menschen, die keine Antioxidantien einnehmen), aber nicht die maximale Lebenserwartung erhöhen. Vermutlich unterstützen Antioxidantien extrazelluläre Komponenten auf den Zellmembranen. Vielleicht wirken sie sogar im Zytoplasma. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie in der Lage wären, die freien Radikale zu stoppen, die in die Mitochondrienmatrix übertreten.
Andererseits schenkt uns dieses erweiterte Wissen über Mitochondrien neue Hoffnung und erhöht unser Verständnis für die Behandlung von Krankheiten. Wenn all die Gen- und Umweltfaktoren, die altersbedingte degenerative Erkrankungen auslösen, bei den Mitochondrien zusammenlaufen, müssen wir uns auf nur eine Organelle konzentrieren. Neuere Untersuchungen nehmen bereits die komplexen Interaktionen zwischen den Mitochondrien und anderen Organellen – wie den Peroxisomen und dem endoplasmatischen Reticulum – ins Visier, aber wir scheinen der Entdeckung des Mechanismus‘, der vielen Krankheiten gleichzeitig zugrunde liegt, doch einen großen Schritt näher zu kommen.