Читать книгу Heart of Sullivan - Leinani Klaas - Страница 10
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»Zimmer vier wäre noch frei«, sagt der alte Mann und greift nach einem Schlüssel. In den vorherigen Minuten hat er mit seinen Unterlagen geraschelt und uns immer wieder misstrauisch gemustert. Ich kenne diese kleine Pension und weiß, dass sie gerade mal sechs Zimmer hat. Und alle sechs Schlüssel hängen hinter dem Mann an der Wand. Langsam, fast wie in Zeitlupe, streckt er seine Hand nach dem Schlüsselbrett aus. Dabei lässt er uns keine Sekunde aus den Augen. Als ob wir die alte Tischklingel klauen würden.
»Danke sehr!« Ich lächle gezwungen, Emma muss ihm den Schlüssel fast aus der Hand reißen, ehe er ihn loslässt und wir uns umdrehen können. Das Zimmer ist allerdings so günstig, dass wir es von meinem Ersparten bezahlen können. Irgendwann werden wir uns wohl Gedanken über das Geld machen müssen.
Ich spüre seinen Blick, als wir die abgetretene Treppe ins erste Stockwerk emporsteigen. Es sieht noch alles genau so aus, wie in meiner Kindheit. Blümchentapete, der ehemals rote Teppich, der jetzt rosa ist, die altmodischen Leuchten mit den Troddeln. Ich seufze leise und versuche nicht an die Zeit zu denken, in der Elena und ich mit den Kindern der ehemaligen Besitzer hier Verstecken gespielt haben. Ronda und Harry hießen die Zwillinge, erinnere ich mich.
»Was hatte der denn für ein Problem?«
»Keine Ahnung. Der war ja schon sonderbar. Hauptsache wir haben ein Zimmer für die Nacht. Hier ist es«, sage ich und bleibe vor der Tür zu Nummer Vier stehen. Mit klopfendem Herzen schiebe ich den Schlüssel ins Schloss und drücke die Tür auf. Auch hier sieht es aus wie früher.
Es ist ein altmodisches, aber herrlich gemütliches Zimmer mit schweren Vorhängen und gemusterter Tapete. Und es hat eine Badewanne. Emma, die weiß, wie gerne ich bade, nimmt mir meinen Rucksack ab und schiebt mich mit einem Augenzwinkern ins Bad.
»Wenn du fertig bist, möchte ich dir etwas zeigen.« Natürlich macht mich das neugierig, aber Emma zieht mir die Tür vor der Nase zu und ich belasse es dabei. Erst die Badewanne, dann das was Emma mir zeigen möchte. Ich schäle mich aus meinen Klamotten. Jetzt erst fällt mir auf, wie schmutzig sie sind. Während ich das Badewasser einlasse, wasche ich ein paar meiner Sachen mit der Flüssigseife aus dem Spender und hänge sie über die Heizung. Danach steige ich in das angenehm warme Wasser und schließe die Augen. Für den Moment kann ich entspannen, das Wasser genießen, das an meinem Körper leckt, doch schon im nächsten Moment macht mir mein Gehirn einen Strich durch die Rechnung. Es erinnert mich daran, dass dies die erste Nacht seit einer ganzen Weile ist, die ich in Illington verbringen werde, und das auch noch in einem Hotelzimmer. Plötzlich fühle ich mich wie ein Gast, schlimmer noch, wie eine Fremde, in meinem eigenen Dorf. Aber ist es denn noch mein Dorf? Ab wann ist eine Heimat keine Heimat mehr?
»Nein«, sage ich und schlage mit der Hand so fest auf das Wasser, dass Spritzer dunkle Flecken auf der gelben Tapete hinterlassen. Keine trüben Gedanken mehr. Davon hatte ich heute reichlich und irgendwann genügt es auch mal. Wenigstens für die nächsten paar Stunden. Trotzdem ist an Entspannung nicht mehr zu denken. Seufzend steige ich aus der Badewanne und wickele mich in eines der großen Handtücher. Ich brauche dringend Ablenkung und ärgere mich darüber, die Kiste vorhin nicht einfach mitgenommen zu haben. Was ist, wenn diese Jenny in den Keller geht und beim Stöbern das Versteck unter dem Pullover entdeckt. Mir wird ganz heiß bei dem Gedanken. Ich lehne meine Stirn gegen das kühle Spiegelglas und atme ein paar Mal tief durch bis ich mich wieder beruhige. Als es leise an der Tür klopft, hebe ich den Blick und begegne Emmas Augen, die mich sorgenvoll mustern. »Kommst du zurecht?«
»Geht schon«, flüstere ich und ziehe das Handtuch enger um mich. Emma bemerkt mein Zittern und schließt die Tür. Warme Finger berühren mein Gesicht, als sie sanft über meine Wangen streicht und ihre Hände um mein Gesicht wölbt. Ein Prickeln, das meinen ganzen Körper erschaudern lässt, durchfährt mich und ich schmiege mein Gesicht an ihre weiche Haut. Zum Glück ist sie bei mir, denke ich und fühle wie sich meine Mundwinkel heben.
»Lass uns schlafen gehen«, sagt Emma und reicht mir meine Zahnbürste.
Wir stehen nebeneinander vor dem Spiegel und ich betrachte unsere beiden Gegenbilder im Glas, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Emma ist wirklich groß, nicht nur im Vergleich mit meiner Winzigkeit, und dennoch eher zierlich, während mein Körper kurvig ist. Ihre Augen sind blau, meine so dunkelbraun, dass man sie fast schon als schwarz bezeichnen könnte. Sie passen zu meinen dunklen, sehr langen Haaren, die, wie ich seit kurzem weiß, bei Emma aschblond sind. Um gegen ihre strengen Eltern zu rebellieren, hat sie sich die Haare abschneiden und rosa färben lassen. Eine Farbe, die ihr hervorragend steht. Aber an ihr sähe alles gut aus. Das einzige, das wir gemein haben, ist unsere blasse Haut. Ich begegne ihrem Blick im Spiegel. Sofort ist diese Wärme wieder da, die sich in mir ausbreitet, wenn Emma mich so ansieht.
»Du bist so schön, Heart«, flüstert sie plötzlich und berührt mich an der Hand. Verlegen senke ich den Blick auf meine Füße.
»Ach was«, wehre ich ihr Kompliment ab und fühle, wie meine Wangen rot werden. Ich kann nicht glauben, was sie da sagt. Nicht, weil ich mich hässlich finde, sondern weil sie es sagt. Weil Emma mich schön findet. Sie legt einen Finger unter mein Kinn und hebt es an, damit ich ihr in die Augen schaue. Ihr Blick ist so zärtlich, dass mir noch wärmer wird und mein Herz immer schneller zu schlagen beginnt. Es fühlt sich so an, als wolle es meine Brust verlassen und mit dem ihren verschmelzen. Ihr Gesicht ist meinem jetzt so nah, dass ich ihren Atem auf der Haut spüren kann. Emma zieht mich noch näher, ihre Lippen berühren fast die meinen und ich schlucke schwer.
»Verrückte, impulsive, wunderschöne Heart«, murmelt sie an meinen Lippen und dann, endlich, küsst sie mich.
Später liegen wir dicht aneinander geschmiegt unter der warmen Bettdecke. Emma streichelt die nackte Haut meines Rückens und in Wellen überrollt mich ein Gefühl von Glückseligkeit und Geborgenheit.
»Du, Emma.« Sie brummt schläfrig. »Was wolltest du mir eigentlich zeigen?«
Die Laken rascheln, als sie sich zu mir dreht. Ihre Augenlider sind schwer vor Müdigkeit und sie gähnt ausgiebig.
»Ach ja, stimmt. Schade …« Sie küsst mich sanft, bevor sie aufsteht. Von draußen fällt helles Mondlicht in unser Zimmer und lässt ihre Haut silbrig schimmern. Mein Herz macht einen kleinen Satz bei ihrem Anblick. Sie ist einfach hinreißend schön.
»Machst du mal das kleine Licht an.«
Auf dem Nachtkästchen neben dem Bett thront ein Monster von einer Nachttischlampe und ich brauche einen Moment, bis ich sie anbekomme. Emma setzt sich wieder auf das Bett und legt einen zusammengeknuddelten Pullover vor mich, der mir wage bekannt vorkommt. Er ist dunkelbraun, sieht selbstgestrickt aus und …
»EMMA!«, kreische ich und zerre den Pullover, Tillys Pullover, fort. »Ja! Aber … wie hast du das angestellt.«
»Ich glaube, manchmal unterschätzt du mich ein bisschen«, sagt sie schmunzelnd.
Da liegt sie. Alt und ein bisschen rostig. Die Kiste aus Tillys Keller. Ich schüttle den Kopf und lache gleichzeitig.
»Das ist ja der Hammer. Wahnsinn. Ich habe dich wirklich unterschätzt.«
Aufs Neue überrascht mich ihre Beherztheit und ich küsse sie überschwänglich auf die Wange. »Du bist klasse!«
»Jetzt mach sie schon auf«, sagt sich verlegen und ich sehe, wie ihr die Röte in die Wangen schießt.
»Schau mich nicht so an«, fordert sie lachend und lässt sich zurück aufs Kissen fallen. Ich lehne mich über sie, lächle, küsse sie, lächle und küsse sie wieder. Emma schlingt die Arme um mich und für die nächsten paar Minuten ist die geheimnisvolle Kiste vergessen.
»Wollen wir sie jetzt endlich öffnen?«, frage ich Emma.
»Unbedingt. Ich sitze schon den ganzen Abend wie auf heißen Kohlen.«
Wir schauen einander aufgeregt an. »Das ist ein bisschen wie bei Schrödingers Katze. Was da drinnen ist, kann uns sowohl weiterhelfen als auch der totale Reinfall sein. Wer weiß, vielleicht hat Tilly ja einzelne Socken gesammelt.«
»Na sicher. Würdest du deine Sockensammlung unter einem losen Dielenbrett verstecken?«
Vorsichtig schiebe ich meine Fingernägel in die Rille und drücke gegen den Deckel. Die Kiste hat kein Schloss oder einen anderen Mechanismus, um sich öffnen zu lassen. Tilly muss gedacht haben, dass ein Versteck im Keller ausreichend sei, denke ich erleichtert, als der Deckel sich aufklappen lässt.
»Und?«
»Es sind auf jeden Fall keine Socken«, erwidere ich schmunzelnd. »Es sind Notizbücher.«
Solche wie Tilly sie immer verwendet hat. Mein Herz rast vor Aufregung. Sind das die Tagebücher, die ich damals in Tillys Wohnung gesucht habe? Ich nehme mit zitternder Hand eines heraus, klappe es auf der ersten Seite auf und beginne zu lesen.