Читать книгу Heart of Sullivan - Leinani Klaas - Страница 9
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Ich trage bunt blühende Zweige in den Armen. Der Wald empfängt uns so viel freundlicher als damals. Er ist voller Leben und Geräuschen, die Luft ist warm und riecht nach Harz und Tannen und dennoch läuft mir ein eisiger Schauer über den ganzen Körper. Emma geht es nicht besser. Bei jedem Geräusch zuckt sie zusammen und schaut sich um, als erwarte sie jeden Augenblick Nebelschwaden. Wir haben uns nicht dazu durchringen können, tiefer in den Wald zu gehen, der uns noch immer in unseren Albträumen heimsucht. Stattdessen habe ich mir den Stamm einer riesigen, alten Schwarztanne ausgesucht, um meine Eltern zu begraben. Symbolisch für ihre beiden Körper haben Emma und ich Sonnenblumen und Lavendel abgeschnitten, die wir vorsichtig vor den dicken Stamm legen. Mir wären Flieder oder Blutjohannisbeere lieber gewesen, doch ihre Zeit ist, wie die meiner Eltern, längst verstrichen. Die Farben der Blüten stechen aus dem Braun des Waldbodens hervor und sehen so fröhlich aus, dass sie schwer zu einer Beerdigung passen. Doch so ist es mir lieber. Ich möchte nicht in Schwarz um meine Eltern trauern. Sie waren lebensfrohe und manchmal auch verrückte Menschen. Dieser Abschied passt viel besser zu ihnen und ist ihnen würdiger. Ich lege eine Hand auf die Stelle wo mein Herz unter der Brust schlägt und schlucke. Emma beginnt zu weinen. Ihr Schluchzen erfüllt den kleinen Platz um den Baum herum und in diesem Moment schrumpft die Welt um uns zusammen. Mir ist, als bekäme ich plötzlich keine Luft mehr und noch während ich um Fassung ringe, füllen sich meine Augen mit den ersten Tränen. Ich weiß nicht, wer von uns als erste auf die Knie gesunken ist, doch irgendwann sitzen wir beide auf dem Waldboden und weinen bitterlich. Mein Herz blutet vor Trauer und fühlt sich kalt und leer an. Die Leere, die der Verlust meiner Eltern hinterlässt, ist so dunkel und schmerzhaft, dass ich zusammenbreche, daran zerbreche. Ich frage mich, ob es stimmt, hoffe, dass es so ist, kann aber in diesem Moment nicht daran glauben, dass Zeit alle Wunden heilt. Ich habe keine Familie mehr! Wie soll ich darüber je hinwegkommen? Wie sollte Zeit dabei helfen? Aber Emma ist noch da. Meine liebe, fantastische Emma. Ohne sie fühle ich mich nicht mehr wie ich selbst. Sie versteht mich. Wir müssen einander nicht glauben, wir wissen, was die andere durchgemacht hat, ohne dass wir einander für seltsam halten. Wir sind gemeinsam durch die Hölle gegangen und finden jetzt langsam den Weg zurück in die Helligkeit. Und auch das wieder vor allem gemeinsam. Sie und ich gegen den Rest der Welt. Sehr schnell waren aus zwei Fremden Freundinnen geworden - eine Einheit. Gute, wie schlimme Erlebnisse schweißen einfach zusammen.
Hand in Hand laufen wir langsam zurück ins Dorf. Ich fühle mich leer und kraftlos. Und ich friere. Selbst in der sengend heißen Augustsonne zittere ich wie Espenlaub. Emma und ich haben ein paar Worte gesprochen und versucht, uns zu verabschieden. Unsere kleine Beerdigung war ein schöner, wenn auch schmerzhafter Moment, doch ob sie mir hilft, mit dem Tod abzuschließen oder nur ein Schritt in diese Richtung war, weiß ich nicht.
Eine Beerdigung ist nicht nur ein Abschied, ein Ende von etwas, sondern auch ein Anfang. Sie trennt das Davor vom Danach. Deshalb, und weil ich mir einen Neustart wünsche, habe ich geglaubt, dieser Akt der Beisetzung würde mir helfen. Helfen, darüber hinwegzukommen, damit zurechtzukommen. Aber es hat nicht geholfen, jedenfalls nicht so, wie ich es mir gewünscht hatte. Dieser Moment unter der mächtigen Schwarztanne bestätigt mir, was ich ohnehin schon wusste, aber nicht wahrhaben wollte - meine Eltern sind tot!
Ob ich die Hoffnung hatte, sie hier in Illington, verwirrt, aber am Leben, wieder zu treffen? Natürlich! Aber die Hoffnung ist ein ganz mieser Wegbegleiter. Einer von der Sorte, der dir etwas vorgaukelt und dann am Ende laut über dich lacht.
Meine Eltern sind tot. Sie werden nie mehr zurückkommen.
Obgleich ich das weiß, fehlen sie mir überall. Manchmal sehe ich Dinge, von denen ich ihnen erzählen möchte, oder ich glaube Mamas Stimme zu hören. Wenn ich mich dann umdrehe, ist dort niemand. Nur Leere und oft Einsamkeit. Meine Finger umschließen Emmas Hand fester und ich laufe ein bisschen näher neben ihr her, bis sich unsere Oberarme leicht berühren. Die Einsamkeit lässt sich zusammen besser ertragen. Denn es ist keine physische Einsamkeit, die uns beide plagt. Im Laufen habe ich auf den Boden geschaut, weil es mir gerade schwer fällt all diese neuen Menschen in meiner alten Heimat zu sehen. Ich würde sofort weglaufen, wenn wir uns nicht etwas von diesem Besuch erhoffen würden. Es überrascht mich wenig, als wir kurze Zeit später wieder vor Tillys Café stehen, das jetzt Frühstückscafé heißt, und wir durch die Tür ins Innere treten. Der Laden ist leer.
»Na hallo. Ihr zwei schon wieder.« Jenny steht an einem Tisch und sammelt leere Gläser ein. Ihre Augen blitzen amüsiert. »Kann ich euch etwas anbieten?«
»Gerade nicht, danke. Es tut mir leid. Wir waren vorhin nicht ganz ehrlich zu Ihnen.«
»So?«, fragt sie und mustert uns abwechselnd.
»Wir, besser gesagt ich kannte die frühere Besitzerin dieses Ladens und ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht noch ein paar ihrer Sachen haben.«
»Heart«, zischt Emma.
Jenny stemmt die Hände in die Hüften. Ihre Miene verrät nicht, was sie denkt, und ich befürchte schon, mit meiner forschen Art zu weit gegangen zu sein. Dann wirft sie sich das Geschirrtuch über die Schulter, nimmt das volle Tablett hoch und nickt uns zu.
»Setzt euch doch erstmal und dann erzählt ihr mir, woher ihr Tilly Dawson kennt.«
Kurz durchzuckt mich Schmerz bei der Art wie sie ihren Namen ausspricht. Es fühlt sich an wie eine halbe Ewigkeit, dass jemand anderes als Emma oder ich diesen Namen ausgesprochen hat. Ein klein wenig fühlt sich dieser vertraute Name an, wie heimkommen und dadurch tut es umso mehr weh, da ich weiß, dass er nur ein Echo ist. Die verrückte, lebensfrohe und entschlossene Tilly wird nie wieder sein. Mir kein einziges Mal mehr Tee kochen oder Bonbons zustecken.
Erneut nehmen wir auf den hohen Stühlen vor dem Tresen Platz. Ich kann mir nicht helfen, muss mich einfach umsehen, in diesem Laden, der mir einst so vertraut war, wie mein eigenes Zimmer. Ich bemerke all die kleinen Veränderungen, die mich jedes Mal zusammenzucken lassen und auch das, was sich nicht verändert hat. Verhalten blinzle ich eine Träne weg, die sich in meinen Augenwinkel gestohlen hat. Jenny marschiert in ihrem rosa Tweet durch den Laden, verriegelt die Tür und dreht das Geöffnet-Schild auf ›Geschlossen‹. Emma und ich wechseln einen nervösen Blick. Ihrer sagt Ich hoffe, du weißt was du tust. Aber ich bin mir da nicht sicher. Obwohl ich Elena früher für die Impulsivere und Sprunghaftere von uns beiden gehalten habe, scheine ich jetzt diese Rolle eingenommen zu haben.
Jenny stellt zwei Gläser Limonade vor uns ab.
»Geht auf‘s Haus. Und jetzt raus mit der Sprache. Wer seid ihr?«
Emma zwickt mir leicht in den Oberschenkel und warnt mich, nicht zu überstürzt an die Sache ranzugehen. Also wölbe ich die Hände um mein Glas, um Zeit zu schinden, und halte den Blick gesenkt. Nach kurzem Zögern sage ich: »Vor einer Weile habe ich mal hier gewohnt und bin mit Tilly Dawsons Nichte zur Schule gegangen. Wir waren ganz gut befreundet und auch ihre Tante mochte ich sehr gerne.« Ich habe mal gelesen, dass man beim Lügen so nahe wie möglich an der Wahrheit bleiben soll.
»Als ich gehört habe, was hier passiert ist, da …« Ich breche ab. Dieses Mal ist mein Zögern nicht gekünstelt, es tut wirklich weh. Wieder brennen meine Augen.
»Da musstest du einfach herkommen. Liebes, ich verstehe dich.«
Ich bin so überrascht von ihrer Reaktion, dass ich den Kopf hebe und ihrem mitfühlenden Blick begegne. Fast bekomme ich ein schlechtes Gewissen, doch da ich so gut wie die Wahrheit gesagt habe, gibt es dafür eigentlich keinen Grund.
»Aber wieso willst du ihre Sachen sehen?«
Das ist eine gute Frage. Und leider habe ich keine Antwort darauf.
»Ach, einfach so«, murmle ich.
»Du hast doch gesagt, dass Tilly ein paar wertvolle Bücher besessen hat, an denen dein Vater interessiert ist.« Emma kneift mir wieder in den Oberschenkel und ich bemühe mich, ein nicht allzu fassungsloses Gesicht zu machen.
»Mein Vater?«
»Ja, dein Vater. Wissen Sie«, Emma wendet sich Jenny zu, »der Vater meiner Freundin ist Antiquitätenhändler und hat früher schon versucht, Tilly ein gutes Angebot für ein paar besondere Ausgaben zu machen. Er möchte nicht taktlos sein, aber er hat wirklich großes Interesse. Deshalb hat er uns hergeschickt, in der Hoffnung, dass die Bücher vielleicht noch da sind.«
»Mein Vater ist Antiquitätenhändler«, wiederhole ich wie ein Papagei. Glücklicherweise fragt Jenny im gleichen Moment: »Kommst du auch von hier?«
»Ich? Nein, nein. Aber ich bin schon lange mit ihr befreundet.«
Emmas plötzliche Courage überrascht mich ziemlich und ich starre sie an, bis sie mich zum dritten Mal kneift. Heute Abend wird mein Oberschenkel voller kleiner Flecken sein, wenn das so weiter geht.
»Und jetzt sind wir hier.« Emma lacht verlegen und hebt die Hände. Ihr neu entdeckter Enthusiasmus scheint sich wieder zu verabschieden und für eine Weile herrscht Stille.
Ich bin unsicher, ob es klug ist, noch etwas zu sagen oder ob ich nicht besser den Mund halten soll. Emma hat ein so wackeliges Gerüst aus Unwahrheiten gebaut, dass ich Angst habe, es zum Einsturz zu bringen. Ein falsches Wort und wir fliegen schneller aus dem Laden, als ich ›Geheimnis‹ sagen kann. Der Moment zieht sich quälend langsam in die Länge. Vorsichtig lächle ich Jenny an, doch es fühlt sich so unecht an, dass ich es schnell wieder bleiben lasse.
»Ihr habt Glück. Vor lauter Stress, das Café zu eröffnen, bin ich noch nicht dazu gekommen Tilly Dawsons Habseligkeiten wegzuschmeißen. All ihre Sachen sind im Keller. Ihr könnt euch gerne umschauen.«
Heute scheint das Glück ausnahmsweise einmal auf unserer Seite zu sein, denke ich, als ich Jenny, mit Emma auf den Fersen, in den kalten Keller folge.
»Wieso sind Sie denn eigentlich nach Illington gezogen?«, frage ich. Tatsächlich kann ich mir nicht im Entferntesten vorstellen, an einen Ort zu ziehen, der vor wenigen Wochen noch eine Geisterstadt war. Vor allem dann nicht, wenn eine Seuche für das plötzliche Aussterben verantwortlich gemacht wird.
»Neugierig bist du ja schon. Nicht wahr? Aber ich schätze, es ist nichts dabei, wenn ich es euch erzähle. Schließlich wart ihr ja auch ehrlich zu mir.«
Auf halbem Weg die Treppe hinab bleibt sie stehen und mustert uns nachdenklich.
»Ich habe vor Kurzem ein hübsches Sümmchen geerbt und die Preise hier waren sehr günstig. Obwohl ich mir schon ein paar Gedanken gemacht habe, konnte ich nicht widerstehen, hier einen Neuanfang zu wagen.«
Aha, denke ich.
Jenny fängt meinen Blick auf und gibt ein kurzes Lachen von sich. »Nein, Schätzchen. Nicht so wie du denkst. Blackville, mein Heimatort, ist winzig klein. Er liegt an den Ausläufern der Jonny-Jigger-Hills in einer Senke, über der sich fast permanent Wolken verfangen, und ist so verschlafen, dass dort schon um fünf Uhr nachmittags die Bürgersteige hochgeklappt werden. Der einzige Pub in der Nähe ist nur mit dem Auto zu erreichen und entweder wird man Hausfrau oder kümmert sich um die Tiere auf den umliegenden Höfen. Das war kein Leben für mich und nachdem meine Mutter, Gott hab sie selig, verstorben ist, hat mich dort nichts mehr gehalten.«
So einfach diese Erklärung auch ist, sie hat mich überzeugt und ich brumme zustimmend.
Jenny zieht an einer Schnur und helles Licht flackert auf. Der Keller ist vollgestopft mit Kartons, Tüten und am Boden herumliegendem Krimskrams.
»Schaut euch um. Wenn ihr etwas braucht, ruft mich.«
»Sie lassen uns einfach mit den Sachen alleine?« Emma spricht aus was ich denke.
Jenny lacht und winkt ab. »Hier unten steht nichts, was mir gehört. Vermutlich hätte ich mir noch nicht einmal die Mühe gemacht, all das Zeug durchzuschauen und es einfach abholen lassen. Wenn ihr glaubt, hier unten etwas Wertvolles zu finden, dann nehmt es einfach mit.«
Ein »Aber warum?«, kann ich mir dennoch nicht verkneifen.
Jenny stemmt die Hände in die Hüften. »Willst du dir die Sachen jetzt ansehen, Mädchen, oder nicht? Ihr zwei seht nicht unbedingt aus wie zwei Rumtreiberinnen und wie ich bereits gesagt habe, mir bedeuten diese Sachen nichts.«
»Findest du nicht auch, dass diese Jenny irgendwie komisch ist?«
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Meinst du, noch komischer als wir?«
»Ha, ha. Nein, im Ernst. Bilde ich mir das nur ein oder wirkt sie … unecht?«
Kurz denke ich darüber nach. Auch mir ist aufgefallen, dass etwas mit Jenny nicht stimmt, aber was kümmert uns das schon? Ich schiebe den Gedanken fort und zucke mit den Schultern. Dann wende ich mich den Dingen zu, die Jenny hier heruntergebracht hat und schüttle nachdrücklich den Kopf. »Nee.« Emma ist immer gleich verschreckt, wenn etwas in der Luft liegt und wir können es jetzt gerade nicht gebrauchen, dass sie einen Rückzieher macht.
Alle Habseligkeiten wurden in Kisten, Taschen und Kartons gepackt und ordentlich hier unten aufgestapelt. Tilly hatte viel Zeug, zum Teil richtigen Plunder. Ihr Leben jetzt in ein paar Kartons verstaut zu sehen, ist traurig und ich wünschte, ich hätte auch ihr ein paar Blumen unter den Baum gelegt.
Langsam drehe ich mich im Kreis, frage mich, wo wir anfangen sollen. Bei den Kisten hinten im schummrigen Eck? Oder bei dem staubigen Lederkoffer unter der steilen Holztreppe? Die Kartons hier an der Wand sehen unscheinbar aus, aber irgendwo müssen wir anfangen.
»Komm, hilf mir mal bitte.« Obenauf stehen zwar kleinere Kartons, aber selbst auf Zehenspitzen schaffe ich es nur, den untersten Rand des Kartons zu berühren.
»Zwerge haben es schon nicht so leicht im Leben, was?« Emma, die Riesin, hebt ohne Probleme den Karton an und hält ihn mir grinsend entgegen. Ich strecke ihr die Zunge raus. Insgeheim bin ich aber erleichtert, dass sie nicht weiter über Jenny nachdenkt.
»Wie interessant«, murmle ich sarkastisch und hebe eine kleine Stoffpuppe hoch. »Ziemlich gruselig.«
»Bist du dir sicher, dass diese Tilly nicht ein bisschen verrückt war?«
Ihre Worte verletzen mich und ich drücke die Puppe schützend an meine Brust. »Warum? Das ist nur ein altes Kuscheltier.«
»Heart.« Emma lacht laut auf. »Das ist mit ziemlicher Sicherheit eine Voodoo-Puppe.«
Vor Schreck lasse ich die, in der Tat etwas seltsame, Puppe zurück in den Karton fallen.
»Wuhää!«, stöhne ich und schüttle mich. Emma kichert immer noch. »Wenn wir tiefer graben, finden wir sicher auch noch die passenden Nadeln. Schau mal.« Sie hebt, schelmisch grinsend, eine Pappbox ins Licht. »Vielleicht hier drin.«
Wieder schüttle ich mich. »Lass das.«
Natürlich weiß ich, dass Voodoo nicht nur schwarze Magie ist, aber Voodoo-Puppen und Nadeln … Das passt nicht zu Tilly. Ganz und gar nicht. Nicht zu dem Bild, das ich von ihr habe. Angeekelt stelle ich den Karton mit der Puppe auf den Boden und schiebe ihn mit dem Fuß von mir.
»Lass uns da drüben weiterschauen, okay?«
Jahrelang angesammeltes Zeug, esoterische Ratgeber, ausgemalte Mandala-Bücher mit den Titeln ›Good Vibes – Good Feelings‹ oder ›Magische Mandalas – Futter für die Seele‹ und Kleidung fördern wir zutage. Es ist wieder genauso frustrierend wie vor ein paar Wochen, als ich Tillys Wohnung über dem Café auf den Kopf gestellt habe.
»Hier ist einfach nichts«, sagt Emma nach gefühlten Stunden und reibt sich über den steifen Nacken. »Tut mir leid, Kleine. Aber wir haben wirklich jede Kiste durchgeschaut.« Sie blinzelt müde und blickt auf ihre Armbanduhr. »Himmel! Es ist schon halb acht. Wir sollten uns Gedanken darüber machen, wo wir schlafen sollen.«
Natürlich hat sie recht und trotzdem will ich noch nicht aufgeben. Wir haben ein ziemliches Chaos angerichtet und irgendwann die Kartons einfach auf den Boden ausgeleert. Überall sind Tillys Sachen verstreut. Obwohl ich ihrer verstorbenen Seele gegenüber einen gewissen Respekt empfinde, bin ich wie im Rausch. Die pure Hoffnung etwas zu finden, treibt mich noch immer an. Es ist fast schon wahnhaft, dass ich nicht aufhören kann, alles nochmal und nochmal zu durchstöbern. Ich sitze inmitten eines Haufens aus Pullovern, Kerzenständern, einer zerkratzten Teekanne und losen Blättern.
»Irgendwas muss hier sein. Ich bin mir ganz sicher, dass hier was ist. Wir haben es nur übersehen.«
Auf allen Vieren krabble ich über den Boden. »Ganz sicher.«
»Jetzt hör auf. Da ist nichts. Nichts, das uns weiterhilft.« Mit dem Fuß stößt sie gegen einen Haufen Klamotten, den ich gerade in die Hand nehmen will.
»He, ich wollte … Emma!« Ich schiebe mich näher heran. »Emma, jetzt schau doch mal.«
Mit den Fingern fahre ich über die breite Holzdiele, die unter dem Haufen zum Vorschein gekommen ist, um sicher zu gehen, dass mich meine Augen nicht trügen. Und wirklich, die Nägel in dem alten Holz fehlen und die Diele bewegt sich unter meinen Händen.
»Ha!«, rufe ich aus und hebe das lose Brett an. Es knarzt und ich muss fester daran ziehen, damit es sich vollends aus dem Boden lösen lässt, dann aber halte ich es in Händen und schaue in ein dunkles Loch.
»Du meine Güte«, stößt Emma atemlos hervor. Sie kniet sich neben mich und stützt sich auf ihre Hände, um besser sehen zu können.
»Gib mir bitte mal die Taschenlampe.«
Sie öffnet ihre Umhängetasche, in der Henrie friedlich schlummert, und reicht mir die Lampe. Wir halten beide den Atem an, als ich sie anknipse und der Lichtstrahl eine Kiste erfasst. Eine dünne Staubschicht zeugt davon, dass sie schon eine Weile nicht mehr geöffnet worden ist. Die Kiste ist vielleicht so lang wie mein Unterarm und aus angelaufenem Metall.
»Hohl sie raus«, flüstert Emma aufgeregt. Im gleichen Moment öffnet sich die Tür zur Kellertreppe und wir fahren zusammen.
»Ich schließe gleich das Café. Seid ihr fertig?«, ruft Jenny.
»Mhm, fast.«
Jennys Schritte knarzen auf der alten Treppe, als erst ihre Füße und Beine, dann der Rest ihres beleibten Körpers auftauchen. Es gibt keinen Grund für meine Heimlichtuerei, aber ich lege einen alten, mottenzerfressenen Pullover über die Öffnung im Boden.
»Habt ihr gefunden, wonach ihr gesucht habt?«
Und ob wir das haben. »Nein, leider nicht. Aber wir haben eine ziemliche Unordnung angerichtet.«
»Ja, das sehe ich.« Jenny schmunzelt und lässt den Blick über das Chaos gleiten. Emma hebt umständlich im Aufstehen ihre Tasche hoch und tritt auf sie zu.
»Es tut uns leid. Wenn Sie es uns erlauben, kommen wir morgen wieder und räumen auf, Frau …«
»Ach, sagt einfach Jenny zu mir.« Sie zwinkert Emma zu. »Wenn ihr zwei mir versprecht, morgen wiederzukommen, will ich so tun, als wäre ich auf beiden Augen kurzzeitig erblindet. Kommt.«
Ich lecke mir über die Lippe und werfe einen kurzen Blick auf den Pullover. Eigentlich könnte es mir egal sein, ob Jenny die Kiste sieht, gleichzeitig will ich aber nicht, dass sie Fragen stellt und am Ende sogar sehen möchte, was sich daran befindet. Obwohl Jenny nett zu sein scheint, vertraue ich ihr nicht.
Dennoch zögere ich, bis Emma mein Handgelenk ergreift und daran zieht. »Komm«, fordert sie mich auf und schaut mich eindringlich an.
Morgen, denke ich und schultere meinen Rucksack. Der Punkt zwischen meinen Schulterblättern brennt, während ich die Treppe nach oben steige, in Gedanken bin ich ganz bei dieser geheimnisvollen Kiste.