Читать книгу Heart of Sullivan - Leinani Klaas - Страница 6
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Das monotone Rattern der Eisenbahn und ihr sanftes Schaukeln lullen mich normalerweise ein. Es gibt nichts, was mich mehr beruhigt, als der vorbeiziehenden Landschaft zuzuschauen, den Widerhall der Räder auf den Schienen als Vibration im Bauch zu spüren und nichts tun zu müssen, als zu sitzen. Mein Kopf sinkt von alleine nach vorn, die Muskeln in meinem Körper werden weich, meine Augen fallen zu und dann schrecke ich hoch. Mit einem Schlag ist die ganze Nervosität und bange Erwartung wieder da und beherrscht meinen Körper wie eine Urgewalt. Neben mir auf der Bank sitzt Emma Waldorf und ich kann ihren sorgenvollen Blick auf mir spüren. In den vergangenen zweieinhalb Stunden, seit unserer Abfahrt in Caselton, hat sie mir diesen Blick immer wieder zugeworfen und obwohl ich weiß, dass sie es nur gut meint, nervt er mich mittlerweile ein bisschen. Meine nervöse Angewohnheit, mit der Zunge immer wieder über die Oberlippe zu lecken, wenn ich angespannt bin, hat meine Lippen schon ganz ausgetrocknet. Eine fast schon fiebrige Aufregung hält mich so sehr in ihrem Bann gefangen, dass ich nicht in meinem Rucksack nach der Lippenpflege suchen kann. Stattdessen lehne ich meinen Kopf gegen das Fensterglas, das unter meiner Haut leicht vibriert, und schließe die Augen. Tief durch die Nase ein- und durch den Mund wieder ausatmen. Das beruhigt. Doch bald schon schießen mir wieder die Bilder durch den Kopf und mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Unter meinen Händen gibt der weiche Stoff des Polsters nach, als ich sie fest darauf drücke und meine Zunge erneut über meine Oberlippe schnellt.
»Hier.«
Vor meinen Augen taucht verschwommen ein kleines Döschen auf und schwebt in der Luft, bis mein Blick sich klärt und ich den Lippenbalsam erkenne, den Emma mir hinhält.
Dankbar greife ich danach und benetze meine Lippen, die erst kurz brennen, sich dann aber schnell besser anfühlen. Wenn sich doch nur alle Probleme so einfach beheben ließen. Ein kleiner Seufzer entschlüpft meinem Mund. Mit einer Hand reibe ich mir übers Gesicht und atme erneut tief durch.
Mach dich nicht so verrückt, beschwöre ich mich selbst. Nach Illington zurückzufahren war schließlich meine Idee gewesen und vor einigen Tagen, mit viel Abstand und der warmen Sonne im Gesicht, war der Gedanke an meinen Heimatort auch nicht so erschreckend gewesen. Doch jetzt, unmittelbar vor unserer Ankunft, tut mir mein ganzer Körper weh und die schrecklichen Bilder meines Dorfs, das man damals ohne viel Fantasie mit einer Geisterstadt hätte vergleichen können, tauchen wie ungebetene Gäste immer wieder in meinen Gedanken auf. Ich weiß nicht, was uns dort erwartet - ob uns dort überhaupt etwas erwartet. Ich frage mich, was mir mehr Angst machen wird: die Stadt wie bei meiner Abreise leer und verlassen vorzufinden oder neu besiedelt. Fremde Menschen in Häusern, die einst Bekannten und Freunden gehört haben, die die Straßen entlang spazieren, auf denen ich früher mit meiner Familie langgelaufen bin. Ohne mein Zutun fährt meine Zunge erneut über die Oberlippe und ich schmecke das klebrige Bienenwachs. Ich weiß nicht, wie lange ich es noch aushalte, untätig in diesem Zug zu sitzen und spüre ein mulmiges, heißes Gefühl im Bauch. Ich habe solche Angst davor Illington wiederzusehen, dass mir schlecht wird und ich krampfhaft schlucken muss. Emma fühlt meine Unruhe, denn sie greift nach meiner Hand, die sich erneut in das Polster krallt, und drückt sie fest. Diese einfache Berührung hilft mir, mich zu erden, auch wenn mein Herz noch immer heftig in meiner Brust schlägt.
»Du bist nicht alleine, Heart. Ich werde die ganze Zeit an deiner Seite bleiben und sobald es zu viel wird, können wir sofort wieder gehen!«, verspricht sie mir mit Nachdruck und in ihren hellen Augen kann ich die Ernsthaftigkeit ihrer Worte lesen, die mir das Gefühl gibt, mich auf sie verlassen zu können. In den Tagen nach meinem unverhofften Sieg über die Seelenhexe, haben wir uns gegenseitig gestützt und uns gehalten, wenn die Trauer über unseren Verlust zu schmerzhaft wurde, um atmen zu können. Ich weiß nicht, was ich ohne Emma tun würde. Manchmal ist sie das Einzige, das mich antreibt weiterzumachen und neu anzufangen. Oder es zumindest zu versuchen. Mit ihr an meiner Seite ist dieser Neuanfang nicht unbedingt leicht, aber auf jeden Fall einfacher zu ertragen. Jene Tage nach dem Kampf mit der Seelenhexe waren gezeichnet von Albträumen, von furchtsamen Blicken über die Schulter und traurigen Gedanken, die über uns hingen wie schwere Gewitterwolken. Grau, bleiern und unauflöslich. Mit dem Handrücken wische ich mir eine Träne von der Wange, die sich langsam einen Weg über mein Gesicht bahnt und drücke Emmas Hand zurück.
»Danke«, sage ich leise und meine es auch. Dieses kleine Wort reicht nicht ansatzweise aus, um ihr zu zeigen, wie viel es mir bedeutet, sie an meiner Seite zu wissen. Wie nicht anders zu erwarten, schüttelt sie den Kopf und tut so mein Wort ab.
»Du weißt doch …«, setzt sie an und verdreht die Augen. Ihre Aversion gegen dieses Wort lässt mich, trotz meiner Angst, kurz lächeln. Emma findet, man solle seine Dankbarkeit zeigen und nicht inflationär dieses Wort verschwenden, indem man sich für jede Kleinigkeit bedankt und dem Wort so seine Bedeutung nimmt. Ich versuche ihr diesen Gefallen zu tun, aber manche Angewohnheiten lassen sich nicht so einfach ablegen. Ich beuge mich zu ihr und drücke meine Lippen auf die weiche Haut ihrer Wange. Dort verweile ich, atme ihren Duft ein und spüre dem Prickeln in meinem Bauch nach, das sich jedes Mal einstellt, wenn ich sie berühre. Emma schlingt einen Arm um meine Schultern, zieht mich näher an sich und für einige wenige Augenblicke kann ich meine Sorgen vergessen.
»Wo willst du als erstes hin, wenn wir in Illington ankommen?«, fragt sie und reißt mich damit aus dem warmen Kokon des Vergessens. Ich stöhne auf und lasse sie los. Sofort fehlt mir die Berührung ihrer Haut, aber sie zu umarmen und gleichzeitig an mein Zuhause zu denken, fühlt sich merkwürdig falsch an. Mein Blick schweift aus dem Fenster, ohne dass ich die vorbeiziehende Landschaft wahrnehme, und ich überlege mir eine Antwort auf ihre Frage. Dabei zieht sich mein Herz immer wieder krampfhaft zusammen.
»In Kürze erreichen wir Hantingen. Der Zug endet hier. Wir bitten alle Gäste auszusteigen. Danke, dass Sie mit der Blomental-Bahn gereist sind!«
Um uns herum macht sich allgemeine Aufbruchsstimmung breit. Taschen werden hastig zusammengepackt, Jacken übergezogen und irgendwo jammert ein Kleinkind. Der Zug wird langsamer, stößt einen langgezogenen Pfiff aus und hinter den Fensterscheiben tauchen die ersten Gebäude des Ortes auf. Die aufgeregte Stimmung der anderen Fahrgäste überträgt sich auf mein ohnehin schon nervöses Gemüt und macht mich reizbar und genervt. Ich spüre eine unglaubliche Last auf mir ruhen, die mich nach unten zieht und erst, als ich als letzte den Zug verlasse und frische Luft in meine Lungen sauge, wird mir klar, wie nah wir Illington bereits sind. Fünfunddreißig Minuten, eine Busfahrt und einige Hügel trennen mich noch von meiner Heimat. Und ich kann voller Überzeugung sagen, dass ich lieber wieder in den Dampfwolken schnaubenden und ächzenden Zug steigen und wegfahren würde, als auch nur noch einen weiteren Schritt zu tun. Da Emma aber zielstrebig auf die Bushaltestelle zusteuert, muss ich einen Fuß vor den anderen setzen. Hantingens Bahnhof ist klein und hat nur zwei Plattformen, liegt aber so weit im Süden, dass die Pflanzen und Gebäude schon dem exotischen Stil des Nachbarlandes ähneln. Ich war erst einmal als Kleinkind hier und damals schon habe ich mich wegen des vielen Glases, der Rot- und Gelbtöne und der hohen Pflanzen wie auf einem anderen Planeten gefühlt.
Der Bus, der uns nach Illington bringen wird, steht schon mit laufendem Motor an der Haltestelle. Bereit zur Abfahrt. Beim Einsteigen zeigen wir unsere Tickets.
»So so, nach Illington also«, murmelt der Busfahrer, kratzt sich unter seiner grauen Schiebermütze und mustert uns eindringlich.
»Wieso?«, fragt Emma an meiner Stelle. Mir klebt die Zunge am Gaumen fest und sie weiß das.
»Komischer Ort, sag ich euch. Da stimmt was nicht. Fahr nicht gern da lang. Aber ihr müsst‘s ja wissen.« Sein Blick richtet sich wieder auf die Straße und wir sind vergessen, ehe er um die nächste Kurve fährt und das Blomental verlässt.
Mir schwirrt immer noch der Kopf von seiner Aussage, die das mulmige Gefühl in meinem Magen nur noch verschlimmert und eine böse Vorahnung beschleicht mich, als wir uns auf die Plätze ganz hinten fallen lassen.