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Vier Jahreszeiten

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Aus den Blicken sprechen Stimmen. Junge und alte. Sanfte, schmeichelnde. Ich könnte sie auf meinem Körper verstreichen, wie Butter auf einem warmen Hörnchen. Mit heißen Wangen würde ich ihre Fragen von den offenen Handflächen ablecken:

Wer bist du? Zu wem gehörst du?

Ich, ihr Sonnenschein (so haben sie mich oft genannt), gehörte zum Sommer. Im Sommer wurde ich geboren. Im Sommer starb meine Mutter. Im Sommer voll Leben und Tod waren wir alle zusammen: meine Großeltern Baka Brana und Deda Boro, die anderen Großeltern Nana Safeta und Dedo Nedžad, und ich. Papa war da und doch nicht da. In einem Zuhause, an zwei Orten, in zwei verschiedenen Stadtteilen aßen wir Pita von Nana Safeta und Sarma von Baka Brana, Dedo und Deda tranken Bier und Schnaps. Unsere Untermieter waren Allah und Tito.

Ich bin ganz aus Sommer! Der Sommer, das bin ich.

Die Stimmen lachten. Ihre dicken Finger kniffen mich in die Wangen, bis sie kupferrot leuchteten. Die Untermieter tauchten immer mal wieder auf. Der eine in Safetas und Nedžads Gebeten, der andere in Branas und Boros Partisanenliedern.

Und dann begann das Schießen …

Mit dem halben Zuhause zogen Baka Brana, Deda Boro und ich nach Šid, zu Omas Schwester. Das war mein erster Verrat. Ich ging mit den einen Großeltern fort und ließ die anderen zurück. In das mitgenommene halbe Zuhause, das sich gar nicht richtig an dem neuen Ort niederlassen wollte, zog ein neuer Untermieter ein: Krieg. So hieß er. Er tauchte ständig auf: ob wir gerade aßen oder badeten, ob wir gerade Verstopfung oder Durchfall hatten. Wellen hatten wir auch. Allerdings nicht die vom Meer, die Fie, Regen und Schnee. Sreten schaltete das Radio ein, bot uns selbstgemachten Holundersirup und drei Hocker an. Wir setzten uns hin und ließen uns – die Stimmen, nicht die Körper – von den Wellen tragen. An guten Tagen erwischten wir die Stimmen von Nana Safeta und Dedo Nedžad: Sie sagten, sie seiensche, Muscheln und Boote treiben lassen. Unsere Wellen wohnten im Haus eines gewissen Sreten. Das war ein guter älterer Mann mit einem großen Radio. Zu ihm gingen wir jeden Samstag, bei Sonn am Leben und diese Scheiße sei wohl hoffentlich bald vorbei. Mit der Zeit hasste ich dieses halbe Zuhause und dessen Untermieter. Ich stellte mir vor, wie ich ihm die Haare ausreiße, die Augen auskratze und Salz in die Nasenlöcher schütte. Aber ich traute mich nicht. Er war groß und stark.

Dann hörte das Schießen kurz auf …

Ich verließ das halbe Zuhause mit Baka Brana und Deda Boro und kehrte zurück in das andere halbe Zuhause, in dem Nana Safeta und Dedo Nedžad lebten. Das war mein zweiter Verrat. In der anderen Hälfte standen die Dinge schlecht. Der Waffenstillstand hatte nur kurz gehalten. Es wurde wieder geschossen. Wir hatten keine Fenster, nur dicke Kunststofffolie, der Ofen, den wir Sanduklija nannten, furzte mehr, als dass er heizte. Ich saß oft in meinem kleinen Zimmer und schrieb Briefe an Baka Brana und Deda Boro auf Zettel vom Roten Kreuz. Auch hier hatten wir einen Untermieter, auch er hieß Krieg. An den traute ich mich nicht ran, ich kannte ihn nicht gut. Ich versteckte nur seine Socken oder Hosen, manchmal spuckte ich ihm in sein Omelett aus Trockenei, in der Hoffnung, er würde die Botschaft verstehen und von selbst abhauen.

Dann kam der Herbst …

Granaten fallen. Nana Safeta und ich sitzen neben dem furzenden Ofen. Ich weine. Mit den Wellen kam die Nachricht zu uns, Deda Boro sei gestorben. Im Schlaf. Mit einer Träne im Augenwinkel. Nana Safeta seufzt, was mich echt nervt. Dedo Nedžad kommt mit einem ehrfürchtigen Lächeln und der Oslobođenje herein. Er setzt sich und schlägt triumphierend die letzte Seite auf.

Bei den Todesanzeigen ist ein Bild von Deda Boro mit einem kurzen Text zu sehen. Dedo Nedžad sagt: „Ganz egal, ob die schießen, hab ich mir gedacht, gestern Abend bin ich hin und habe es in die Zeitung gegeben, die Leute sollen es wissen.“ Ja, erzählten sich die Leute später um unser halbes Zuhause herum, Boro ist gestorben, irgendwo dort, weit weg vom Krieg. Ja, sage auch ich, Boro ist gestorben, mit einer Träne im Auge, und ich würde die Hand dafür ins Feuer legen, dass er im Sterben dachte, ich würde ihn nicht mehr lieben, weil ich ja weggegangen war. Mein Verrat wog schwerer.

Es kam auch mal der Frühling …

... in unser halbes Zuhause, wo Nana Safeta, Deda Nedžad und ich wohnten. Krieg ist angeblich ausgezogen. Vor einem Jahr. Aber er hat so eine Unordnung hinterlassen. Ein Dreckschwein, so was habt ihr noch nicht gesehen. Wir warten darauf, dass in das zu vermietende Zimmer endlich Frieden einzieht. Er sollte längst da sein, kommt aber nicht. Wir sind auf die Miete angewiesen. Man muss doch von irgendwas leben. Ich gehe jetzt ins Gymnasium. Das Leben ist teuer. Frieden ist nirgends zu sehen, aber Nana Safeta wird krank. Die Ärzte sagen Hirntumor, höchstens ein, zwei Monate hat sie noch. Alles scheint mir weit weg zu sein, wie auf hoher See. Jetzt hasse ich auch dieses halbe Zuhause. Ich schlafe viel. Eines Morgens ruft mich Nana Safeta, die schwach ist und nicht aufstehen kann, und bittet mich um Hilfe. Wie im Traum kommt es mir vor: Ich höre sie – und höre sie doch nicht. Irgendwie raffe ich mich auf, wanke zu ihrem Bett. Sie reicht mir ihre knorrige, dürre Hand. Ich ziehe und ziehe an ihr, wie an einem alt gewordenen Baum, nichts bewegt sich. Irgendwie ist sie schwer, zu schwer. Ich ziehe noch ein paar Mal, dann gebe ich auf. Ich sage zu ihr: „Es geht nicht“, und lege mich wieder hin. Noch im selben Moment schlafe ich ein. Nana stirbt am nächsten Tag. Ich werde selbst zum Verrat, der immer schwerer wiegt.

Es war auch einmal Winter…

Ah, stimmt. Beinahe hätte ich vergessen zu erzählen, dass Frieden endlich doch noch in unser halbes Zuhause eingezogen ist. Was für ein Schwindler. Ganz geschniegelt, wortgewandt, immer mit einem Lächeln im Gesicht. Zahlt aber ewig die Miete nicht. Immer sagt er morgen, übermorgen, nur noch ein paar Tage… Ein richtig fieser Typ. Dedo Nedžad kommuniziert mit ihm, ich gehe beiden aus dem Weg. Nedžad will sich mit mir aussprechen. Er hat mir sogar erlaubt, beim Kaffeetrinken zu rauchen, nur damit wir zusammen sind. Aber ich hasse das. Er geht mir auf die Nerven, und das Zuhause und dieser Frieden sowieso. Ich habe mich für Philosophie eingeschrieben, in diesem Winter höre ich eine Vorlesung über den Deutschen Idealismus. Ich habe zu jedem Philosophen und seinen Ideen eine super Mindmap gemalt. Wenn ich mit meinen Leuten von der Uni Kaffee trinken gehe, breite ich meine Mindmaps auf dem Tisch aus und wir gehen ganz genau jede Stufe der Entwicklung des Seins durch. In dieser Zeit zieht Baka Brana mit dem anderen halben Zuhause fort nach Bijeljina. Zu ihr ist wohl auch so ein Frieden gekommen. Noch so einer, der seine Miete nicht zahlt. Sie schreibt mir, ruft mich an. Ich sie selten. Vertrackt ist die Entwicklung des Seins, ich habe keine Zeit. Baka wird immer kränker. Sie ist einsam. Und eines Tages erreicht mich die Nachricht, dass sie gestorben sei.

Wir gehen zur Beerdigung. Dedo Nedžad und ich. Ich bin gereizt und würge jedes Gespräch ab. Wir laufen zum Friedhof. Ich in der ersten Reihe, gleich hinter dem Sarg. Die Prozession geht langsam. Mir fällt Sofka Nikolić ein, die größte Sängerin und Star des Königreichs Jugoslawien. Sofka hatte eine Tochter, Marica. Die arme Marica war früh an Tuberkulose erkrankt. Sofka war nicht bei ihr: London, Paris, Wien. Die Königin des Bohème-Viertels Skadarlija erntete Ruhm auf allen Weltbühnen. Dann starb Marica. Mit siebzehn. Man sagt, das habe Sofka den Rest gegeben. Sie kam hierher nach Bijeljina, beerdigte Marica und ließ ihr eine große Krypta errichten. Sich selbst kaufte sie ein Haus direkt neben dem Friedhof, um bei ihr zu sein. So ging das viele Jahre lang. Bis auch Sofka starb. Jetzt sind sie beide in der Krypta, nebeneinander.

So laufe ich hinter Bakas Sarg, denke an Sofka und Marica, alles andere kotzt mich total an, auch die Leute, die neben mir weinen, auch der Himmel, die Erde. Das nehme ich mir heraus. Die Mitarbeiter des Friedhofs lassen Baka Brana ins Grab hinunter. Unangenehme Stille. Alle glotzen mich an. Ich soll als Erste (weil sie nur noch mich hatte) eine Hand voll Erde ins Grab werfen. Jemand flüstert mir zu, ich könne doch, wenn es gar nicht gehe, eine Blume werfen. Das Grab ist tief, dezemberkalt. Meine Mutter, Branas Tochter, ist im August gestorben. In einem weit zurückliegenden Sommer, in einer anderen Stadt. Ich schaue runter ins Grab, in das dieses halbe Zuhause verschwindet und denke mir, wie dumm doch alle sind. Unentschuldbar dumm. Was macht es bitte für einen Unterschied, was nun als Erstes auf diesen Sarg aus geschnitzter und geschliffener Eiche fällt! Wo nun klar ist, dass Brana nicht neben ihrer Tochter liegen wird, die übrigens, auch das soll gesagt sein, Snežana hieß.

Zwischen Sommer und Herbst kam dann auch noch Dedo Nedžad an die Reihe…

Er war völlig meschugge und veranstaltete Chaos im Krankenhaus. Seinem Zimmernachbarn zog er mitten in der Nacht den Katheder heraus und überzeugte ihn, dass er ihn nicht brauche. Er war senil, und wenn ich den Gang entlangging, baten mich die Leute, ihn mit nach Hause zu nehmen. Ich meine, in unser halbes Zuhause. Am Schluss mussten die Schwestern ihn sogar ans Bett fixieren. Fast nicht mehr bei Bewusstsein bedankte er sich freundlich bei ihnen, um mir dann zu befehlen: „Bring mir eine Schere!“ Schon seit zwei Tagen scheint er nicht mehr richtig hier zu sein, obwohl er noch atmet. Dieses Mal bin ich bei ihm, vielleicht wiegt der Verrat so wenigstens ein kleines bisschen weniger schwer. Ich starre auf die Schläuche, die in seinem abgemagerten Körper stecken. Wie Wurzeln, die sein Leben unumkehrbar in unterirdische Totengewässer ziehen. Da sitze ich an seinem Bett, im Flur gehen Leute vorbei. Irgendwann kommt die Ärztin herein, befühlt seinen Puls, kontrolliert Schläuche und Monitor. Dann dreht sie sich zu mir: „Das geht nicht mehr lange, ein, zwei Stunden noch.“

Als ich an diesem Abend vom Krankenhaus heimgehe, setze ich mich auf eine Bank im Großen Park, um noch eine zu rauchen. Ich bin nicht wütend. Seit einiger Zeit schon hasse ich nicht mehr die Leute um mich herum, sondern nur noch mich. Ich schaue den Leuten dabei zu, wie sie mit ihren Leben vorüberziehen. Sie schauen mich flüchtig an. Ich höre ihre Stimmen in mir drin:

Wer bist du? Zu wem gehörst du?

Der Verrat ist eine gefährliche Krankheit. Schwer zu heilen. Heute, nach jahrelangen mehr oder weniger erfolglosen Therapien, weiß ich das. Heute gehört der Sommer zu mir. Auch der Herbst. Allah gehört zu mir und Tito auch. Krieg gehört zu mir. Und Frieden. Auch Winter und Frühling. Alles gehört zu mir. Jetzt, da ich nichts mehr habe.

Nennt mich Esteban

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