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Weiße Wüste

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Der erste Kriegswinter nach der Flucht. Baka, Deda und ich in der Vojvodina, in einem Grenzstädtchen mit kurzem Namen. Es sind Ferien, ich bettele meinen Onkel an, mich in seine Bäckerei mitzunehmen. Er startet den gelben Transporter, lässt den Motor ein paar Minuten rattern und warmlaufen. Während er das Tor öffnet, ziehe ich schnell Stiefel und Jacke an. Ich nehme die Tüte vom Tisch, in die meine Oma und meine Tante Pasteten, Würste und Salat gepackt haben, damit wir etwas zum Fladenbrot essen können. Bäckerarbeit ist Nachtarbeit. Wir fahren vor Einbruch der Dunkelheit los. Der Himmel ist weiß, aber es fällt und fällt kein Schnee. Eisiger Wind pfeift durch leere Veranden wie durch hohle Knochen. Die Leute drängen sich wie Mäuse in ihren warmen kleinen Häusern zusammen, aus den Schornsteinen steigt Rauch. Šid im Winter ‘93. Ich bin weit weg von zu Hause.

In der Backstube erwartet uns der geheizte Ofen. Die Minusgrade schmelzen auf meiner Haut. Ich nehme die Mütze ab, ziehe Jacke und Stiefel aus. Nehme mir eine weiße Schürze und eine Haube. Werde zur Bäckerin. Der alte Franjo, unser Bäckermeister, hat schon alles vorbereitet. Die erste Fuhre Teig schwillt im Knetkessel an wie die Miljacka bei starkem Regen. Die übrigen Mitarbeiter trudeln ein. Pusten heißen Atem in die gefrorenen Fäuste. „Immer noch kein Schnee“, sagen sie.

Die Stunden vergehen langsam. Ich drängle mich zwischen die Leute, tue, was ich soll, und auch, was ich nicht soll. Mein Onkel erlaubt mir alles. Ich darf den Teig fürs Fladenbrot abwiegen. Wenn ich auf einer umgedrehten Plastikkiste stehe, erreiche ich sogar die Arbeitsplatte, wo der Teig geformt wird. Ich nehme ein Stück und knete daraus das Teigmännchen Gliša. Den Mitarbeitern erzähle ich, ich würde mich selber kneten. In Sarajevo habe ich Fußball gespielt, ich war gut. Für meinen künftigen Ruhm als Sportlerin habe ich mir sogar einen neuen Namen ausgesucht: Lejlan. Sie lachen, ich plaudere von Sarajevo, von meinen Freunden aus der Straße.

Onkel Gliša, genauer, das kleine Teigmännchen, kann nun in den Ofen.

Es klingelt. Jetzt muss das Brot raus. Ich bin als Erste da. Ziehe mir dicke Handschuhe an, die ein paar Nummern zu groß sind, und hole einen Laib nach dem anderen aus dem Backofen, meine Hände dampfen. Mit einer Bürste schrubbe ich den Ruß von der unteren Brotrinde. Ich nehme auch Gliša heraus, bürste ihn gründlich ab und puste: wie Gott, als er Eva und Adam erschuf. Die trockenen und verbrannten Mehlreste fliegen fort von dem heißen Laib. Das Männchen kommt nicht in den Korb mit den anderen Broten. Ich lege es zur Seite, für mich, für später.

Ungefähr um drei ist die kritischste Phase. Heute Nacht kann ich dem Schlaf nicht widerstehen. Ein Stündchen wird reichen. Ich taumele ins Lager und lege mich auf die großen Mehlsäcke. Und verpasse den Schnee.

Um halb fünf wache ich wieder auf. Alle sind gut gelaunt, als hätte die Nacht gerade erst angefangen: Sie freuen sich über den Schnee. Sie sagen, er sei unglaublich schnell gefallen, habe alles weiß gemacht. Ich hocke auf der umgedrehten Plastikkiste und esse Gliša. Ich breche ein Stück ab, kaue lange, schlucke. Der Kopf verschwindet, dann die Arme, der Körper, alles.

Mit dem Schnee kommen auch die Jugendlichen. Auf dem Weg vom Café nach Hause holen sie sich noch ein warmes Fladenbrot. Ihre Haare sind weiß, ebenso ihre Schultern und Schuhe. Auch Lokalpolitiker kommen vorbei und kaufen Hunderte von Weißbroten. Nehmen sie mit nach Belgrad zu ihren Meetings. Um halb sechs schieben wir die letzte Fuhre in den Ofen. Mein Onkel sagt, ich solle ruhig nach Hause gehen und noch ein bisschen schlafen, ich müsse nicht auf ihn warten. Das Haus ist nicht weit weg von der Bäckerei. Drei Straßen nur.

Mein erster Kriegsschnee weit weg von zu Hause. Mir ist nicht nach Schlafen zumute. Ich bleibe alle paar Meter stehen, schreibe mit dem Finger meinen Namen in den Schnee. Erinnere mich, wie mir Baka erzählt hat, dass sie Mama Snežana nannte, Schneewittchen, weil in der Nacht ihrer Geburt so viel Schnee fiel. Ihre ersten Lebensjahre hat Mama hier verbracht. Baka hat ein Foto aus dieser Zeit aufgehoben. Es zeigt die kleine, dreckbeschmierte Snežana in Latzhose und matschigen Gummistiefeln. Wie Schneewittchen sieht sie da nicht aus, eher noch wie ein Schneemann.

Im ersten verschneiten Morgengrauen im Winter ‘93 beschließe ich, meinen eigenen Schneemann zu bauen. Ich nehme den Schnee zwischen die Hände und presse ihn, doch er fällt wie Mehl von meinen Handschuhen. Ich ziehe sie aus und probiere es mit bloßen Händen. Der Schnee ist trocken, wie Schießpulver, man kann keine Schneebälle daraus machen. Ich probiere es noch einmal, zweimal, wer weiß wie viele Male. Der Wind zerstiebt die weißen Flocken. Wirbelt sie durch die Luft, bedeckt Dächer und Bänke am Straßenrand, dringt auf die Veranden. Alles wird weiß. Ich auch. Meine Augen jucken. Ich muss blinzeln. Der immer stärker werdende Wind lässt mich nicht vorwärts kommen. Ich setze mich mitten in dieses Weiß. Um mich herum jault der Wind, wütet, als wollte er mit mir schimpfen. So sitze ich da, ohne Schneemann, ohne Snežana, ohne irgendwas.

Alleine zwischen großen weißen Dünen.

Nennt mich Esteban

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