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Während ich auf die Tauben warte

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Papa liebte Tauben. Nach Mamas Tod zogen wir zwei wieder in das Familienhaus nach Vratnik. Dort lebten meine Großeltern, Nana Safeta und Dedo Nedžad. Und Tauben. Und die eine oder andere Katze, die sich nachts in den Hof schlich, unter dem Taubenschlag zusammenrollte und hinterlistig schnurrte. Dedo mochte dieses Zusammenleben gar nicht: Federn, Körner und Gestank überall… Aber das Leben musste von Neuem aufgebaut werden, es musste zusammengeschustert und geflickt werden wie dieser Taubenschlag aus Brettern und altem Draht.

Dedo arbeitete tagelang in der Garage. Verschwitzt und im engen T-Shirt, unter dem sein praller Bauch hervorschaute, verbrachte er Stunden mit Sägen, Schleifen und Nageln… Den Taubenschlag brachte er oben an der zum Garten zeigenden Hauswand an. Wir hatten eine große Leiter, aber mir wurde verboten hinaufzuklettern. „Du fällst noch runter und bringst dich um!“, sagte Nana jedes Mal, wenn ich darum bettelte.

Deshalb unternahm ich meine Kletterabenteuer heimlich. Ich schlich nach oben und gab acht, dass die Holzsprossen unter meinen Füßen nicht knarzten. Und die Katzen? Sie setzten zum Sprung an die Wand an. Ihre Krallen kratzten leise auf den Mauerwölbungen. Dann stürzten sie mit klagendem Miauen zurück auf den Boden. Nur den Geschicktesten gelang es, nachts nach oben zu klettern. Ein paar Tauben mussten daran glauben: Am Morgen fand Papa sie voller Blut, mit aufgerissenen Hälsen. Den Tod, dieses Ungeheuer, versteckten die Erwachsenen vor mir wie die Schlange ihre Beine. Sie vergruben die toten Tauben im Garten und bedeckten die frisch umgegrabene Erde mit Laub.

Im Morgengrauen füttert Papa die Tauben mit verschiedenen Körnern. Er macht das Wasser frisch, sie trinken und fliegen mit nassen Schnäbeln in die Wolken. Alle brechen zur selben Zeit auf: sie in die Freiheit, und Papa zur Post, auf die Arbeit. Mich wecken Nanas Stimme und der Duft nach Essen. Nana läuft unentwegt umher,alte Radio dudelt leise. Nana singt; so könne sie schneller und besser arbeiten, sagt sie. Während sie das Mittagessen auf dem Herd umrührt, das Waschbecken scheuert oder den Staub vom Nachttisch wischt, reiht sich ein Lied an das andere – so verbindet meine Oma meisterhaft das Leben als Hausfrau mit dem Traum eines Lebens als Sängerin.

Ich frühstücke im Schlafanzug. Meine Augen sind voller Schlaf und tun weh. Auf dem Kupfertablett trage ich zwei geschmierte Brote in mein Zimmer. Ich setze mich aufs Bett, stecke die Beine unter die Bettdecke, stelle das Tablett vor mich und beiße große Stücke Brot ab. Ich kaue langsam und schaue durchs Fenster. Danach ziehe ich mich vor dem Zimmerspiegel an. In den Rahmen ist eine Fotografie geklemmt. Darauf lächelt mich Papa in seiner blauen Arbeitskleidung an. In den Händen hält er Kabel und Zange. Papa richtet Telefonverbindungen ein, er bringt Stimmen zueinander. Ähnlich wie Tauben im Flug verschiedene Welten verbinden. Die Socken ziehe ich im Laufen an. Ein massiver Steintisch wartet im Garten auf mich. Ich lege mich darauf, breite meine Flügel aus und suche mit dem Blick die Tauben. Die Hochflieger durchbrechen die Wolken, während sich die Purzler und Roller bis zur Bewusstlosigkeit drehen. Stunden vergehen. Meine Augen sind fest auf den Himmel da oben geheftet. Dort, wo angeblich jene leben, die es nicht mehr gibt.

Als ich einen Falken erspähe, werde ich panisch. Ich springe auf, rudere mit den Armen, pfeife und schreie, aber meine Stimme ist da oben in den Höhen nicht zu hören. Schnell gehe ich Nana und Dedo holen.

„Der Falke frisst eine Taube!“, schreie ich. Dedo eilt aus der Garage herbei, Nana kommt die Treppe herunter. Ich klatsche in die Hände. Nana ruft „Ksch!“ in Richtung Falke. Die Verfolgungsjagd am Himmel geht gut aus für die Tauben. Dedo verflucht die Vögel, die Federn, die Taubenscheiße… Dann fragt er Nana, wie spät es ist. Während er zurück in die Garage geht, wirft sie ihm hinterher: „Er kommt bestimmt gleich.“

Als die Sonne im Westen sinkt, gehe ich ins Haus. In der Luft verdampft der Geruch nach Essen. Das Radio ist aus. Die Wanduhr schnalzt.

Durchs Fenster stehlen sich Schatten herein. Ich schiebe den Vorhang auf und luge in Richtung Taubenschlag. Nur Miki ist da. Sie ist eine Felsentaube. Hervorragende Fliegerin! Beim Laufen watschelt sie ein bisschen. Ungefähr so wie Papa wankt, wenn er nachts nach Hause kommt.

„Siehst du, wie spät es ist, und er ist immer noch nicht da“, setzt Dedo an.

„Er kommt gleich.“

„Das hast du vor drei Stunden auch schon gesagt.“

„Vielleicht musste er länger arbeiten.“

„Der ist hundertpro in der Kneipe. Jede Nacht das Gleiche.“

Auch die Stille hat ihre Stimme.

„Eh, der kommt mir heute nicht ins Haus.“

„Red keinen Unsinn“, sagt Nana.

Die Schatten quellen auf. Mit ihnen schleiche ich mich wie eine Katze nach draußen. Die Tür des Taubenschlags steht noch immer offen. Schritt für Schritt klettere ich die Leiter hoch. Auf die erste Sprosse, die zweite, die dritte … Oben ist es still. Und man kann besser sehen. Dort stehe ich und warte auf die Rückkehr der Tauben.

Nennt mich Esteban

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