Читать книгу Reduktion - Lena Dieterle - Страница 3
Hamburg
ОглавлениеIch leide. Doch warum? Und wenn ja, woran denn? Ist es der Lärm der Großstadt? Mein Job? Unter der Beziehung zu Tom? Oder gar unter Weltschmerz?
Justine weiß es selbst nicht und im Grunde doch ganz genau. Von allem ein bisschen sicherlich und heute eben wieder ein bisschen mehr.
„Geschafft!“.
Die Anspannung des Tages fällt von Justine ab. Ihre Hände umgreifen das kalte Metall des Geländers, sie schließt die Augen und atmet tief ein. Man denkt ja immer, so nah am Meer sei die Luft gut. Doch hier im Hafen stinkt es. Vor allem an den heißen Tagen … nach Motoröl, Abgasen und verdorbenem Fisch. Um sie herum ist alles voller Menschen, die an ihr vorbei hasten. Der Herr im Anzug trinkt am Imbiss einen Kaffee und pfeift fröhlich sein Lied und drüben, auf der anderen Straßenseite, da sitzt eine Bettlerin.
Justine sieht eine Mutter, die alle Mühe hat, ihr brüllendes Kind zu händeln, das unbedingt einen bunten Luftballon haben möchte. Die Ampelanlage ist ausgefallen und zwei Monteure fahren für eine Reparatur mit dem Hubsteiger nach oben. Diese Aktion führt dazu, dass eine Straßenseite gesperrt ist. Autos hupen, Menschen schimpfen, eine Gruppe Jugendlicher lacht, alle reden durcheinander. Die Geräusche und Eindrücke vermischen sich für Justine zu einem tauben Einheitsbrei. Es ist, als würde man viele Farben wild zusammenrühren und am Ende nur noch ein farbloses Grau erhalten. Früher hat Justine die Großstadt sehr angestrengt, es war das reinste Chaos der Sinne. Heute spürt sie eine gewisse Resignation. Sie fühlt sich unsichtbar, als könne man sich in der Masse auflösen und abtauchen. Unter Wasser klingt jeder Lärm bloß noch wie Gemurmel.
Ein verlebter Mann mit einer Schnapsfahne rempelt sie plötzlich an und holt Justine ruckartig aus ihren Gedanken. Er bleibt stehen und bekommt große Augen.
„Lecker!“
Justine mustert ihn flüchtig, dreht sich weg und schaut auf die Elbe. Bitte sprich mich jetzt nicht an.
„Hey, dat Peerd mutt zu de Futter kommen, nich de Futter nah dat Peerd.“
„Lassen Sie mich bitte in Ruhe!“, raunt Justine, ohne sich nochmal zu dem Mann umzudrehen. Du bekommst meine Aufmerksamkeit nicht.
„Nu weet ik nich, wat ik seggen sall!“ Der Mann schüttelt den Kopf und torkelt weiter. Erschöpft trottet sie zur Bushaltestelle. Kann man denn hier nicht ein einziges Mal seine Ruhe haben?
Hinter ihr kreischen die Möwen auf einmal so laut, fast so, als wollten sie sie auslachen.
Da steht sie nun mit hängenden Schultern und blickt an sich hinunter. Die viel zu große Second-Hand-Jeans ist mit einer bunten Kordel zusammengebunden, eine weiße Leinenbluse steckt lässig in der Seite, darüber liegt eine lachsfarbene Windjacke. Sie liebt die Hose, die vermutlich mal einem jungen Mann gehörte. Am Knie ist sie aufgerissen, auf der linken Hosentasche prangt eine Flicke, auf der ein Doppeldecker Flugzeug abgebildet ist. An ihren Füßen trägt sie ein paar No-Name-Sneakers in Hellgrau. Da Justine groß und zugleich ganz schmal ist, wirkt ihr Outfit oversized. Sie mag das Gefühl, als könne sie sich darin verstecken. Gänsehaut überzieht ihre Knöchel, als ein kalter Wind über den Asphalt pfeift. Und während sie da so auf den Boden blickt, erregt seitlich von ihr am Gebüsch etwas ihre Aufmerksamkeit. Sie schaut genauer hin und erkennt eine abgegriffene Spielkarte. Eine einzelne Spielkarte?
Sie wendet neugierig das Blatt und starrt auf das Symbol. Justine hat mit allem gerechnet - vielleicht mit einer Dame oder einem Herz Ass, selbst mit einer düsteren Pik neun, doch dieses Zeichen machte sie stutzig. Zögerlich wendet sie sich ab und lässt die Karte zurück auf den Boden sinken, weil sie den feixenden Kasper nicht einzuschätzen weiß. Ist das ein Narr, der mich verhöhnt, wie es die Möwen gerade getan haben? Die nächsten zehn Minuten versucht sie, die Karte wieder aus ihren Gedanken zu streichen. Doch gerade als der Bus einfährt, springt sie nochmal zurück und greift nach dem bedruckten Stück Karton. Ein Joker auf der Hand muss ja nichts Schlechtes bedeuten.
Alle Plätze im Bus sind belegt, doch sie steht sowieso lieber direkt am Fenster. Normalerweise schaut sie hinaus in die fliegende Kulisse, nur dieses Mal hält sie den Blick gesenkt.
„Willkommen in meinem Leben, ich bin Justine“, spricht sie den Joker an und streicht mit dem Zeigefinger über seine Konturen, bevor sie die Karte wie einen Schatz in ihrem Geldbeutel platziert. Was für ein Zeichen! Nun habe ich wohl einen Verbündeten.
Justine ist vor ein paar Tagen 32 Jahre alt geworden und zieht eine ernüchternde Bilanz. Seit einigen Monaten schon wird sie das beklemmende Gefühl nicht mehr los, gar nicht das eigene Leben zu leben. Daheim angekommen, platzt es aus ihr heraus: „Tom, warum sind wir eigentlich zusammen?“ Justine blickt ihren Freund mit gerunzelter Stirnfalte an, während sie in der offenen Zimmertür steht und mit den Zehen die ungeöffneten Schuhe von den Fersen streift.
„Sag du es mir!“, ist seine beiläufige Antwort.
Eine geschickte Erwiderung, wenn man selbst keine rechte Erklärung hat. Sie atmet hörbar aus und ihre Brauen sinken wieder nach unten. Es gibt von beiden Seiten scheinbar keinen Bedarf, der Sache weiter nachzugehen. Das Leben hat jedenfalls noch mehr parat als das, was es im Moment für Justine zeigt. Davon ist sie fest überzeugt. Und diese Tatsache lodert wie eine kleine, unermüdliche Flamme in ihr.
Justine schmeißt sich aufs Bett und starrt an die Decke. Eigentlich wollte sie nur schnell raus aus den Klamotten und in den Jogginganzug schlüpfen, doch dann ist sie liegen geblieben. Der Tag in der Agentur fand wie so oft nicht sein Ziel, sie fühlt sich wie eine leere Hülle. Jetzt ist es schon gleich halb acht und ihr Magen knurrt. Ihre Lust auf Kochen hält sich in Grenzen, obwohl sie das früher so gerne gemacht hat. Tom schafft es gerade mal, sich etwas aufzuwärmen, alles andere lässt er anbrennen oder zu Brei verkochen. Für Justine fehlt ihm das Gespür und vor allem das richtige Timing dafür, kurz gesagt: ihm fehlt die Leidenschaft.
Als das Handy klingelt, fährt sie kurz zusammen.
„Jetzt ist aber mal Feierabend!“, ruft sie in zorniger Verzweiflung und drückt auf stumm.
„Hast du was gesagt, Schatz?“, fragt Tom aus dem Wohnzimmer.
Das Smartphone vibriert erneut, also nimmt sie ab.
„Justine, Du musst unbedingt nochmal an den Rechner und den Beitrag für die Boutique aus Elmshorn fertig machen. Die haben gerade angerufen und gesagt, dass der Termin überraschend vorverlegt wurde … He, und hör auf, mit den Augen zu rollen, ich kann ja auch nichts dafür.“
Ihre Chefin legt auf, ohne die Antwort abzuwarten. Justine erhebt sich schwerfällig aus dem Bett und stapft Richtung Wohnzimmer.
„Tini, kannst Du mir bitte mal die Fernbedienung geben?“, säuselt Tom. Sie greift nach der Fernbedienung und schleudert sie Tom auf den Schoß, der gemütlich auf der Couch lungert.
„Aua, das geht aber auch liebevoller. Oder willst Du etwa, dass ich zeugungsunfähig werde?!“
Justine schweigt.
„Meine Eltern haben übrigens schon wieder gefragt, wann sie mit ihrem ersten Enkelkind rechnen können.“. Bitte nicht schon wieder diese Diskussion … Einfach überhören und das Thema wechseln. In letzter Zeit fängt Tom immer häufiger damit an, obwohl er selbst mit Kindern eigentlich nichts anfangen kann. Doch das Heiraten und Kinder haben gehört in seiner Welt wohl dazu, in meiner aber nicht.
„Hast Du schon was gegessen, Tom?“, fragt sie stattdessen.
„Neee, keine Zeit…“, antwortet er, während er sich gelangweilt durch die Programme zappt. Justine nimmt zwei Fertigpizzen aus dem Tiefkühler in der Küche und macht den Backofen an.
„Pizza ist im Ofen, ich gehe ins Arbeitszimmer“. Im Vorbeigehen schnappt sie sich die Eieruhr und zieht sie auf. Sie wird Tom in fünfzehn Minuten dazu auffordern, die Pizzen aus dem Ofen zu holen. Wenig später ist Tom sogar so aufmerksam und bringt ihr die Pizza auf einem Teller nach oben an den Rechner. Ungeschnitten und ohne Besteck zwar, doch das ist ihr egal. Justine schnappt sich die etwas zu dunkel gewordene kreisrunde Scheibe und beißt hungrig hinein.
Zwei Stunden später ist der Auftrag erledigt. Und jetzt muss sie lachen, als sie das halbe Wagenrad an Hefegebäck da vor sich liegen sieht, überall ist der Abdruck ihrer Zähne sichtbar. Sie nimmt den Teller und geht wieder hinab in die Küche.
„Mensch Junge, mach! Lauf!“, hört sie Tom seinen Avatar anfeuern. Es scheint, als hat es nichts im Fernsehen gegeben, denn er hat die freie Wohnzimmerzeit genutzt, um zu zocken. Justine beobachtet Tom einen Moment. Ob er selbst überhaupt ein Kind und die ganze Verantwortung möchte, oder ob das nur der Wunsch seiner Eltern ist? Sie räumt die Teller in die Spülmaschine und schleppt sich mit letzter Anstrengung ins Bad. Es ist dringend Zeit fürs Bett. Morgen erwartet sie in der Agentur eine Präsentation, von der ein großes Umsatzvolumen abhängt. Also ist sie glücklich darüber, vor Tom im Bett zu sein. Er schnarcht gerne mal oder atmet laut, was sie dann wiederum nicht einschlafen lässt. Als sie ihn mal nach getrennten Schlafzimmern fragte, war er strikt dagegen: „Wo gibt’s denn sowas, dass wir in unserem Alter in getrennten Zimmern schlafen? Kommt nicht in die Tüte!“