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Momentaufnahme

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Justine erwacht nach einer traumlosen Nacht. Tom liegt neben ihr und schläft noch tief und fest. Wann er nach Hause gekommen war, kann sie nicht sagen. Sie beobachtet ihn kurz und deckt seinen freien Rücken ein wenig zu. Fast neun Stunden geschlafen, Chapeau!

Heute wäre ihr freier Tag, doch nun muss sie für ihren Kollegen Bastian einspringen. Sie kann ihn ja durchaus leiden, doch es nervt sie, dass er sich vor wichtigen Terminen gerne mal eine „bezahlte Auszeit“ nimmt. Und Ines greift immer erst dann durch, wenn es gar nicht mehr anders geht.

Justine schleicht sich auf Zehenspitzen durch die Schlafzimmertür hinaus in den Flur. Die Sonne blendet ihr bereits grell ins Gesicht, als sie die Küche betritt. Sie öffnet die Balkontür sperrangelweit.

„Guten Morgen ihr Lieben!“ Die Vögel zwitschern mit dem Surren der Kaffeemaschine um die Wette. Sie staunt immer, woher die ganzen Vögel kommen, hier mitten in der Großstadt.

„Warum sucht ihr euch nicht eine andere Gegend, draußen in der Natur? Was hält euch hier? Könnte ich so fliegen wie ihr, ich wäre längst ganz woanders.“

Justine zupft ein paar welke Blätter aus den Blumenkästen und prüft mit dem Finger die Feuchtigkeit der Erde im Topf des kleinen Kirschbaums.

„Oh, Du brauchst dringend Wasser“, stellt sie fest.

Die Entstehung der Kirsche war purer Zufall, weil sie einmal einen Kern durchs Küchenfenster herausgespuckt hatte. Als sie den Keimling sah, konnte sie ihren Augen kaum trauen. Tom war dagegen, den Baum weiter auf dem Balkon groß zu ziehen, doch Justine setzte sich durch. Die Kirsche erinnert sie so sehr an ihre bereits verstorbenen Eltern. Als Kind hatte sie ihrem Vater beim Anbau von Obst und Gemüse geholfen und verarbeitete im Spätsommer gemeinsam mit ihrer Mutter die Ernte.

„Pflanzen sind der Spiegel unserer Seele“, hatte ihre Mama immer wieder gesagt. Diesen Satz hat Justine nie vergessen. Und deshalb darf die Kirsche auch auf dem Balkon im sechsten Stock mitten in Hamburg gedeihen.

Sie hört die Toilettenspülung im Bad, kurz darauf steht Tom in der Tür. Er ist noch ganz verschlafen und total verstrubbelt. Als sie sein „Guten Morgen, Schönheit“ vernimmt, erwidert sie lächelnd den Gruß.

„Du, ich muss gleich nochmal los auf die Arbeit. Basti ist krank, ich springe ein.“

„Ah, alles klar … dann viel Erfolg. Du, ist was zum Frühstücken da?“

Justine hält kurz inne, denn sie hatte ein wenig mehr Zuspruch erwartet. Schnell schüttelt sie den Gedanken ab und antwortet: „Na klar, Schatz. Im Kühlschrank ist alles, was Dir gut schmeckt.“

„Ha, wusst‘ ich‘s doch. Du bist halt meine Traumfrau“, flachst er etwas gekünstelt. Wirklich ernst gemeint war dieses Geturtel nicht.

Justine hält nur wenig von der einen großen Liebe, zu viele Nieten hatte sie schon gezogen. Was sie immer wieder gerne mochte, war das herzüberlaufende Glücksgefühl des Verliebtseins. Doch Tom ist mehr wie ein Bruder für sie.

Einmal, es war vor ein paar Wochen, da hat Tom so heimlich getan, dass Justine schon Sorge hatte, er bereite einen Heiratsantrag vor. Sie hätte, ohne zu zögern „Nein“ gesagt, und Tom weiß das auch. Der Gedanke an eine Ehe schnürt sich wie ein Korsett um ihren Körper und Enge kann sie nicht gut ertragen. Justine ist seit gut zehn Jahren Vollwaise und hat keine Geschwister, somit sind Tom und die Kollegen so etwas wie ihre Ersatzfamilie.

Ein Hund wäre toll, doch das geht so mitten in der Großstadt nicht.

Ihre „Schwiegereltern in spe“, wie sie sich selbst immer nennen, sind wohlhabend und übernehmen einen Teil der laufenden Kosten für ihren Sohn. Justine kann neben Tom leben, doch sie liebt ihn nicht. Sie hat ihn gewählt, weil er sie als einer der wenigen Menschen mal nicht bedrängt hat. Wenn es ihr nach Geselligkeit ist, gehen sie gemeinsam aus oder er nimmt sie mal in den Arm. Das genügt. Man kann ihre Beziehung in etwa mit der von Kathleen Kelly und Frank Navasky aus dem Film „E-Mail für Dich“ vergleichen. Justine fragte sich schon öfter: Warum bin ich eigentlich noch mit Tom zusammen? Die Antwort lautet jedes Mal: Warum auch nicht? Zugegeben, es gäbe sicher romantischere Motive.

Am Abend sind sie bei einem Paar eingeladen, mit dem sie laut Tom seit einem Jahr so etwas wie befreundet sind. Er hat im Baumarkt eine weiße, in Bogenform gezwängte Orchidee mitgenommen, die heute Abend als Mitbringsel überreicht werden soll.

„Passt was mit der Blume nicht?“, fragt Tom irritiert, als Justine nachdenklich auf den Plastikübertopf blickt.

„Doch, doch, ein wenig langweilig, aber eine Orchidee passt ja fast immer.“

„Ich weiß, Du magst Orchideen nicht besonders, aber ich dachte als Aufmerksamkeit …“

Justine erinnert sich daran, als sie früher mit ihrem Vater wunderschöne, wilde Orchideen gefunden hatte. Das gefleckte Knabenkraut wuchs auf der Wiese hinter ihrem Elternhaus und der Stendelwurz blühte unscheinbar am großen Hang neben dem Steinbruch. Sie liebt alle Blumen, so auch die Orchideen.

Mit einem „Passt schon“ beendet Justine das Gespräch. Tom trollt sich zufrieden ins Bad.

Und sind es nicht eben diese Treffen mit Bekannten, an denen man nicht zuhört, um etwas vom anderen zu erfahren, sondern nur so lange am Gespräch teilnimmt, bis man ungeduldig zuckend selbst etwas dazu beitragen kann? Schweigsam wartet Justine darauf, dass Tom sich später nach dem Essen zu ihr beugt und fragt: „Du bist so ruhig heute, Tini. Geht es Dir nicht gut?“

Auch bei Ausflügen mit ihren Kollegen oder beim Abendessen mit Toms Eltern geht es ihr so. Da geht es um den nagelneuen Mercedes, um künstliche Fingernägel, Handtaschen, die spannendste Serie auf Netflix und das beste „All you can eat“-Buffet, um Heirat und Enkelkinder. Nicht meine Welt, nicht meine Themen.

An diesem Abend jedoch geschieht es tatsächlich, dass Justine ins echte Zuhören kommt. Mehr denn je wird ihr dabei bewusst, dass der äußere Schein oft trügt. Eine bis dahin eher flüchtige Bekannte berichtet ihr:

„Ich bin unglücklich, obwohl in meinem Leben scheinbar alles glatt läuft. Ich habe einen aufmerksamen Mann, zwei tolle Kinder und einen guten Job. Ein Haus, einen Garten, regelmäßige Urlaube… und eine innere Leere.“ Sie redet fast eine Stunde lang und Justine hört zu.

„Danke, Justine. Es hat mir sehr gutgetan, das mal jemandem so direkt und ungeschminkt zu erzählen.“

„He, und ich danke Dir. Das gibt ja auch mir einen Anstoß zum Nachdenken. Bei mir läuft es auch nicht rund.“

„Möglicherweise liegt es daran, dass wir verlernt haben, unsere Bedürfnisse klar zu artikulieren.“

„Aus Bequemlichkeit oder Resignation nehmen wir Dinge hin und ertragen sie, anstatt uns aktiv Lösungen zu erarbeiten.“

„Vielleicht fehlt es uns an Authentizität? Es ist schließlich unsere Aufgabe, uns zu zeigen und nicht nur irgendwas zu zeigen.“

Lange noch hat Justine über diese Begegnung nachgedacht. Und auch wenn es am Tag des Gesprächs noch keine Lösung gab, so waren sich doch beide einig, dass die eigene Klarheit ein Schlüssel sein kann.

Was will ich denn eigentlich wirklich? Wo soll meine Reise hingehen, wenn der momentane Zustand für mich unbefriedigend ist? Wenn ich mir das nicht beantworten kann, ja wer denn bitte sonst?

Reduktion

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