Читать книгу Reduktion - Lena Dieterle - Страница 6

Unverhofft

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Justine steht vor dem Briefkasten und dieser ist mal wieder vollgestopft mit unnützer Werbung.

„Mensch, da war doch was?!“ Justine fährt ruckartig zusammen. Wo ist bloß dieser Brief, den ich vorgestern aus dem Altpapier gerettet habe? Sie rennt die Treppe wieder nach oben in die Wohnung, denn der Aufzug dauert ihr jetzt zu lange. Ganz außer Atem kramt sie in ihrer Einkaufstasche nach dem Schlüssel und stürmt in die Küche. Hier gibt es auf der Anrichte eine Magnetwand für Wichtiges und auch eine Ablage für die Post. Mist, nur zwei Rechnungen für Tom und ein Hinweis auf die Änderung der Linien im Nahverkehr. Sie wühlt alles durcheinander, doch keine Spur von diesem Brief.

Justine sinkt auf einen der Hocker und grübelt, wo sie bloß dieses Schreiben nur hingelegt haben könnte.

In der Handtasche!, fällt es ihr schlagartig wieder ein.

Gott sei Dank! Da in der Seitentasche steckt verkrumpelt der Umschlag. Wie immer ohne Brieföffner, bohrt sie ungeduldig einen Finger unter die Brieflasche und reißt die Papierhülle auf. Dann hält sie den Atem an und liest. Dort steht in großen Buchstaben neben einem Stadtwappen das Wort „Nachlassgericht“ und darunter: „Verfügung von Todes wegen …“ Justine staunt nicht schlecht. Wer soll mich denn jetzt noch beerben? Meine Eltern sind doch bereits verstorben und von weiterer Verwandtschaft ist mir nichts bekannt.

Sie muss kurz schlucken, weil sie der Tod ihrer Eltern wieder einholt, doch noch bevor sich das Gefühl von Trauer breitmachen kann, schüttelt sie die alten Gefühle gekonnt wieder ab. Das muss für Tom sein. Sie dreht das Blatt und prüft den Absender. Sie liest laut vor: „Frau Justine Argon, Planckstraße, 22765 Hamburg-Ottensen. Sehr geehrte Frau Argon, …“

Das ist wirklich kurios. Dort steht geschrieben, dass sie sich mit dem Nachlassgericht in Verbindung setzen soll, um Informationen zum Testament von einer Frau Valerie Dupont zu erhalten.

Valerie, Valerie…? Die einzige Valerie, die sie je kannte, war „Tante Vally“, die aber gar nicht ihre richtige Tante war, sie hatte sie nur so genannt. Bei Tante Vally verbrachte sie als Kind mal die Sommerferien. Damals mussten ihre Eltern beruflich verreisen und hatten keine andere Lösung als eine Unterkunft bei dieser Tante Vally. Justine protestierte damals lautstark, weil sie nicht dorthin wollte, zu einer fremden Frau, die sie gar nicht kannte. Doch der Protest half ihr nicht.

„Du wirst es dort mögen, mein Schatz“, war sich ihre Mutter sicher. Und so kam es auch. Justine verbrachte sechs lange Wochen bei Tante Vally, die am Ende doch viel zu schnell vorüber waren.

Ein Jahr später war Justine mit ihrer Familie bereits wieder umgezogen und so gab es irgendwann keinen Kontakt mehr zu Valerie. Justine war zu jung, um das alles zu verstehen, die häufigen Umzüge war sie auf Grund des Berufs ihres Vaters von klein auf gewohnt. Sie malte noch oft Bilder für Valerie, die ihre Mutter dann bei der Poststelle für Valerie aufgab.

Justines Handy klingelt. Ines ist am Apparat und plappert aufgeregt etwas von einem geplatzten Termin. Sie selbst muss zum Friseur, denn auf diesen Termin habe sie ewig gewartet.

„Ines …“, sagt Justine ruhig, doch ihre Chefin spricht ungebremst weiter.

„Ines, hör mir mal bitte zu.“ Es wird still am anderen Ende der Leitung. Friseurtermin, ja? Jetzt reichts.

„Ich bin krank und kann heute nicht einspringen.“

„Oh, was hast du denn? Das ist ja furchtbar, Süße. Du warst doch noch nie krank?“

„Wohl einen Infekt. In ein paar Tagen bin ich bestimmt wieder fit.“

Justine legt auf, als Ines unverblümt weiter quasselt. Ein Schütteln geht durch ihren Körper. Habe ich das gerade wirklich gemacht? Bevor das schlechte Gewissen sich ausbreiten kann, nimmt sie ihr Handy und wählt die Nummer vom Briefkopf. Zu groß ist die Neugierde, was sich hinter diesem Schreiben verbirgt.

„Nachlassgericht Obernburg, Maier, guten Tag“.

„Hier spricht Justine Argon.“

Nach gut zehn Minuten ist das Telefonat wieder beendet. Sie wurde gebeten, persönlich zur Testamentsverlesung nach Unterfranken zu reisen. Es scheint sich um eine Immobiliensache in Klingenberg zu handeln, allerdings konnte man viel mehr dazu telefonisch nicht sagen. Klingenberg? Klingenberg habe ich schon mal irgendwo gehört. Justine startet den Laptop und gibt den Namen der Stadt in die Suchmaske ein. Klingenberg liegt direkt am Main und ist eine Stadt im Landkreis Miltenberg in Bayern, gut fünf Stunden und über fünfhundert Kilometer entfernt von Hamburg.

„Puh, das ist ja eine halbe Weltreise“, schnauft Justine. Sie hat gerade vor einigen Wochen eine Erbschaftssache von einem ihrer Kollegen miterleben dürfen. Hier musste er nach ewigem Hin und Her das Erbe ausschlagen, weil es mit Schulden belastet war. Das wäre wirklich das Letzte, was ich jetzt noch gebrauchen kann.

Die Bilder von der kleinen Stadt sprechen Justine an. Sie liest klangvolle Beschreibungen wie „Rotweinstadt am Untermain“, „Historisches Kleinod“ und „Winzerstadt mit Herz“ und wird immer aufmerksamer. Es könnte sich tatsächlich um den Ort handeln, an dem ich den Sommer mit Tante Valerie verbracht habe.

Sie stöbert weiter und entdeckt einen Artikel über die Seltenbachschlucht. Und jetzt ist sie sich sicher, dass es sich um genau diesen Ort handelt. Hier war sie mit Valerie wandern und hat zum ersten Mal in ihrem Leben einen Feuersalamander gesehen. Fasziniert von dem gelb-schwarzen Tierchen, das sie bis dahin nur aus einem Kinderbuch kannte, empfand sie diese lange Schlucht damals als einen verzauberten Ort.

Valerie war eine ältere Dame, herzensgut und sehr schön. Während ihres Aufenthalts bei Tante Vally lernte Justine sehr viel. Sie hatten gemeinsam Wildkräuter gesammelt, die sie danach zum Trocknen zu Sträußen banden. Bei einem duftenden Tee aus Holunderblüte, Erdbeerblättern und Waldmeister erzählte Valerie ihr davon, dass hier in der Schlucht lauter gute Elfen in kleinen Höhlen wohnen und bei Dämmerung ausfliegen, um den Menschen bei ihren Sorgen und Nöten zu helfen. Und in diesem Moment beschließt Justine, noch einmal dorthin zurückzureisen.

Sie wählt die ihr so bekannte Nummer.

„Tom, ich muss mit dir reden.“

„Tini, du klingst so ernst, was ist los?“

„Nichts Schlimmes, wir besprechen das heute Abend bei einem Glas Wein. Ich habe einen Tisch in der Taverne für uns reserviert. Um sieben.“

„Ist gut, ich bin eh gerade in Eile. Bis heute Abend, Tini.“

Und Tom staunt nicht schlecht, als sie ihm den Brief vom Nachlassgericht zeigt. Justine hat für diesen Anlass eine gute Flasche Rotwein bestellt, dazu Knoblauchbrot vom Grill, Oliven, Peperoni und frisches Zaziki. Ihr fallen Valeries Worte ein: Die einfache Küche ist die beste Küche für die Seele.

„Das ist ja der Kracher!“, ruft er laut aus. „Natürlich fährst Du da hin!“

„Ich dachte, Du begleitest mich vielleicht?“, fragt Justine vorsichtig. „Ich kenne mich ja gar nicht mit so etwas aus.“

„Ich doch genauso wenig“, erwidert Tom. „Du kannst es dir doch erstmal anhören und wir bereden dann alles Weitere, wenn du zurück bist. Ich unterstütze dich dann natürlich beim Verkauf. Vater hilft dir sicher auch, wenn es dann um die Entscheidung geht.“

„Beim Verkauf?“

„Ja klar!“

„Na gut, ich höre mir das erst einmal an“.

„Wann willst du los?“

„Sobald ich mit Ines gesprochen habe. Übermorgen wahrscheinlich. Ich hatte mich heute kurzerhand krank gemeldet, weil sie mich wieder einmal einspannen wollte.“

Tom macht große Augen.

„Das hast du ja noch nie gemacht? Find ich echt mal ’ne coole Aktion von dir, dass du mal das Stoppschild hochhältst. Deine Chefin verlangt zu viel von dir. Ich sag‘s dir ja immer, irgendwann macht dich der Job noch krank. Und schließlich bin ich derjenige, der dann mit einer überarbeiteten und miesepetrigen Partnerin leben muss.“

Das Augenzwinkern am Satzende ist von Tom gekonnt platziert, um einer Reaktion von Justine zuvorzukommen. Er sagt sonst selten etwas dazu, dass sie so viel arbeitet. Und irgendwann hat er es akzeptiert, dass Justine in ihrer Freizeit oft die Ruhe dem Trubel vorzieht.

„Wie der Wein duftet.“ Sie nimmt einen Schluck und hängt ihren Gedanken nach. Mein Sommer in Klingenberg. Das gibt eine überraschende Wendung für meinen Roman, wenn ich irgendwann einmal wieder dazu komme, daran weiterzuschreiben.

Wahnsinn, wie schnell die Welt vorbei fliegt, staunt Justine, die Augen stets aus dem Fenster des Zuges gerichtet. Sie ist um 7:30 Uhr in Hamburg in den Intercity-Express Richtung Zürich gestiegen und hat nun eine Fahrt von über sechs Stunden vor sich. Zweimal muss sie umsteigen, die geplante Ankunft ist gegen 13 Uhr. Der Termin beim Notar, der vom Nachlassgericht ausgewählt wurde, ist erst am nächsten Morgen, weshalb sich Justine eine Übernachtung in einem Hotel gebucht hat. Danach reist sie wieder zurück nach Hamburg. Sie ist sehr dankbar darüber, dass der Zug die weite Fahrtstrecke für sie übernimmt, denn sie fährt nicht gerne selbst. Tom fährt einen Audi und hat ein schickes Cabrio von seinen Eltern geschenkt bekommen. Nur selten nimmt Justine einen der beiden Wagen, wenn sie mal beruflich zu Terminen außerhalb der Stadt fahren muss.

Der Zug scheint fast lautlos über die Gleise zu schweben. Justine ist beeindruckt, dass ein solcher Koloss so leise und geschmeidig sein kann. Die Menschen um sie herum jedoch sind anstrengend. Der eine telefoniert so laut, als wäre er allein im Abteil. Ein anderer isst völlig ohne Manieren sein Sandwich. Als die Remoulade mit einem „Platsch“ auf seiner Hose landet, flucht er und versucht umständlich, sich Finger, Unterarm und Hose abzuschlecken. Sie wendet den Blick mit einem Schaudern ab und schüttelt den Kopf. Eine Dame hustet andauernd, ein anderer bräuchte ein Taschentuch, hat aber scheinbar keines zur Hand.

Ich muss hier raus. Justine steht auf und verlässt ihren reservierten Platz unter den Augen von all diesen Menschen um sie herum.

Sie schnappt sich ihren Koffer und den Umhängebeutel und stolpert durch den Gang. Es gibt in diesem ganzen Abteil keine ruhigere Ecke, auch nicht im nächsten. Der ruhigste Winkel war der Bereich zwischen den Abteilen, direkt an der Tür. Sie setzt sich dort auf den blanken Boden, die Beine stellt sie auf den zwei Stufen ab, die sonst zum Aussteigen dienen.

Himmlische Ruhe! Und ein großes Fenster ist auch vorhanden. Als sie gerade die Kopfhörer heraus gekramt hat, klopft ihr jemand auf die Schulter.

„Junge Dame, das hier ist kein Sitzplatz.“ Justine sieht einen netten Herrn in Uniform vor sich, der hier seinen Job macht. Sie zückt unaufgefordert ihre Fahrkarte und reicht sie ihm.

„Ist es verboten hier zu sitzen? Sie müssen wissen, mitten in diesem Abteil, da ersticke ich“, erklärt sie mit sehr ernster Miene.

„Na ja, direkt verboten ist es nicht. Es ist halt kein Sitzplatz.“ Der Mann denkt nach und sie schaut ihm hoffnungsvoll in die Augen.

„Gut. Wenn der Zug hält, müssen Sie aber den Platz frei machen, ja?“, mahnt er und Justine nickt bejahend und schenkt ihm ihr schönstes Lächeln. „Ihr Ticket habe ich ja bereits gesehen. Gute Fahrt weiterhin.“

Justine atmet auf, steckt das Kabel der Kopfhörer ins Handy und dreht die Musik auf. Jetzt hat sie ihren ganz persönlichen Schutzmechanismus wie einen Vorhang zugezogen und fühlt sich dahinter sicher und geborgen.

In Frankfurt hat sie eine Wartezeit von gut vierzig Minuten. Justine schlendert über den großen Bahnhof, hinaus ans Tageslicht, um sich auf dem großen Platz die Füße zu vertreten. Ein Fremdenführer begrüßt die ihm zugeteilte Gruppe und deutet in Richtung des Bahnhofs. Als Justine seinem Fingerzeig reflexartig folgt und sich umdreht, sticht ihr eine große Statue auf dem Dach des Bahnhofs ins Auge. Die Skulptur zeigt einen sehr muskulösen Mann, der eine mächtige Kugel schultert.

„…hilft Herkules, die Weltkugel zu tragen.“

Was für eine kraftvolle Darstellung! Für einen kurzen Moment findet es Justine schade, nicht etwas mehr Zeit für einen Rundgang zu haben, denn sie hätte sich gerne mucksmäuschenstill der Gruppe angeschlossen. Aus Angst sich zu verlaufen, verlässt sie den Bahnhof aber nicht.

„Samosas, Samosas“, ruft ein junges Mädchen mit langen schwarzen Haaren. Plötzlich merkt Justine, wie sehr ihr der Magen knurrt. Zwar hatte sie Obst und ein Avocado-Brot dabei, doch das war schon viele Stunden her. Das Mädchen winkt sie zu ihrem Stand. Justine wählt zweimal die fleischlose Variante und bezahlt mit einem Zehner.

„Stimmt so.“ Justine verneint lächelnd die Annahme des Wechselgelds. Die junge Köchin strahlt übers ganze Gesicht und wickelt Justine noch drei Halva-Kugeln in ein Papier.

„Die Samosas sind ja köstlich“, schmatzt Justine vor lauter Begeisterung. Die frittierten, würzigen Teigtaschen Gebäck sind geschmacklich perfekt abgestimmt. Außen sehr knusprig, innen leicht cremig. Die Schärfe von Ingwer und Chili gepaart mit dem besonderen Aroma von Koriander und Kreuzkümmel.

Ein Gedicht! Hier, mitten am Frankfurter Bahnhof, da versteht jemand sein Handwerk.

Benisha ist der Name des indischen Mädchens, das Justine zum Abschied noch ein Frischetuch mit Eukalyptus und Zitrone für die Hände reicht. Justine bedankt sich ganz herzlich und streunt auf leisen Sohlen weiter durch all die Menschen um sie herum, bis sie auf der rechten Seite der Passage die Bahnhofsbuchhandlung entdeckt.

Bücherläden haben auf mich doch irgendwie eine große Anziehungskraft. In Hamburg hat sie sich oft Stunden lang in die Leseecken verkrochen und ist so in andere Welten abgetaucht. Für Justine war es ein liebgewonnener Spleen geworden, sich blind irgendeinen Roman aus dem Regal zu greifen und mit dem Lesen zu beginnen. Ohne Blick auf das Cover und ohne den Klappentext zu lesen. Nicht selten hat sie das Buch dann gekauft, weil es sie so gefesselt hat. Aber dafür reicht die Zeit heute nicht. Sie tritt ein und schaut sich um.

Regionale Literatur. Justine nimmt sich einen Franken-Führer und blättert durch. Bei den Schlagwörtern sucht sie nach Klingenberg und wird fündig. Danach bestellt sie einen schnellen Espresso und überfliegt die Seiten zur Region. Irgendwie schon komisch, wie sehr sie das nach all den Jahren noch fasziniert. Justine geht es nicht um das Geld, nicht um das Erbe an sich.

Warum denkt Tante Vally nach all den Jahren gerade an mich?, ohne sich die Frage selbst beantworten zu können, stellt sie das Buch zurück ins Regal.

Im Regionalexpress angekommen, steuert Justine eine leere Sitzgruppe an. Es ist wenig los im Zug, so darf es für sie gerne weiter gehen. Justine wählt die Podcastfolge von „Psychologie to go“ aus und sinkt in ihren Sitz. Ein süßlicher Geruch von Kokos steigt ihr in die Nase. Sie hebt ihre Tasche und schnuppert.

Ah, das ist das Gebäck von Benisha. Justine nimmt das Päckchen mit den in Papier geschlagenen Halva-Kugeln aus dem Beutel.

Mhhh, wie das duftet! Was ist da Leckeres drin? Grieß vielleicht, dann etwas Nussiges … Könnte Pistazie sein. Rosinen, Sesam, Kardamom. Die gelbe Färbung kommt von Kurkuma oder ist es vielleicht sogar etwas Safran? Justine beißt ein zweites Bällchen auf und untersucht das Innenleben des Gebäcks nochmal genauer. Das Rezept wird leider Benishas Geheimnis bleiben.

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