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Klingenberg am Main

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Nach einem weiteren Halt mit reibungslosem Umstieg in Aschaffenburg atmet Justine laut auf, als sie endlich den Namen „Klingenberg a. M.“ in weißer Schrift auf blauem Schild geschrieben liest. Aufregung lässt ihr Herz schneller schlagen. Sie ruckelt unruhig auf dem Sitz hin und her, bis der Zug mit einem lauten Quietschen zum Stehen kommt und sie aussteigen darf.

Am Bahnsteig sieht sie sich um. Vor ihr steht ein Sandsteingebäude mit kaum noch lesbarer Aufschrift. Der Schaffner pfeift und steigt ein, die Türen schließen sich. Der Zug rollt langsam los und gewinnt zunehmend an Tempo, als wolle er vor ihr davonrennen. Niemand sonst war ausgestiegen und so steht Justine plötzlich mutterseelenallein an Gleis 2. Als hätte mich das alte Leben ausgespuckt, weil ich ungenießbar geworden bin.

Die Energie verlässt schlagartig ihren Körper und sie fängt an zu weinen. Warum tue ich mir mit den einfachsten Dingen immer so schwer? Justine schüttelt sich und macht sich auf den Weg, links den Koffer in der Hand und rechts das Handy mit der Navigationsroute für Fußgänger. Und wie ihre negativen Gedanken es so heraufbeschwören, steht sie prompt vor der ersten Straßensperre.

Scheinbar gibt es Bauarbeiten an der Brücke und ein Weiterkommen ist auf diesem Weg nicht möglich. Weit und breit niemand, den ich fragen könnte.

Justine steht minutenlang unentschlossen vor der Absperrung, die Sonne brennt erbarmungslos hoch über ihrem Kopf und quält sie wie ein Brennglas. Sie hat mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass sie noch nicht mal den Weg in die Altstadt finden würde. Die Tränen kullern jetzt hemmungslos von ihren Wangen. Wo war nur die ganze gute Energie hin? Dann endlich gibt es einen älteren Herrn mit Rad, der für Justine bremst und ihr den Weg zeigt. Puh, die Stimmung steigt.

Mitten auf der Mainbrücke bleibt sie stehen und beobachtet den Fluss. Wer die Elbe gewohnt ist, für den gleicht der Main bald einem kleinen Rinnsal. Sie wirft eine Cent-Münze in den Main. Das hatte sie sich schon auf der Fahrt vorgenommen, denn etwas von sich wollte sie auf jeden Fall gleich hierlassen. Ob eine Cent-Münze den früheren Glückspfennig ersetzt hat?

Direkt unter ihr fahren kleine Motorboote vorbei und von oben sieht es so aus, als teilen sie den Fluss in zwei Hälften.

Der Rubikon … so fühlt es sich also an. Ich werde jetzt den Rubikon überschreiten.

„Ahoi!“, ruft der Kapitän eines voll beladenen Kohletankers, als wäre er der Gastgeber in dieser Stadt. Seine Selbstverständlichkeit steckt sie an. Justine flüstert in alter Hamburger Manier: „Moin, Moin, Käpt’n“.

Faszinierend, die ganzen sattgrünen Steilhänge mit den Weinreben. Oben am Berg thront die Burgruine „Clingenburg“, den Namen hatte Justine im Stadtführer gelesen. Für jemanden, der aus dem Norden angereist kommt, bietet sich hier eine Weinstadt-Idylle aus dem Bilderbuch dar.

„Hallo Tante Vally, da bin ich! In Deiner so geliebten Stadt am Main. Danke für die Einladung.“

Nachdem Justine ihr Hotelzimmer bezogen hat, nimmt sie eine Dusche. Der Nachmittag ist noch jung, deshalb geht es nun weiter auf Erkundungstour. Sie hat die Route der Seltenbachschlucht herausgesucht und macht sich mit einer Flasche Wasser im Beutel auf den Weg. All diese kleinen Gassen, aufwendig mit Mosaik Pflastersteinen belegt, das alte Fachwerk, das größtenteils aufwendig restauriert wurde, faszinieren sie. Vor einem Haus bleibt Justine stehen und bewundert das hellblau angestrichene Fachwerk, denn so etwas gibt es in Hamburg nicht zu sehen. Um einen kleinen Brunnen ranken sich schmiedeeiserne Weinreben mit üppigen Rispen. Eine schwarze Katze mit weißer Schnauze liegt schlafend in der Sonne.

„Ciao Bella … Prego?“, fragt der Eisverkäufer, als sich Justine die Auslage anschaut.

„Eine Kugel von dem Klingenberger Eis bitte. Was ist das genau?“

„Oh … das ist unsere neuste Kreation. Ein Most-Eis.“

„Mhhh … klingt gut. Hier, stimmt so. Vielen Dank“

„Grazie, lassen Sie es sich schmecken und beehren Sie uns recht bald wieder.“

Justine probiert von der ihr bisher unbekannten Eissorte und ist begeistert von dieser Cremigkeit in Kombination mit dem vollen Geschmack von Äpfeln, eine feine Note Zimt und Zitronenabrieb.

„Vorzüglich, Danke!“, ruft sie lachend zurück. Sie spaziert weiter, jetzt mit Kurs auf die Schlucht. Diese Stadt ist im Vergleich zu Hamburg menschenleer. Justine schaltet ihr Handy aus, um für einen Moment nicht mehr erreichbar zu sein, sie gönnt sich jetzt die völlige Ruhe.

Die kalten, groben Felsen in der Schlucht fangen sie ein und entführen sie in eine andere Welt. Überall ragen riesige Farne auf den schmalen Pfad, der entlang eines Bachlaufes führt. Was als Kind schon faszinierend auf Justine gewirkt hat, haut sie jetzt schier um. Sie läuft andächtig weiter in die Schlucht hinein und staunt über das Schauspiel der Sonne im quirligen Wasser, es blitzt und blinkt, als würde Gold darin liegen.

Hier ist ein Ort, an dem man eins werden kann mit der Natur … An dem man sich vor der Welt und ihren Anforderungen verbergen kann. Hier wird Justine für einen Moment von den massiven Felsen verschluckt, als hätte es sie nie gegeben. Sie wünscht sich, völlig unbedeutend, ja, unsichtbar zu sein.

An einem Hang sind kleine Löcher zu sehen. Vielleicht von Wasserratten? Justine denkt an die alte Geschichte und stellt sich vor, wie von dort in wenigen Stunden die Elfen hinausfliegen, um ihre guten Taten zu verrichten.

„Immer wenn du ein Spinnennetz siehst, weißt du, dass die Elfen nicht weit sind. Denn an den Spinnennetzen hängen sie ihre Flügel zum Trocknen auf.“, so war eine von Valeries Erzählungen damals.

Justine erinnert sich, wie sehr Tante Vally mit der Natur verbunden war. Um heute einen Feuersalamander zu sehen, ist es gerade viel zu trocken, doch sie erkennt die Stelle wieder, wo sie vor über zwanzig Jahren den ersten und einzigen Salamander ihres Lebens gesichtet hatte. Als sie genauer hinsieht, entdeckt sie in einem kleinen Becken im Bachbett einige Larven von dem kleinen Reptil. Plötzlich lautes Geschrei, Justine fährt ruckartig zusammen.

„Puh, ihr habt mich aber erschreckt!“, tadelt Justine. Es waren nur zwei Eichelhäher, die sich streiten. Hier gibt es sie also noch, diese wilde Natur.

Ein Weg durch die Schlucht führt auch hinauf zur Burg. Justine schleicht durch das alte Gemäuer und malt sich aus, wie das Leben hier wohl einmal ausgesehen hat. Überall hängen Plakate für Veranstaltungen, auch direkt auf der Burg: Festspiele, Konzerte, Musicals. Klingenberg hat an Unterhaltung richtig was zu bieten.

Auf der großen Terrasse genießt sie einen weiten Ausblick über die Weinberge und das sattgrüne Maintal. Es scheint, als hätte sich der liebe Gott für dieses schöne Fleckchen Erde besonders viel Muße aufgehoben. Kein Wunder, dass es Valerie gut achtzig Jahre lang hier ausgehalten hat.

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