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1. Sorayns Boot

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D A SG R A U EW A S S E Rleckte gierig an den Steinen. Mit unzähligen Fingern und Zungen streckte es sich nach ihnen aus und glitt dann wieder zurück, nur um im nächsten Moment einen neuen Angriff zu starten.

Der schwarzhaarige Mann, der in Ufernähe auf einem moosbewachsenen Balken saß und den Wellen bei ihrem Spiel zuschaute, wirkte in seiner durchnässten, zerlumpten Kleidung wie ein Schiffbrüchiger. In seinen Augen lag das ungläubige Staunen eines Menschen, der noch nicht recht begreift, dass er entkommen ist.

Ein Windstoß peitschte ihm die Gischt entgegen; mit tausend kleinen Nadelstichen neckte und quälte sie ihn. Dennoch wandte er sich nicht ab, sondern hielt sein Gesicht dem Meer entgegen, hungrig nach der Berührung. Schließlich hob er den Blick. Über den Himmel rasten die Wolken, tief und dunkel, und wie zur Bestätigung dessen, was er längst hätte begreifen müssen, schnappte die erste Welle mit kalten Zähnen nach seinen Füßen.

Blitz stand auf. Er war müde bis in die Knochen, aber den Sturm hier abzuwarten, grenzte an Selbstmord. Lange genug war er in der schwarzen Burg, die sich über den Klippen erhob, eingesperrt gewesen; darauf, sein Leben zwischen finsteren Wassermassen zu beschließen, legte er es nicht an. Zu den schnellen, gewandten Bewegungen, die ihm sonst eigen waren, war er jetzt, nass, durchgefroren und erschöpft, nicht in der Lage. Wie ein uralter Mann fühlte er sich, während er steifbeinig über die Steine kletterte, landeinwärts. Der Wind zerrte an seinen Kleidern. Die Hütten der Fischer, in denen er jetzt gerne Zuflucht gesucht hätte, standen schon lange nicht mehr. Das Meer holte sich die Insel zurück; hier oben, wo er sich jetzt umdrehte, um noch einmal auf die aufgewühlte See hinauszuschauen, hatten früher einmal eine Reihe Weinstöcke Frucht getragen. Stümpfe ragten ins hohe, vom Wind niedergepeitschte Gras. Auf dieser Seite Neiaras gab es wahrscheinlich erst einen Unterschlupf, wenn er dem Weg nach oben in die Hügel folgte. Besondere Ansprüche hatte er keine. Auf einer Insel, die augenscheinlich verlassen war, gab es keine Hoffnung auf einen warmen Platz am Kamin, einen Teller Suppe und ein weiches Bett. Als er dem Weg zwischen den Hügeln hindurch folgte, tauchte ein baufälliges Haus vor ihm auf. Durch die große Toröffnung wankte er in einen offenen, von Schutt überfüllten Hof. Der immer stärker werdende Regen trieb ihn in einen der leeren Räume. Es trommelte aufs Dach, als würde der Sturm mit aller Macht versuchen, ihm zu folgen, aber er fand eine trockene Ecke, rollte sich zusammen und schlief.

Das Unwetter tobte die ganze Nacht. Blitz bekam nicht viel davon mit. Kälte und Nässe und das Heulen des Windes – das alles hatte er als Gefangener im Schloss fast tagtäglich miterlebt. Doch immerhin hatte er dort, wenn er morgens aufwachte, fast immer etwas zu essen bekommen. Hier jedoch konnte er seinem knurrenden Magen keine befriedigende Antwort geben. Er durchstöberte das verfallene Haus. Groß war es, viel größer als die üblichen Häuser auf den Glücklichen Inseln. Was war das hier – der Besitz des Weinfürsten Wikant, bevor er auf die Idee verfallen war, sich ein Schloss zu bauen? Und nun gab es für die Gäste nichts als Regenwasser, das nach Salz und Meer schmeckte.

Er musste unbedingt von dieser Insel herunter. Am besten noch heute, solange er bei Kräften war. Dass der Hafen nicht mehr existierte, hatte er gewusst, doch es musste doch irgendwo noch ein Boot zu finden sein, wenigstens ein kleines! Besaßen Wikant und Tinek nicht wenigstens ein einziges Schiff, um fliehen zu können? Die Antwort gab er sich selber. Sie waren nicht geflohen und sie hatten nicht den winzigsten Kahn.

Tinek! Blitz sah hoch zur schwarzen Burg; von hier aus konnte er nur die Spitze einer Zinne erkennen. Er musste die Fürstin mitnehmen, wenn er ging, so unwahrscheinlich es auch war, dass er eine Möglichkeit fand, von hier zu verschwinden. Sie hatte keine Hoffnung gehabt, das wusste er, er hatte es gesehen, wenn sie ihm die kärglichen Mahlzeiten brachte, die sie irgendwie aus irgendetwas zusammenkratzte. Zuversicht, die Tag für Tag schwand …

Blitz schauderte, wenn er nur an dieses Schloss dachte, den Ort, an dem sie ihn wie ein seltenes Haustier eingesperrt hatten, doch er zwang sich dazu, den Weg zu wählen, der ihn darauf zuführte. Er musste Tinek sagen, dass sie nicht aufgeben durfte. Er würde einen Weg finden, ein Boot, ein Floß, irgendein Gefährt.

»Tinek!« Seine Stimme war heiser, sein Hals brannte. Da stand er, vor sich eine unüberwindbare Schlucht. Steil ging es hinunter in eine finstere Tiefe, aus der das Wasser zu ihm hinaufrauschte. Der Sturm hatte die Zugbrücke weggerissen – niemand würde diese Burg je wieder betreten. »Tinek!« Er schrie, so laut er konnte, aber keine Hand zerrte die Bretter fort, kein Gesicht, bleich und ausgezehrt, erschien an einem der zugenagelten Fenster. Schließlich gab er es auf. Er wandte der Burg den Rücken zu und ging – und drehte sich noch einmal um, rasch, falls sie sich doch entschlossen hatte, sich zu zeigen – aber niemand rief ihn zurück. Alles blieb still. Nur das Meer, niemals müde, niemals still, lockte ihn hinaus ins Ungewisse.

Was brauchte man, um ein Floß zu bauen? Bretter gab es hier genug; das Dorf schien vor seinen Augen zu zerfallen. Doch Werkzeug gab es hier keins. Am Ende würde ihm nichts übrig bleiben, als sich mit einer Holzbohle allein aufs offene Meer hinauszuwagen und dort jämmerlich unterzugehen. War er dazu aus der Gefangenschaft entkommen – um auf einer verlassenen Insel zu sterben?

»Nicht dafür«, sagte er laut, sagte es trotzig, rief es den Wolken zu, als könnte dahinter, seinen Blicken verborgen, ein Riese stehen, der ihm zuhörte – der nur die Hände auszustrecken brauchte, um sein Schicksal zu wenden. »Nicht dafür! Um hier zu sterben? Ist das deine Gnade, Rin? Erst Freiheit und dann Tod? Nie und nimmer!« Es musste irgendwo einen Ausweg geben, eine Möglichkeit zur Rettung. »Es gibt sie!«, rief er dem unsichtbaren Riesen zu. »Ich werde sie finden, irgendwo hier … Ich gebe nicht auf! Du hattest so viele Gelegenheiten, mich nach Rinland zu holen. Du hast sie alle nicht genutzt. Hundert Mal wäre ich fast gestorben … und du hast mich noch nicht gerufen. Es gibt eine Möglichkeit. Zeig sie mir!«

Er durchsuchte die Häuser, erfüllt von einer Hoffnung, die so wie er einfach nicht sterben wollte, eine Hoffnung, immer ein Stück lebendiger als er selbst, ihm immer einen Schritt voraus. Die Bewohner hatten alles mitgenommen, was sich nur mitnehmen ließ. Wo waren sie hingezogen? Nach Drian, zum nächstgelegenen Festland? Oder hatten sie sich verstreut, übers ganze Kaiserreich, jeder dorthin, wohin das Schicksal ihn verschlug?

Wo Ilinias wohl war? Und Sorayn. Er setzte sich, den Rücken gegen eine Hauswand gelehnt, und dachte an seinen Sohn, an jenen unvergleichlichen Moment, in dem er den Jungen gefunden und im Arm gehalten hatte.

Rin ließ niemanden gehen, dessen Zeit noch nicht gekommen war. Wahrscheinlich war es vermessen zu glauben, dass der größte aller Riesen dieses Kind nur dafür am Leben gehalten hatte, dass Blitz es einmal umarmen konnte. Und doch war diese Erinnerung ein Schatz in seinem Herzen. Wie Gläser voller Eingemachtem bewahrte er sie in seinem Herzen auf, ein Keller, in den er hinuntersteigen konnte, um nach Belieben zu genießen. Den Duft vergangener Tage. Die Stunden, in denen er mit Mino ihr Baumversteck eingerichtet hatte … das waghalsige Klettern an der Steinküste, dieses unvergleichliche Gefühl, das Leben selbst bezwungen zu haben … Ilinias, wie sie vor ihm herlief, das flatternde weiße Haar … Manchmal war er kurz davor gewesen, gerade dieses Glas auf dem Boden zu zerschmettern und alle Erinnerungen an das Mädchen, das er aus dem Kloster entführt hatte, zu vernichten, nachdem der Geschmack der Bitterkeit alles Gewesene nachträglich durchdrungen hatte. Aber da war es noch, dieses Bild, wie sie lief und wie sie lachte, und dass er geglaubt hatte, in ihr all das gefunden zu haben, wonach er sich sehnte. Er hätte mit Mino fliehen können – und war doch bei Ilinias geblieben, die den gemeinsamen Sohn weggeworfen hatte wie einen zerbrochenen Teller.

Mino. Oh nein, denk nicht an Mino. Denk nicht an dieses andere blonde Mädchen, tu dir das nicht an. Aber auch das war einer der Augenblicke, die er in seinem Vorratskeller aufbewahrte, ein Glas, in dem der Geschmack lieblicher Pfirsiche und Aprikosen sich mit der Schärfe von Pfefferschoten mischte und ihm die Zunge verbrannte. Denk nicht daran, wie du ihre Hand gehalten hast. Denk nicht an die Umarmung, an dieses Gefühl innigster Nähe, das du bei Ilinias nicht einmal dann gefunden hast, wenn ihr zusammen im Bett wart. Denk nicht an Mino. Aber er konnte nicht anders. Hier, entkommen und doch dem Tod näher als je zuvor, konnte er nicht anders, als jeden Moment hervorzuholen und noch einmal auszukosten, einmal und ein zweites Mal und immer wieder. Mino im Schlossgarten, die auf ihn zulief, seinen Namen auf den Lippen. Mino, erwachsener geworden, fraulicher, genauso gebunden wie er … Ahinehl.

Was er auf dieser Welt am allermeisten liebte. Mino. Und Sorayn. Und beide hatte er nur kurz im Arm gehalten. Viel zu kurz. Liravah war es gewesen, die sich um seinen Sohn gekümmert hatte. All die Jahre war Sorayn bei ihr gewesen. Ganz in der Nähe musste ihre Hütte sein. Von dieser Seite war Blitz nie über die Insel gewandert, aber wenn er es sich recht überlegte, hatte das Häuschen seiner ehemaligen Lehrerin in jenem Waldstück gestanden. Man musste nur den Hügel herabsteigen, zwischen den Bäumen hindurch …

Sein Herz schlug hoch auf, als er die Hütte hell durch die Stämme schimmern sah. Der Wald hatte es vor den Stürmen beschützt, die über die Dörfer der Insel hinweggefegt waren. Genauso wie damals sah es aus, als er und Ilinias hergekommen waren. Ihr Kuss brannte immer noch auf seinen Lippen. Und Sorayn, damals noch zu klein zum Laufen, hatte in Liravahs weise Augen geblickt.

Das kleine Haus war schon lange verlassen. Die Tiere hatten es für sich in Anspruch genommen, und der Wald erdrückte es fast mit seiner innigen grünen Umarmung. In den kostbaren Büchern der alten Lehrerin hatten kleine Tiere ihre Schlafstätten gebaut, in den Winkeln unter dem Dach klebten Nester. Durchs Fenster sah Blitz auf den Tümpel hinaus. Wild zugewachsen reichte der Teich beinahe bis an die Außenmauer. Die Blumen, in ein altes Boot gepflanzt, wucherten wild, vom Gestrüpp noch nicht ganz verdrängt.

Ein Boot.

Blitz starrte eine Weile auf das, was er da vor sich hatte.

Ein Teich. Blumen, die sich nicht hatten unterkriegen lassen. Ein Boot.

Er nahm sich nicht die Zeit, aus dem Haus zu laufen. Die Glasscheibe war längst geborsten; er sprang durch die Fensteröffnung und kniete mit zitternden Händen vor dem ungewöhnlichen Pflanztrog. Die größtenteils abgeblätterte Farbe war immer noch zu erkennen. Blassblau. Ein blau gestrichenes kleines Ruderboot.

Er riss die Blumen und das Kraut aus, griff mit bloßen Händen in die Erde, hob eine Handvoll nach der anderen hinaus.

»Lass es nicht beschädigt sein … Ein Boot! Lass es heile sein, bitte! Oh Rin, bitte!«

Hunger und Müdigkeit waren vergessen, während er mit bloßen Händen die Erde hinausschaufelte und einen immer größer werdenden Haufen neben sich auftürmte. Es war tatsächlich ein Boot, das er aus dem Erdreich zog. Klein, eine Nussschale wie für ein Kind, und natürlich nicht unbeschädigt. Eine der Bohlen war zersplittert, aber das restliche Holz fühlte sich gut an und würde dem Wasser und seinem Gewicht standhalten. Zum Reparieren würde er ein paar Bretter benötigen, irgendetwas Passendes würde sich schon finden. Und etwas zum Verkleben – Pech vielleicht oder Harz? Es musste nicht lange halten. Nur eine Fahrt, eine einzige Fahrt.

Die See lag erstaunlich ruhig vor ihm, als hätte sie sich langsam vom letzten Sturm erholt und atmete tief durch, bevor das nächste Unwetter heraufzog. Noch ließen sich am Himmel keine Wolken blicken und der Wind war zwar frisch, aber nicht sehr stark. Das Meer, das er seit seiner Kindheit kannte, war unberechenbarer geworden und blieb doch vertraut. Als Blitz ins Boot stieg, wusste er, dass sich die Wetterlage innerhalb kürzester Zeit ändern konnte, doch er zögerte keinen Moment. Dies war seine einzige Gelegenheit zur Flucht. Eine zweite Chance würde es nicht geben.

Das Festland war nicht weit, aber ohne die Strömung, auf die er sich stets verlassen hatte, war nicht gewiss, wo er ankommen würde. Die Flut sollte ihn in Küstennähe tragen. Doch auf dieses unruhige, unwillige Meer war kein Verlass. Wie friedlich es tat, seine wilde, unbezähmbare Freundin! Launisch, mutwillig, vielleicht in der Stimmung, ihn zu verschlingen, vielleicht willens, ihm zu helfen. Wer konnte das wissen? Aber hier war das Boot. Hier war er, bereit, dem Tod erneut ein Schnippchen zu schlagen. Alles andere ging ihn nichts an; es würde kommen, wie es kommen musste.

Wieder einmal gab er sich ganz in die Hände des Riesen.

Glänzende Tropfen perlten von dem behelfsmäßigen Paddel. Die Sonne küsste seine trockenen Lippen. Als er um die Insel herumruderte, sah er noch einmal hoch zu Tineks und Wikants schwarzem Schloss auf der Spitze der Felsnadel. Dort, über dem Donnern der Brandung, war sein Gefängnis gewesen. Bitterkeit über die verlorenen Jahre wollte ihn erfüllen, stand schon bereit wie ein grimmiger Soldat in voller Rüstung, um in der Kammer seines Herzens wild mit der Lanze um sich zu stechen.

»Nicht verloren«, stieß er hervor, »nein, das nicht. Dort habe ich gelebt wie ein Prinz in einem Schloss. Wie ein Matrose auf seinem Schiff. Wie ein Einsiedler im Wald. Ich habe kein einziges Jahr verloren.« Und zugleich kam der Ruf aus seinem Mund: »Hilf mir. Oh Rin, bitte, hör mich an. Ich fürchte mich davor, dass mir die Zeit durch die Finger rinnt. Lass mich nicht verloren sein. Ich wünsche mir, dass kein Tag meines Lebens vergeudet war.«

Konnte er nicht einmal einen Gedanken denken, ohne dabei um Hilfe zu bitten? Er schloss für einen Moment die Augen, fühlte die Sonne auf dem Gesicht, den Wind, das Meer.

Lass mich nicht verloren sein …

Glück füllte sein Herz. Er war frei. Was brauchte er mehr als das – frei zu sein und ein Boot zu besitzen? Was scherten ihn der Hunger, die Nadelstiche der Kälte, die nassen Füße?

Erschrocken blickte er nach unten, wo eine Pfütze sich um seine Füße ausbreitete. Ein Leck! Die Reparatur hatte nur kurz gehalten. Immer schneller drang das Wasser durch den Riss. Und dabei war das Land schon zu sehen! Dort hinten – fern und noch leicht verschwommen, die sanften Erhebungen der Küste von Drian. Es durfte nicht wahr sein!

»Was machst du, Rin?«, fuhr er auf, während er verzweifelt Wasser schöpfte, hastig, mit bloßen Händen, ein Kampf gegen einen übermächtigen Feind. »Was tust du denn? Warum nimmst du mir dieses Wunder wieder weg? Rin! Rin!«

Rin antwortete nicht. Er antwortete nie, immer blieb er unsichtbar, immer einen Schritt hinter ihm oder vor ihm, immer lag dieses wissende Lächeln in der Luft.

»Tu das nicht! Oh nein, nicht jetzt, nicht jetzt!«

So schnell, wie das Wasser stieg, konnte er nicht schöpfen. Hier, mitten im Wasser, hier versagte der Kahn, hier, zwischen der Insel und dem Kaiserreich, musste er untergehen? Blitz konnte nur noch zusehen, wie das Meer sich lachend über das winzige Gefährt hermachte und es mit gierigen Zähnen herunterschluckte. Ihn ließ es übrig, als sei er eine Gräte, ungenießbar. Oder als sei er ein besonderer Leckerbissen, den es sich noch aufsparte. Denn entkommen lassen würde es ihn nicht. Von hier aus war es unmöglich, das Land schwimmend zu erreichen, er wusste das, und doch schwamm er los.

So lange ich kann. Ein Schwimmstoß und noch einer. Langsamer. Während das finstere Wasser meine Kleidung tränkt und die Tiefe mich ruft. Ist es dein Ruf, Rin, zu dir? Hältst du deine Hände unter mir, ausgebreitet, um mich zu dir zu holen?

»Noch nicht!«, rief er, doch eine große Woge schwappte über ihn und erstickte seinen Ruf.

Zu dir. Er konnte es fühlen, Rin war da. Ein Riese, größer als alles, ein Riese mit einem Lächeln. Fast konnte er es sehen. Fast konnte er seinen Atem auf der Stirn spüren und die großen warmen Hände.

Hab keine Angst.

Fast hätte Blitz gelacht. Während er mit den Wellen kämpfte und keinen Augenblick nachließ, war es doch so, als würde er nicht im kalten Wasser um sein Leben ringen, sondern als würden ihn die Hände des Riesen über die Untiefen hinwegtragen. Er atmete Wasser ein, hustete und spuckte und würgte, und doch glaubte er dieser Stimme, die zu ihm sagte: Gib nicht auf. Hab Mut. Sei stark. Fürchte dich nicht.

Wie war es möglich, sich gleichzeitig der Kraft des Riesen zu überlassen und weiterzumachen? Trotz Kälte und Schwere unermüdlich Arme und Beine zu bewegen? Wie konnte er einverstanden sein mit dem, was ihn erwartete, und doch immerzu weiterschwimmen, mit einer Ausdauer, die der eines Riesen gleichkam?

»Ich hab ihn! Na los. Und hepp!«

Arme um seine Schultern. Blitz brauchte eine Weile, bis er begriff, dass die Hände, die ihn gepackt hatten, nicht dem Riesen gehörten, der ihn begleitete, sondern einem Mann, und dass auch die anderen Hände zu fremden Menschen gehörten. Dass das Boot, in das sie ihn zogen, echt war. Und dass das Schiff, zu dem sie ruderten, schon eine ganze Weile in der Nähe gewesen sein musste. Er hatte es nur nicht gesehen.

Erst als sie ihm an Bord geholfen hatten, als er an Deck saß, ein grobes Tuch um die Schultern, und einige Schlucke eines sehr starken und sehr übelschmeckenden Getränks hinuntergekippt hatte, wurde ihm allmählich bewusst, wo er gelandet war. Etwas Vertrautes war an den Gestalten, die ihn umringten, an der Art, wie sie redeten, wie sie aussahen, wie sie lachten. Seeleute hatten immer eine raue Sprache, aber diese hier waren fast zu gut gekleidet für ein solches Schiff, das nicht nach einem Handelsfrachter aussah. Schöne Hemden mit großen Knöpfen, geflochtene Ledergürtel, gefärbte Tücher. Wenn dies ein reiches Kaufmannsschiff gewesen wäre, das gerade besonders gute Geschäfte gemacht hatte, hätte der Kapitän darauf geachtet, dass an Bord alles sauber war, die Galionsfigur neu gestrichen, die Segel geflickt. Doch dieses Schiff wurde schlampig geführt, von Leuten, die lieber tranken, als die Bohlen zu schrubben. Kein nüchterner Kapitän hätte so etwas geduldet. Diese Leute hier waren nicht stolz auf ihr Schiff, und wenn sie es doch waren, dann liebten sie es nicht. Lange genug hatte er unter Räubern gelebt, um zu erkennen, zu welchem Schlag ein Mensch gehörte. Das hier waren unzweifelhaft Piraten. Er musste sich nicht einmal umwenden und zu der schwarzen Flagge hinaufsehen.

»Oh bitte, Rin«, murmelte er. »Musste das wirklich sein?«

Er fühlte immer noch das Lächeln über sich, ein riesiges, gütiges und zudem äußerst amüsiertes Lächeln.

»Kapitän Suresch will dich sehen«, teilte ihm einer der Matrosen mit. Blitz ließ die Decke liegen, obwohl ihm immer noch kalt war, doch eingewickelt wie eine melgianische Pilgerin wollte er nicht vor dem Herrn des Schiffs erscheinen. Dass er kein Hemd trug, keine Schuhe und auch seine Hosen kaum bis zu seinen Waden reichten, würde einen Piraten nicht stören. Falls der Kapitän beschloss, ihn am Leben zu lassen, würde man ihm andere Kleidung geben; falls nicht, spielte es sowieso keine Rolle, was er anhatte. Das Messer, das er im Gürtel trug, nahmen sie ihm nicht ab. Besser für sie, dass sie es nicht versuchten.

Der Anführer der Piraten war ein großer, kräftiger Kerl mit einem Bart, der in seinem Gesicht wucherte wie Unkraut. Er musterte Blitz aus dunklen, halb zusammengekniffenen Augen.

»Schiffbrüchig, eh?«, fragte er. »Und wie, bitteschön, kommst du dazu, mitten im Meer zu schwimmen, ohne ein untergegangenes Schiff weit und breit?«

»Ich hatte ein Boot«, erklärte Blitz.

»Ein Boot? Haben sie dich ausgesetzt? Was hast du ausgefressen? Sag es mir lieber gleich, ich finde es doch heraus.« Suresch ließ seinen Blick über Blitz’ zahlreiche Narben wandern. »Wie heißt du? Von welchem Schiff bist du?«

»Er lügt. Weder die Löwenbiss noch die Greifenklaue sind in diesen Gewässern unterwegs«, warf ein anderer Pirat ein, bevor Blitz überhaupt antworten konnte.

Blitz schenkte dem Sprecher, einem langen, hageren Mann neben dem Kapitän, ein abfälliges Lächeln und legte die Hand ganz ruhig an den Griff seines Messers. »Du nennst mich einen Lügner? Was bist du hier, der Maat? Wenn ich mich einen Lügner schimpfen lasse, dann allerhöchstens vom Kapitän dieses Schiffes.« Wenn man solchen Leuten nicht von vornherein zeigte, dass man keine Angst hatte, war man verloren.

»Warte, du …«

Kapitän Suresch hob die Hand, und der Maat ließ die Fäuste wieder sinken und trat einen Schritt zurück.

»Ich habe nie behauptet, ich wäre von der Löwenbiss oder der Greifenklaue«, sagte Blitz und wunderte sich darüber, wie die Piratenschiffe heutzutage hießen.

»Von welchem Schiff bist du dann?«, verlangte der Kapitän zu wissen.

»Ich bin …«

»Er lügt«, rief der Maat, bevor Blitz zu Ende reden konnte. »Er denkt sich gerade eine Geschichte aus!«

»Mein Name ist Jakebeny.« Seinen eigenen Namen durfte er nicht nennen, nicht, wenn die Gefahr bestand, dass Zukata davon erfuhr, dass er noch am Leben war. Den Namen seines Vaters zu tragen, erfüllte ihn mit einem erhabenen Gefühl des Stolzes. Auch dies war wie ein Schlag in Zukatas Richtung. Sieh her, ich habe schon einen Vater, nach dem ich mich nenne. Nicht du. Niemals du. »Ich bin von der – äh, Riesenfaust

»Nie gehört«, knurrte der Maat, doch diesmal scheuchte ihn Suresch mit wenig sanften Worten ganz fort, und trat so nah an Blitz heran, dass dieser seinen stinkenden Atem riechen konnte.

»Ich erkenne Zukatas Auserwählte, wenn ich einen vor mir habe, Jakebeny«, sagte er. »So wie jeder hier. Denkst du, ich wüsste nicht, was ich einem Kaisergänger schuldig bin?«

Blitz sagte nichts dazu. Aber die Narbe an seinem Arm schien aufzubrennen, dieses Zeichen, das ihn für immer mit Zukata verband: das eingebrannte Z und darüber die Krone. Zukata, der Kaiser. Damals hatte der Riesenprinz noch davon geträumt, eines Tages in Kirifas auf dem Thron zu sitzen, und dieses Zeichen, das er allen seinen Gefolgsleuten eingebrannt hatte, war wenig mehr als die Verheißung von Macht und Einfluss und unermesslichem Reichtum gewesen. Schlimmer noch – für jeden, der Zukatas Zeichen, das Mal eines Verbrechers, an sich trug und von Soldaten aufgegriffen wurde, bedeutete es das Todesurteil. Doch nun war Zukata selbst der Herrscher des gesamten Kaiserreichs und das Brandmal verlieh allen seinen Gefolgsleuten die Macht, im Namen des Kaisers Befehle zu erteilen.

Blitz konnte die Narbe nicht ausstehen, doch er hatte nicht die Absicht, den Irrtum des Kapitäns aufzuklären. »Ich kann nicht erklären, wie ich hierher geraten bin«, behauptete er. »Aber ich verlange, bis zum nächsten Hafen mitzufahren.«

»Die Krone ist kaum noch zu erkennen«, bemerkte Suresch. »Du warst ein Mitglied von Zukatas alter Bande, richtig? Du warst von Anfang an dabei?«

»Das stimmt.«

»Und du hast kein Königtum bekommen wie die anderen? Keinen Thron und kein Gut?« Wieder glomm das Misstrauen in den geröteten Augen auf.

»Die letzten Jahre habe ich in einem Schloss gewohnt«, bekannte Blitz freimütig, natürlich ohne zu erwähnen, dass er dort in einem winzigen Zimmer hinter einer schweren Tür gelebt hatte, die sich niemals öffnete. »Aber ich habe das Meer vermisst und Schiffsplanken unter meinen Füßen. Sehe ich aus wie jemand, der von goldenen Tellern speist? – Wo ich gerade dabei bin, gibt es vielleicht etwas Essbares an Bord?«

Der Kapitän lächelte breit. »Das gibt es.« Er schlug Blitz auf die Schulter und rief einen Matrosen, der ihn hinunter zur Kombüse führen sollte. Vielleicht fragte Suresch sich, ob der Gerettete ein Kaisergänger war, der in Ungnade gefallen war. Aber solange das nicht erwiesen war, blieb ihm nichts anderes übrig, als jeden seiner Wünsche zu erfüllen.

Wer so ausgehungert war wie Blitz, hatte nur einen Wunsch.

Er war auf der Adlerschwinge gelandet, einem Schiff, das die westlichen Gestade abfuhr, um Handelsschiffe zu »begleiten« und den dafür fälligen Zoll einzuziehen. Ihr Kurs führte sie nordwärts, um die Insel der Amazonen herum, in Richtung Sandart. Kapitän Suresch fürchtete, Blitz könnte einen Auftrag haben, der sie dazu zwang, seinetwegen einen Umweg zu machen. Die Piraten mussten in den Norden, bevor die Zeit der Stürme begann, hatte er dem Geretteten erklärt und ihn dabei angefunkelt, als könnte ein einziger Blick genügen, um einen Kaisergänger dazu zu bringen, klein beizugeben. Blitz musste sich so schnell wie möglich etwas Glaubwürdiges einfallen lassen. Er wollte den Gehorsam des Freibeuters gegenüber Zukata nicht auf die Probe stellen und noch einmal die Frage aufwerfen, warum er nicht in seidenen Gewändern auf einem Königs- oder Fürstenthron saß, sondern in abgerissenen Lumpen im Meer getrieben war. Deshalb dachte er sich schnell etwas aus, das mit Sureschs Plänen beeindruckend gut zusammenpasste.

»Ihr könnt mich auf der Insel der Amazonen absetzen.«

»Für den Kaisergänger fahre ich ans Ende der Welt«, meinte Suresch großspurig und beäugte seinen Gast eindringlich.

»Im Ernst«, meinte Blitz und schaute über seine Schulter, als befürchtete er, sie könnten belauscht werden. »Die Insel ist mein Ziel. Ich habe dort – etwas zu tun.«

»Du, ein Mann, auf der Insel der Amazonen?«

Auf jeden Fall klang es geheimnisvoll genug. Nicht einmal der Kapitän eines Piratenschiffs würde darauf bestehen, alles über den Auftrag eines Kaisergängers zu erfahren. Suresch nickte und ließ ihn zufrieden. Und Blitz atmete auf. Die Amazonen kannten ihn; wenn er irgendwo Hilfe bekommen konnte, dann dort.

In der Zwischenzeit machte er sich an Bord der Adlerschwinge nützlich. Die Piraten hatten schon am ersten Tag den Seemann in ihm erkannt und hielten ihn für einen Freibeuter wie sie – welcher ehrliche Matrose hätte jemals Zukatas Zeichen getragen? Befriedigt nahmen sie zur Kenntnis, dass er sich nicht wie ein großer Herr aufführte, der in seiner Kajüte saß und sich bedienen ließ. All das hätte ihm zugestanden, aber seine Hände sehnten sich nach dem glatt polierten Holz der Planken, nach Tauen und Segeltuch unter seinen Händen. Der Wind brachte den Geruch von Salz und Tang mit. Über ihnen kreiste ein Möwenschwarm und wartete darauf, an ihrer Beute teilzuhaben. Der Ruf der Vögel war Musik in seinen Ohren. Das Rauschen der Wellen, das Knarren des Holzes, das Knattern und Schlagen der Segel – all das gehörte so sehr zu seinem Leben, dass Blitz sogar hier, inmitten von Verbrechern, das Glück fand. Er ließ sich sein Erschrecken nicht anmerken, wenn sie mit ihren Raubzügen prahlten, mit den Grausamkeiten, die sie begangen, und den Reichtümern, die sie errungen hatten. Ein wenig war es wie damals, als er unter die Räuber gefallen war und mit Männern aß, die eben von einem Mord nach Hause gekommen waren. Er hörte zu und seine Augen schienen ein wenig dunkler zu werden, und er lachte nicht mit, wenn sie grölten, aber er zuckte nicht zurück. Niemals wurde das Entsetzen in seinem Gesicht sichtbar. Manchmal lächelte er, als würde er träumen, aber sie sollten nicht erfahren, was er dachte.

»He, und du, Beny?« Einer schlug ihm auf die Schultern. »Erzähl! Was hast du gemacht, zusammen mit Zukata?«

»Du könntest uns Geschichten erzählen, wie?«

In ihren Gesichtern lag die Erwartung, etwas von seinen Abenteuern zu hören zu bekommen, so dass sie damit prahlen konnten. Einer von Zukatas Männern, ja, und er war auf unserem Schiff. Mit uns hat er zusammengesessen und geredet und man hat nicht gemerkt, dass er sich für was Besseres hält. Unser Kumpel ist er geworden, vielleicht wird er sogar Zukata von uns berichten …

»Wir haben viel miteinander erlebt«, sagte Blitz vorsichtig, und ihnen musste es so scheinen, als wüsste er nicht, wie viel er verraten durfte. Von einem Zukata, den man nahe bei sich hatte, einem Zukata zum Anfassen, noch nicht der ferne Kaiser auf dem hohen Thron. »Einmal haben mich die Soldaten erwischt und man wollte mich schon hängen. Und da, Zukata, mit bloßen Händen hat er eine Schneise durch die Wachen geschlagen, mitten im Hof der Fürstenburg, vor allen Leuten!«

Jede Geschichte, die er preisgab, kehrte zu ihm zurück. Oder vielleicht kehrte er zu der Geschichte zurück, zu jenem Ereignis, zu einer Zeit, in der er so unglaublich jung gewesen war und es kaum vermocht hatte, sich gegen einen Mann zu wehren, der sein Herr und sein Vater sein wollte. Die Münder der Piraten standen offen, während er ihnen den gewaltigen Riesen vor Augen malte, einen Zukata, der wie ein Sturm durch die Wälder fegte und alles mitriss, was sich ihm in den Weg stellte.

Blitz lächelte. Und vielleicht spürten sie da, dass er keiner von ihnen war, dass er jemandem gehörte, den sie nie gesehen hatten, und dass er, auch wenn er in ihrer Mitte arbeitete, immer jemand sein würde, dem Zukata seine Zuneigung und sein Vertrauen und sein Zeichen geschenkt hatte und vielleicht auch noch ein Fürstentum oder ein Schloss. Wenn er von dem Herrn des Kaiserreichs sprach, mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Bewunderung und Schrecken – er brauchte sich nicht zu verstellen, denn all dies war in ihm –, fühlten sie sich seltsam berührt und nickten. Nur eine Andeutung, dass er Zukata hintergangen hatte, bloß ein kleiner Hinweis darauf, dass dieser nur zufrieden sein würde, wenn Blitz irgendwann tot zu seinen Füßen lag, und sie hätten ihn in Stücke gerissen.

Je weiter sie nach Norden kamen, um so unmöglicher schien ihr Vorhaben, Sandart zu erreichen. Der Wind pustete ihnen nicht mehr bloß Salzgeruch ins Gesicht, sondern peitschte die Wellen so hoch auf, dass das Deck ständig überspült wurde. Die Wolken schienen mit dem Meer zu verschmelzen, so tief hatten sie sich über die weite See geduckt, und die Adlerschwinge kämpfte sich durch einen grauschwarzen Hexenkessel aus peitschendem, spritzendem, allgegenwärtigem Wasser.

»Ich kann die Insel nicht anlaufen!«, brüllte Kapitän Suresch durch das Tosen und Brüllen des Sturms hindurch. »Wir würden an den Klippen zerschellen!«

»Was tun wir dann?«, schrie Blitz zurück.

Die Antwort des Kapitäns konnte er nicht mehr hören. Eine Woge schleuderte ihn gegen den Mast. Krampfhaft hielt Blitz sich fest, während der Bug des Schiffes sich in den nächsten Wellenberg bohrte.

»Noch nicht, Rin!«, rief er in das Heulen des Orkans hinein. »Noch nicht!« Der Wind riss ihm die Stimme vom Mund und trug sie hinaus in das wirbelnde Schwarz.

Der Thron des Riesenkaisers

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