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5. Ein alter Bekannter

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Z E R Z A U S TU N DB E S C H Ä D I G Tlag die Adlerschwinge auf dem Sand. Sie hatten es geschafft, die Klippen zu umschiffen, waren aber vom Sturm zu nah an die Küste von Wenz getrieben worden und auf Grund gelaufen. Auf wackeligen Beinen staksten die Piraten ans Ufer, durchnässt, erschöpft und zugleich erleichtert.

Lauthals schimpfend zählte Kapitän Suresch seine Männer. »Wie viele fehlen? Zwei? Verdammt!«

Die Wolken waren aufgerissen und entblößten einen hellgrauen Himmel, unter dem der Wind jetzt nur noch verspielt tanzte.

»Nach Sandart kommt ihr wohl nicht mehr«, meinte Blitz. »Und auf der Insel der Amazonen werden sie vergeblich auf mich warten.«

»Du kannst jetzt damit aufhören, Beny«, knurrte der Kapitän. »Wir beide wissen, dass es um Wenz geht. Um Wenz und immer um Wenz und um nichts sonst. Und hier sind wir nun.«

Blitz hatte das Gefühl, etwas ganz Entscheidendes nicht mitbekommen zu haben, aber er ließ sich seine Unwissenheit nicht anmerken.

»Das Königreich Wenz«, murmelte er, um den Kapitän dazu zu verleiten, weitere Informationen preiszugeben.

»Ja«, knurrte Suresch, »widerspenstig wie eine Frau, die man gegen ihren Willen verheiratet. Aber sie muss sich fügen, verflucht noch mal! Wenn es uns nicht gelingt, die Küste zu überwachen, wird Zukata uns in Grund und Boden stampfen.«

Eine Frau, die nicht heiraten wollte? Das Bild war aussagekräftig genug, um ihm zu verraten, dass Wenz sich nicht ohne Widerstand in ein Kaiserreich unter Kaiser Zukata einfügen ließ. Natürlich! Bestimmt waren sie deswegen hier. Um den König daran zu hindern, Unterstützung über den Seeweg zu rufen. Oder vielleicht war die Hilfe sogar schon unterwegs, eine Flotte Kriegsschiffe von wer weiß wo.

Aber Zukata würde niemals allein auf ein abgewracktes Schiff wie die Adlerschwinge bauen.

»Wie viele von uns sind noch hier?«, fragte er. »Sind die anderen schon da?«

Suresch hob die Schultern. »Wer weiß das schon. Dieser Sturm hat alle gehörig durcheinandergewirbelt, wetten?« Er blickte zu seinen Piraten hinüber, die nass und erschöpft auf den Steinen hockten und trübsinnig vor sich hinstarrten. »Wir müssen hier weg. Wenn die Soldaten kommen, will ich ihnen bestimmt nicht in diesem Zustand begegnen.«

Soldaten? Das hieß, dass der König die Küste überwachen ließ. Entweder erwartete er einen Angriff seiner Feinde – oder vielleicht seine Verbündeten? So oder so hatte Blitz nicht die Absicht, Uniformierten in die Hände zu fallen. Seine Erfahrungen mit Männern im Dienste eines Fürsten oder eines Königs waren alles andere als angenehm. Solche Leute glaubten grundsätzlich nie, dass man auf ihrer Seite war.

»Dann sollten wir so schnell wie möglich von hier verschwinden«, schlug Blitz vor. »Und sehen, dass wir irgendwie mit den anderen zusammentreffen.«

Suresch krauste die Stirn. »Manchmal ist es, als wenn ein böses Schicksal einem alle Pläne durchkreuzt. Na los, gehen wir.«

Sie waren kaum über die Steine geklettert und hatten einen Kiesweg, von struppigem Gras überwachsen, gefunden, als sie schon einen Trupp auf sich zumarschieren sahen. Es gab hier keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Nur das Meer hinter ihnen, die steinige, windumtoste Küste, den blassen Himmel über sich. Der Wind fuhr in ihre nassen Kleider und ließ sie frösteln, und doch fühlte Blitz, wie das Blut ihm heiß durch alle Adern rann. Er tastete nach seinem Messer.

»Zum Donnerwetter!«, schrie der Kapitän auf. »Ihr seid es!«

Nun, da sie näherkamen, sah man, dass es mit Sicherheit keine Soldaten waren. Vielmehr handelte es sich um Seeleute wie sie selber, nicht ganz so nass und abgerissen, sondern gut gekleidet und noch besser bewaffnet. Trotzdem waren sie unzweifelhaft vom gleichen Schlag wie die Gestrandeten.

»Das sind die Männer der Greifenklaue«, verriet einer der Piraten Blitz. »Wusste ich’s doch, dass sie vor uns hier sind.«

Die beiden Anführer boxten sich kameradschaftlich in den Bauch und auf die Schultern.

»Suresch, alter Hund! Ich dachte, du bist ertrunken!«

»Wilu, du verdammtes Narbengesicht! Wo hast du deinen Fischkutter gelassen?«

»Fischkutter! Nennt der Kerl die Greifenklaue Fischkutter!«

»Sei froh, dass ich euch nicht Fischfutter nenne!«

Nach der lautstarken Begrüßung nahm die Mannschaft der Greifenklaue die Besatzung der Adlerschwinge mit zu ihrem Lager. Sie wohnten in einem kleinen Dorf in einer stillen Bucht, wo sie ihr Schiff rechtzeitig vor dem Sturm geankert hatten, und obwohl das Unwetter auch hier gewütet und ganze Teile der Küste überflutet hatte, war der Piratensegler unbeschadet davongekommen. Suresch und seine Leute füllten sich die Bäuche und wärmten sich am Herdfeuer. Bedient wurden sie von ängstlich dreinblickenden Dörflern. Die Freibeuter hatten kurzerhand ein ganzes Dorf eingenommen und es zu verhindern gewusst, dass sie jemanden um Hilfe ausschickten.

»König Oka wartet auf die Schiffe aus Velas«, sagte Kapitän Wilu und grinste, während er einen frisch gebratenen Fisch kunstvoll entgrätete. »Da kann er lange warten.«

»Warum sollte Velas Schiffe schicken?«, fragte Blitz verwundert und biss sich sogleich auf die Lippe.

Wilu hob die Brauen und starrte ihn an.

»Was für einen vorlauten Kerl hast du dir denn da aufgegabelt?«, fragte er seinen Kollegen.

Suresch öffnete den Mund, aber da der Kaisergänger ganz sacht den Kopf schüttelte, schloss er ihn wieder, schnitt ein paar Grimassen und seufzte. »Buchstäblich aus dem Meer gefischt. Aber mich würde es auch interessieren. Warum, verdammt noch mal, schicken die Velaner Oka Kriegsschiffe? Velas ist am Ende der Welt und hat mit uns nichts zu schaffen.«

»Außer, dass sie Nachbarn von Sandart sind und seit Jahren darauf warten, dass Zukata sie schluckt?« Wilu lachte dröhnend. »Der arme Oka hat keine Ahnung, dass wir seinen Boten abgefangen haben.« Er beugte sich vor. »Und das Beste kommt noch. Oka wird hierher kommen, um seine Verbündeten zu empfangen. Und nun ratet mal, wer ihm hier einen Empfang bereiten wird.«

Suresch lachte so laut, dass ihm Tränen in die Augen stiegen. Blitz versuchte mitzulachen, aber er konnte nicht, obwohl er sich dessen bewusst war, dass man ihn beobachtete. Natürlich fiel es auf, wenn er als Einziger mit versteinerter Miene dabeisaß.

Wilus Lachen brach ab, er stieß den anderen Kapitän in die Seite und beugte sich vor. »Was ist das für ein Kerl?«, flüsterte er. »Junge, ich habe ja schon viel erlebt, aber der da jagt mir einen Schauer über den Rücken. Er hat nicht einmal gelächelt. Er sieht mich an, als wollte er mir gleich das Messer in die Brust stechen. Du solltest mir besser sagen, wer das ist.«

»Das ist Zukatas Bote«, flüsterte Suresch zurück. »Er hat mir nichts über seinen Auftrag verraten, aber ich glaube, Zukata hat ihn uns geschickt, um diesen Einsatz zu überwachen.«

»Bist du sicher, dass das alles ist?«

Der Kapitän der Adlerschwinge winkte dem Herrn der Greifenklaue, mit nach draußen zu kommen. Sie gingen ein paar Schritte von den Häusern fort. Dort wischte Suresch sich über die Stirn. »Wie wirkt dieser Beny auf dich?«, fragte er. »Höflich und freundlich, aber nicht zu sehr? Wie einer, der Fragen stellt, obwohl er genau weiß, was Sache ist?«

»Worauf willst du hinaus?«, wollte Wilu wissen.

»Er versucht, sich wie ein normaler Matrose zu benehmen, aber das ist er nicht. Die Narben überall auf seinem Körper sprechen eine andere Sprache. Und ich habe gesehen, wie er das Messer hält.«

»Ein Mörder?«, wisperte der Pirat erschrocken.

»Zukata traut uns nicht. Deswegen schickt er uns seinen Kaisergänger.«

»Um Oka zu töten?«

»Und vielleicht nicht nur Oka. Wir dürfen keinen Fehler machen.«

Wilu atmete tief durch. Winzige Schweißtröpfchen standen auf seiner Stirn und sammelten sich über seinen Brauen. »Und wenn wir schneller wären als er?«

»Schneller als ein Meuchelmörder? Vergiss nicht, Zukata selbst hat ihn ausgesucht. Glaubst du, er würde uns einen Stümper schicken?«

»Vielleicht täuschen wir uns. Vielleicht hat er einen ganz anderen Auftrag.«

»Du hast seine Augen gesehen. Der verbirgt etwas. Dieser Mann steckt vom Scheitel bis zur Sohle voller Geheimnisse. Wenn du den für einen einfachen Piraten hältst, bist du gleich verloren.« Ein Schauer durchfuhr ihn. »Seine Augen sind so schwarz wie die Sturmnacht, die wir hinter uns haben. Ich sage dir, das ist ein eiskalter Mörder. Ich hab noch nie so jemanden wie ihn an Bord gehabt. Er sagt, Zukata hat ihm ein Schloss gegeben. Ich dagegen glaube, er bekommt erst noch eins.«

»Okas Schloss? Wenn er ihn getötet hat?«

»Könnte doch sein.«

Wilu knirschte mit den Zähnen. »Wir sollten dieses Königreich kriegen.«

»Wir haben nicht mal das Zeichen! Zukata wird uns nie eine Krone geben, wenn er uns nicht vorher das Zeichen verliehen hat! Aber wenn wir uns aus dieser Sache zurückziehen oder es vermasseln, kann er seinem Bluthund alles anvertrauen. Vielleicht hat Beny die Anweisung, uns beim kleinsten Fehler zu beseitigen? Weißt du’s? So oder so, wir haben keine Wahl. Wir müssen weitermachen. Lass dir bloß nicht anmerken, dass wir wissen, was er ist. Gehen wir zurück.«

Als sie sich zurück zur Hütte wandten, sahen sie den schwarzhaarigen Mann, über den sie gesprochen hatten, an der Tür stehen und ihnen entgegensehen.

»Er weiß es«, flüsterte Wilu bang. »Er weiß, dass wir über ihn reden.«

»Na, Beny?«, fragte Suresch betont munter. »Auch ein wenig frische Luft schnappen?«

»Ganz schön stickig da drinnen«, gab Beny zurück und ließ seinen Blick forschend über sie gleiten, einen Blick, hart und schneidend wie ein Messer.

Sie wussten es. Irgendwie ahnten sie, dass er nicht der war, der er vorgab zu sein. Blitz wunderte sich nur, dass sie ihn weiterhin in Ruhe ließen und ihn nicht einfach packten und umbrachten. Vielleicht waren sie sich doch nicht ganz sicher, anders war ihre Zurückhaltung nicht zu erklären. Das Klügste war es, sich einfach aus dem Staub zu machen, bevor irgendwann einer aus Zukatas alter Bande hier auftauchte und ihnen mitteilte, dass der angebliche Beny in Wirklichkeit Blitz hieß und sie den Todfeind des Kaisers mit gebratenem Fisch, schlechtem Wein und wertvollen Informationen versorgten.

Blitz wartete in der Hütte, in der er untergebracht war, bis die Piraten nach und nach einschliefen. Endlich wurde die vom Alkohol beflügelte Prahlerei von lautem Schnarchen abgelöst. Er selbst hatte nur wenig getrunken. Damit man ihn nicht für ein Weichei hielt, hatte er allerdings vortäuschen müssen, dass er mithalten konnte. Unauffällig leerte er seinen Becher unter den Tisch, wo der Wein von den Binsen aufgesogen wurde; der säuerliche Gestank fiel in dem übelriechenden Raum mit Sicherheit nicht auf. Zum Glück hatte er nicht dort schlafen müssen, sondern hatte sich ein paar Piraten angeschlossen, die ein weiter draußen stehendes Fischerhaus wählten.

Nun schliefen sie. Vielleicht träumten sie vom Sturm, denn einer wimmerte wie ein kleines Kind, das unter Albträumen litt. Blitz war schon halb zur Tür hinaus, als ihn ein heiserer Schrei zusammenzucken ließ. Auf leisen Sohlen huschte er zu der Bank, auf der einer der Schläfer sich unruhig hin und herwälzte, und fasste ihn an der Schulter.

»He!«, flüsterte er. »Du träumst! Weck hier nicht alle!«

»Ich ertrinke«, stöhnte der Mann. »Überall Wasser, Wasser! Ich ertrinke!«

»Nein, tust du nicht. Du liegst hier im Haus. Du bist nicht auf dem Schiff.«

Gefangen in seinem Traum, umklammerte der Pirat Blitz’ Hand. »Rette mich! Zieh mich raus! Ich ertrinke!« Er ertastete einen Ärmel, krallte sich darin fest und ließ sich nicht abschütteln. »Ich ertrinke!«

»Nein, du träumst!« Aber der Arimer kannte dieses Gefühl. Wenn einem bewusst wurde, dass man nicht nur mit den Füßen keinen Grund mehr erreichen konnte, sondern dass das schwarze Wasser so tief war, dass jegliche Vorstellungskraft versagte. So hoch der Himmel reichte, so weit ging es hinunter ins Dunkle. Und dieses Wasser kam von allen Seiten, um einen mit sich zu ziehen, unerbittlich, hinunter in diese Nacht, die man nicht kennenlernen wollte, und man wusste, dies ist die Stunde. Jetzt. Jetzt passiert es, jetzt bist du dran. Noch nicht. Dein Schrei, immer wieder: Noch nicht. Bitte noch nicht. Und es passiert doch.

Blitz umfasste die hilfesuchende Hand des träumenden Piraten mit beiden Händen. »Ja«, sagte er. »Jetzt geschieht es. Hör auf zu schreien. Wehr dich nicht. Lass das Brett los. Lass alles los.«

»Wasser, überall …«

Der Albtraum des Seemannes. Jedes Matrosen. Kein Freibeuter hatte Angst davor, im Kampf zu sterben, beim Entern eines anderen Schiffes, von einem Gegner geschlagen, der stärker war als erwartet. Dies war das Einzige, was sie fürchteten: den dunklen Abgrund, der sich unter den blauen, spielerisch zuschnappenden Wellen verbarg.

»Lass los«, befahl er. »Und halt nicht die Luft an. Lass dich sinken. Noch tiefer, in einen anderen Traum. Und da ist die Hand, unter dir, eine große Hand, die dich auffängt. Kannst du es spüren? Eine Hand, größer als ein Schiff?«

»Da ist keine Hand«, murmelte der Pirat.

»Doch, sie ist da. Fühlst du sie nicht? Lass dich sinken. Da ist sie. Sie hält dich fest. Das Wasser ist nicht schwarz, sondern blau. Siehst du die Hand jetzt, genau unter dir?«

»Da ist … nichts … nichts.« Der Träumende entließ Blitz aus seinem Griff. Seine Hände fielen herab, sein Kopf neigte sich zur Seite, der Atem wurde schwerer, tiefer.

Der Arimer richtete sich auf und schlich zur Tür. Jetzt schliefen sie alle.

Draußen warf der Mond sein Licht auf die Bucht und verwandelte die See in glitzerndes Silber. Er lächelte, als eine kühle Brise ihm das Haar aus der Stirn strich. Die Greifenklaue schien auf ihn zu warten, ihn zu einer geheimnisvollen Reise einzuladen. Mein Schiff nach Rinland … Mit eisigen Fingern fasste eine Windböe unter sein Hemd. Blitz fröstelte. Nein, die Greifenklaue war bestimmt nicht das Schiff, das ihn der verlorenen Weißen Möwe hinterher bringen würde. Wie mit weißen Schwingen waren seine Freunde Lexan, Jußait und Bajad nach Rinland gesegelt. Die Adlerschwinge. Ja, das würde schon besser passen!

Ruhig, als würde er nicht seine Flucht planen, die ihn vor skrupellosen Verbrechern in Sicherheit brachte, betrachtete er den felsigen Strand und hörte auf das unermüdliche Rauschen und Raunen des Meeres. Nur keine Eile zeigen. Tu, als wäre es dein Recht, hier zu stehen. Sie hatten garantiert Wachen aufgestellt, und auf nichts reagierten diese empfindlicher als auf verdächtiges Herumschleichen.

Da kam der Posten schon! Blitz wollte ihm gerade einen Gruß zurufen, als er sah, dass derjenige auf die Hütte zuhielt. Geduckt wie ein Mörder im Dunkeln. Er war so auf sein Ziel fixiert, dass er den anderen Mann, der wenige Schritte von ihm entfernt stand, nicht bemerkte.

Was schlich der Kerl hier herum? Der ehemalige Amazonenschüler erkannte sofort, was vor ihm im Mondlicht aufblitzte. Ein langer Dolch. Also wussten sie doch, dass er sie belogen hatte, und nun war der Zeitpunkt gekommen, an dem sie ihn töten wollten. Heimlich und hinterrücks. So waren diese Halunken, aber sein Stil war das nicht. Auch wenn er den Attentäter wahrscheinlich mit einem Überraschungsangriff hätte erledigen können, kam das für ihn nicht in Frage. Dann lieber einen richtigen Kampf, Mann gegen Mann, trotz des ungewissen Ausgangs. Nach seiner langen Gefangenschaft war Blitz aus der Übung, was das Kämpfen anbelangte – das letzte Mal hatte er gegen die Männer gestritten, die seinen Sohn Sorayn umbringen wollten.

»Was für eine schöne Nacht, Kapitän Wilu.«

Der Angesprochene fuhr herum und japste erschrocken. Er sog so heftig die Luft ein, dass es sich anhörte, als würde er gleich ersticken.

»Nein, das ist … es sieht nur so aus, es ist nicht …«

»Wie sieht es denn aus, wenn jemand mitten in der Nacht zu der Hütte schleicht, in der ich schlafe?«

Merkwürdigerweise blieb Blitz ganz ruhig. Sein Herz schlug ein klein wenig schneller, aber er hatte keine Angst. »Warum willst du mich töten, Kapitän Wilu?«

»Oh nein, nein«, beteuerte der Pirat, mit einer Stimme, die in ein leises Winseln überging. »Ich wollte über dir wachen, bevor Suresch … Nein, ich …« Und dann sank er erstaunlicherweise auf die Knie. »Dein treuer Diener. Nur lass mich am Leben, bitte!«

»Warum sollte ich dich am Leben lassen?«

»Bitte, ich kann dir noch nützlich sein! Ich kann dafür sorgen, dass Oka in deine Hände fällt und dir niemand in die Quere kommt. Wenn du es wünschst, ist die Krone dein. Ich kann dafür sorgen, dass Suresch … über Suresch musst du dir keine Gedanken machen!«

»Warum sollte ich mir über Suresch Gedanken machen?«, fragte Blitz, der einfach die Stichworte aufgriff, die ihm geliefert wurden. Er war weit davon entfernt, diese seltsame Situation zu durchschauen.

»Ich glaube, er hat genau das geplant«, wisperte der Seeräuberkapitän. »Dass ich dich angreife und dafür mit dem Leben bezahle. Hat er dich gewarnt, Herr? Nein, ich weiß, niemand muss dich warnen. Du bist wie der Wind, der durch unsere Köpfe fährt. Aber erlaube mir … Wenn Suresch wollte, dass ich sterbe, dann hofft er darauf, dass du ihm den Thron überlässt. Dass du ihm Wenz gibst. Aber wenn es für dich ist … Ich bin auf deiner Seite, Herr. Ich kämpfe für dich. Ich bin nicht so töricht wie Suresch, glaub mir, solche Spielchen spiele ich nicht mit.«

Blitz hielt es nicht für nötig, den Mann daran zu erinnern, dass er hier mit einem Dolch stand, um ihn zu ermorden. Sie dachten also, dass Zukata ihn geschickt hatte, um Okas Rebellion zu ersticken, den König zu töten und den Richtigen für den Thron auszuwählen. Natürlich hielt jeder der beiden Piratenkapitäne sich selbst für den Richtigen. Offenbar hatte Suresch gehofft, in dieser Nacht einen seiner Gegenspieler loszuwerden – entweder den angeblichen Kaisergänger Beny oder seinen guten Kumpel Wilu. Spekulierte er wirklich darauf, dass eines Tages ein trinkfester König namens Suresch den widerspenstigen Oka ersetzte?

Der Gedanke an den König von Wenz war für Blitz mit einer Reihe unguter Erinnerungen verbunden. Oka. Damals ein junger, bärtiger Mann, dem er die Tochter aus den Armen gerissen hatte, ein kleines, verschrecktes Mädchen. In jener Stunde war ein König geboren, der niemals vor Zukata den Kopf beugen würde, der immer gegen ihn kämpfen würde, bis zum letzten Atemzug.

Möglicherweise war doch nicht der richtige Zeitpunkt, um zu fliehen. Er konnte die Chance nutzen, eine alte Schuld abzutragen. Kein dreckiger Pirat sollte diesen aufrechten Herrscher in die Hände bekommen.

»Wann wird der König hier eintreffen?«, fragte er.

»Seine Späher werden unsere Schiffe einlaufen sehen«, gab Wilu zur Antwort. »Wir warten noch auf die anderen, damit wir ihm eine eindrucksvolle Flotte präsentieren können.«

»Die Löwenbiss

Der Freibeuter nickte. »Die wird in Kürze hier eintreffen, sie kommt aus Sandart. Wir werden die Flagge von Velas über dem Mast wehen lassen. Oka wird uns genau in die Arme laufen.« Er zögerte. »Was befiehlst du, Herr? Willst du ihn befragen?«

»Ja, unbedingt.« Der Arimer nutzte die Macht, die ihm hier zufiel, sofort aus. »Dem Rebell soll kein Haar gekrümmt werden, bevor ich nicht mit ihm …«, er machte eine unheilvolle Pause, »… gesprochen habe.«

»Ich möchte nicht in seiner Haut stecken.« Der Pirat wagte ein vorsichtiges Grinsen.

»Ich fürchte, er wird sich über unsere Unterredung nicht halb so sehr freuen, wie ich es mir wünsche«, umschrieb Blitz seine Befürchtung und lächelte voller Bedauern.

Sein Gegenüber missverstand dieses Lächeln, stolperte von Grauen gepackt rückwärts und hastete fort.

»Oka wird in ein Schiff steigen und den Gästen entgegenfahren«, erklärte Kapitän Wilu. Nervös streiften seine Augen den unheimlichen Kaisergänger und seinen Rivalen Suresch, aber genauso schnell zog er seinen Blick auch wieder zurück. »Den vermeintlichen Gästen. Und dann kommen wir mit unseren Schiffen und schneiden ihm den Rückweg ab. Wir nehmen ihn in die Zange und entern sein Schiff!« Beifallheischend sah er sich um.

»Warum sollte König Oka das tun?«, fragte Blitz. »Er könnte die Velaner genauso gut am Ufer erwarten.«

»Könnte er wohl, wird er aber nicht. In seiner Antwort bat ihn der König von Velas, an Bord zu kommen und dort die Verträge zu besiegeln.«

»Wie konnte er denn antworten, wenn er die Nachricht gar nicht erhalten hat?«

Wilu grinste selbstgefällig. »Man braucht nur einen Mann, der schreiben kann. Oka hat es geschluckt. Warum sollte er nicht? Seit einigen Wochen schon halten seine Späher Ausschau. Wir mussten so lange warten, wie Velas brauchen würde, um eine Kriegsflotte zusammenzustellen. Außerdem dauerte es eine Weile, alle Piratenschiffe von Deret-Aif hier zu versammeln. Die Stürme werden immer schlimmer. Die Adlerschwinge ist nicht das einzige Schiff, das repariert werden muss, andere sind gar nicht erst angekommen.«

»Sehr viel Aufwand, um einen einzigen Mann zu töten«, bemerkte Blitz. Ihm entging nicht, wie die beiden sich ansahen.

»Das ist uns schon klar«, gab der Kapitän der Greifenklaue zu. »Aber Wenz ist kein Königreich, das einfach einzunehmen ist. Im Gebirge gibt es unzählige Höhlen. Dann die vielen Schluchten und Täler und der Schnee …«

»Ihr wisst also nicht, wo der König sich aufhält. Wie konntet ihr ihm dann die gefälschte Nachricht zustellen?«

»Wir wussten, wem wir sie überreichen mussten.« Wilu platzte fast vor Stolz über seine Genialität. »Natürlich haben wir versucht, dem Überbringer zu folgen, aber wir haben ihn verloren. Wir sind Piraten, Herr, keine Spione. Wir kämpfen lieber auf dem Meer, als dass wir auf Felsen herumklettern.«

»Und auf dem Weg zur Küste? Da könnte man ihn überfallen.«

»Mit dem Risiko, dass er entkommt und wieder in eine seiner Höhlen schlüpft? Er ist von den Bergen heruntergestiegen. Sein Lager ist groß. Wir könnten es angreifen, doch selbst wenn wir ihn überraschen, besteht die Gefahr, dass Oka uns entwischt. Aber wenn er erst auf dem Schiff ist, wohin will er dann fliehen? Auf See haben wir die Oberhand. Wir erledigen nicht nur den König, sondern alle seine Würdenträger, die ihn begleiten.« Er grinste breit und wiederholte: »Wir sind Piraten.«

Blitz versuchte fieberhaft, eine Schwachstelle in dem perfiden Plan zu entdecken, die es König Oka ermöglichte, Zukatas Gesindel zu entkommen.

»Ich will mit ihm sprechen, bevor er auf sein Schiff geht.« Er sah erst Wilu und dann Suresch in die Augen, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen.

»Aber wir dachten … auf dem Schiff. Du kannst ihn befragen, wenn wir sein Schiff geentert haben, Herr.«

»Habt ihr überhaupt eine Ahnung, worum es hier geht?«, fragte Blitz mit gefährlich leiser Stimme. »Glaubt ihr wirklich, es geht nur um Oka? Was ist, wenn er bereits einen Nachfolger ernannt hat, dem die Leute folgen werden, wenn er nicht wiederkommt? Wir sind nicht hier, um einen König zu töten, sondern um sicherzustellen, dass sich dieses Königreich in die Ordnung des Kaiserreichs einfügt. Ich muss mit Oka reden, bevor er seinen Fuß auf das Schiff setzt. Was er weiß, ist viel wichtiger als sein Tod. Glaubt ihr, Zukata hätte mich hergeschickt, wenn es nur darum ginge, einem alten Mann den Schädel einzuschlagen?«

»Aber wenn du mit ihm geredet hast, geht er nicht mehr auf das Schiff!«, wagte Suresch einzuwenden. »Und überhaupt, wie willst du an ihn herankommen? Er wird mit großem Gefolge an die Küste kommen. Auf dem Meer werden wir ihn schlagen. Hier an Land brauchten wir ein viel größeres Heer.«

Sie sahen ihn fast angstvoll an. Blitz war es nicht gewöhnt, die Macht eines Kaisergängers tatsächlich auszuüben. Sie würden seinen Befehlen folgen, aber nur, solange sie ihren eigenen Gewinn nicht gänzlich schwinden sahen. Wenn er es zu weit trieb, würden sie mit Sicherheit noch einmal versuchen, ihn umzubringen.

»Kein Kampf an Land, darin stimme ich euch zu«, sagte er schnell. »Es muss alles genau so ablaufen, wie ihr es mit den anderen Piraten besprochen habt. Ich werde mich ganz unauffällig in Okas Lager schleichen. Und glaubt mir, es gibt Mittel, eine Befragung so durchzuführen, dass derjenige später nichts mehr davon weiß.«

Hatte er jetzt nicht doch zu dick aufgetragen? Aber an ihrer Reaktion merkte er, dass sie ihm noch viel mehr zutrauten. Wilu war blass geworden, Suresch betrachtete eingehend seine schwarzen Fingernägel. Seinem Blick wichen sie aus. Wofür hielten ihn die beiden Kapitäne? Für einen Folterer, einen Henkersknecht? Kein vernünftiger Mensch würde einem derart riskanten Vorhaben zustimmen. Aber die Piraten trauten sich nicht, dem gefährlichen Kaisergänger zu widersprechen.

»Er wird auf das Schiff gehen, ohne zu ahnen, was ihn erwartet«, versprach Blitz. »Und in die Falle tappen. Dann werdet ihr ihm zeigen, wer über das Meer herrscht. Doch nun weist mir den Weg zu Okas Lager.«

Der aufmüpfige König musste sich tatsächlich sicher sein, dass seine Verbündeten in Kürze eintrafen. Die Zelte, von den Wenzern zwischen den Ausläufern der Berge errichtet, weniger als eine Tagesreise vom Hafen entfernt, waren nicht so zahlreich, wie Blitz erwartet hatte. Das Gelände dahinter war dermaßen zerklüftet, dass es geradezu zum Verstecken einlud. Kein Angreifer konnte hier ein Gefecht bis zum bitteren Ende erzwingen.

Die drei Beobachter duckten sich hinter die kleineren Felsen auf der Seeseite.

»Und wenn …«, begann Wilu, aber der Arimer sah ihn nur an, und da sagte der Pirat etwas anderes als das, was ihm zuerst auf der Zunge gelegen hatte. »Ja, Herr. Tu, was immer du tun musst.« Und etwas leiser fügte er hinzu: »Wie viele von deiner Sorte hat der Kaiser in seinen Diensten?«

»Du meinst, wen er als Nächstes schicken wird, falls ich versage?« Blitz lächelte, obwohl ihm alles andere als zum Lachen war. Entgegen seiner prahlerischen Ankündigungen hatte er keine Ahnung, wie er unbeschadet zu König Oka vordringen sollte. »Glaub mir, für jemanden wie mich gibt es kein Versagen.« Nur den Tod durch Okas Männer. Nur eine einzige Gelegenheit, um eine alte Schuld abzutragen. Nur diesen einen Versuch. Aber Versagen? Alles, was sonst noch passieren konnte, lag in Rins Hand.

Wilu beeindruckte dieses großspurige Versprechen sehr. Er nickte und zog sich vorsichtig zurück.

»Wartet nicht auf mich«, lautete die Anweisung. »Greift nicht ein, wenn ich nicht wiederkomme. Vielleicht, wenn alles gut geht, bleibe ich bei ihm und führe ihn eigenhändig auf das Schiff.«

Dass er sich nicht fürchtete, beeindruckte die Piraten wohl am meisten.

»Allein unter Feinden«, murmelte Suresch. »Und wenn sie es merken? Und wenn sie Zukatas Zeichen entdecken?«

»Allein unter Feinden«, wiederholte Blitz grimmig. »Was auch geschieht, bleibt bei unserem Plan.«

Seine Begleiter zogen sich zurück. Sobald er auf sich gestellt war und niemandem mehr etwas vormachen musste, überrollte ihn die Angst. Jetzt spürte er auch die Kälte. Der Stein, hinter dem er kauerte, war kalt wie ein Eisblock. Schnee bedeckte die Hänge, die letzten weißen Tupfer reichten fast bis hinunter zu den Zelten. Heimeliger Rauch drang aus den Abzügen. Ein paar dunkel gekleidete Gestalten wanderten umher. Für ein warmes Plätzchen am Feuer hätte er bald alles gegeben, aber einfach ins Lager zu marschieren und ein Gespräch mit Oka zu fordern, war Selbstmord. Überdies zweifelte er nicht daran, dass die Piraten weiterhin alles beobachteten. Den Aufruhr über eine Gefangennahme würden sie mitbekommen, und was sie dann tun würden, war nicht abzusehen.

Seine Hände und Füße waren taub, als Blitz sich schließlich dazu durchrang, sich näher an die Wenzer heranzutasten. Die überall verstreuten Steinbrocken boten etwas Deckung, aber nicht viel. Das Lager war klug ausgewählt; im Hintergrund die schützenden, schnell zu erreichenden Berge, nach vorne hin lief das Gelände flach aus und war gut zu überblicken. Blitz hoffte, dass er für die scharfen Augen der Wächter unsichtbar blieb, wenn er sich nur vorsichtig genug bewegte. Genauso gut konnte es aber sein, dass sie ihn schon längst entdeckt hatten und gelassen darauf warteten, dass er so nah herankam, dass sie ihn mühelos ergreifen konnten.

Auf dem Bauch vorwärts zu robben, war in dieser Kälte erbärmlich schwer. Der feine Rauch des Lagers lockte ihn unwiderstehlich weiter. Seine Zähne klapperten. Dann hörte er die Pferde schnauben. Jetzt erst bemerkte er sie, da sie auf der kargen Weide hinter den Zelten grasten. Die Piraten hatten nichts davon gesagt, dass die Wenzer Tiere dabei hatten, die ihn verraten konnten, aber er hätte daran denken müssen. Wusste er nicht, dass Oka die schönsten Rösser des Königreichs züchtete? Niemals würde er den schwarzen Hengst vergessen, der ihn einen Teil der Flucht mit Manina begleitet hatte. Vorsichtig hob Blitz den Kopf und versuchte, die kleine Herde zu zählen. Doch die dunklen Leiber verschmolzen fast mit den Felsen und dem dürren Gestrüpp dazwischen. Einmal noch ein solches Pferd reiten! Zu wissen, wie schnell ihn die langen Beine tragen würden, weit, weit fort von allen Feinden und allen Pflichten. Frei durchs Kaiserreich zu streifen, so wie er es als Junge erträumt hatte, zusammen mit Mino … Blitz fühlte kaum noch, wie die Kälte sich in seinem Körper ausbreitete. Er würde reiten, so schnell wie der Wind. Niemand erwartete von ihm, dass er einem König gegenübertrat, der ihn hasste. Niemand …

»Steh auf!«

Niemand außer Rin. Rin, der Unerbittliche. Der ihn antrieb wie ein Reiter ein lahmes und müdes Pferd. Der ihn vorwärts trieb, immer weiter voran, der ihn niemals in Ruhe ließ …

»Na los, wird’s bald.«

Jemand riss ihn hoch. Männer in Umhängen aus schwarzem Pelz. Glänzend und dick und weich. Er starrte auf die Felle und dann in ihre von struppigen Bärten gespickten Gesichter.

»Bringt mich zu König Oka.« Seine Zähne klapperten, sein Kiefer ließ sich kaum bewegen. »Leise. Unauffällig. Ich …«

»Keine Sorge«, zischte einer der Wächter. »Wir machen bestimmt kein großes Getue darum, dass wir einen von Zukatas Spionen gefangen haben. Einen seiner Piraten, die sich hier herumtreiben.«

Sie schleiften ihn mit. Blitz konnte jedoch nur Dankbarkeit empfinden, als sie ihn in eins der dunklen Zelte stießen. Eine Schale glühender Kohlen erfüllte den Raum mit Wärme und Licht. Er streckte die Hände danach aus, aber jemand warf ihn rücklings zu Boden. Über ihm bleckten zwei große wilde Gesellen die Zähne.

»Einer der Spione. Na endlich. Wir wussten, dass ihr hier seid. Aber jetzt drehen wir den Spieß einmal um. Nun wirst du uns ein paar Auskünfte geben.«

»Du wirst uns mit Freuden alles sagen, was du weißt!«, kündigte der zweite Wenzer mit einem gehässigen Lächeln an.

Blitz schloss für einen Moment die Augen. »Ich bin kein Pirat«, sagte er nur. Er atmete die Wärme, das goldene Licht. Wenn er nur seine Füße ein wenig näher heranhalten durfte … Er beugte sich nach vorne und begann seine Stiefel aufzuschnüren. Seine Zehen waren rot, aber noch nicht so dunkel, dass er Grund zur Sorge gehabt hätte. Die Schmerzen nahmen ihn völlig gefangen, als es in ihnen zu kribbeln begann.

»Wir sollten ihm die Füße gleich ganz ins Feuer halten«, sagte der eine Wächter.

»Macht doch«, sagte Blitz ungerührt. Er widmete sich völlig der Wärme. »Habt ihr vielleicht etwas Heißes zu trinken? Dafür wäre ich dankbar.«

Die beiden grimmigen Kerle sahen ihm fassungslos zu.

Schließlich steckte der eine den Kopf durch die überlappenden Stoffbahnen am Ausgang und rief etwas; es klang beinahe, als würde er um Hilfe schreien.

Als wenig später ein dritter Wenzer das Zelt betrat, widmete Blitz sich immer noch seinen Füßen. »Habt ihr mir wirklich etwas gebracht?«, fragte er erfreut.

Sein Blick fiel leider nicht auf eine Magd mit einem Krug dampfender Brühe.

Ein Mann, der, als er die Kapuze zurückschlug, einen haarlosen Schädel entblößte. Sein Gesicht zierte ein kurz gehaltener grauer Bart. Kein Schmuck, keine ausgefallene Kleidung hob den neu Eingetretenen von den anderen ab, aber Blitz erkannte ihn sofort.

»Unverschämt und merkwürdig, dieser Gefangene«, sagte der Wächter, der Blitz Folter angedroht hatte. »Zieht sich hier die Schuhe aus, als wäre er zu Hause. Er behauptet, er sei kein Pirat.«

»Das ist auch kein Pirat«, bestätigte der König.

Blitz stellte seine Stiefel zur Seite und kniete nieder. Nicht die Demut vor dem Rang eines Monarchen trieb ihn dazu. Es war vielmehr die Entschuldigung für eine vor vielen Jahren begangene Tat, für einen Tag, an dem er ein kleines Mädchen gepackt und aus einer Kutsche gezerrt hatte.

»Du wagst es, herzukommen und mir unter die Augen zu treten?«, fragte Oka mit vor Zorn zitternder Stimme.

»Ihr kennt ihn?«, fragte einer der Wenzer alarmiert.

»Raus. Ich will allein mit ihm reden«, befahl der König.

»Aber Herr!«, protestierten seine Getreuen. »Er könnte einer von Zukatas Verbrechern sein, er …«

»Genau das ist er. Lasst uns allein.«

Blitz kniete immer noch, als die Wächter das Zelt verlassen hatten. Er hörte sie dicht vor dem Eingang leise reden, vielleicht damit er nicht vergaß, dass ihr Anführer nicht schutzlos war.

»Du brauchst nicht zu knien«, sagte Oka. »Wir wissen beide, das ist nichts als eine Farce. Beleidige mich nicht, indem du tust, als würdest du mir Respekt erweisen.«

»Es tut mir leid.«

»Was? Du kommst her, um mich zu ermorden, und bittest mich um Verzeihung?«

Der König hob die Brauen. In seinem Gesicht war nur Zorn zu lesen, keine Angst.

»Ich bin nicht hier, um Euch etwas anzutun, sondern um Euer Leben zu retten.«

»Hast du nicht aus demselben Grund damals meine Tochter in Zukatas Arme gelegt? Um Blutvergießen zu verhindern?«

Von diesem edlen Mann verachtet zu werden, war schwer zu ertragen, und mehr noch das Wissen, diese Geringschätzung zu verdienen.

Im Palast von Kirifas, vor mehr als zwanzig Jahren, hatte Blitz schon einmal versucht, sich bei König Oka zu entschuldigen. Aber er hatte nicht die richtigen Worte gefunden. Vielleicht gab es sie auch nicht, die richtigen Worte, und er war nur hergekommen, um seine Strafe zu empfangen. Dann würde Oka sterben. Mitsamt seiner Rebellion.

»Ich bin nicht Zukatas Mann«, widersprach der Arimer. »Ihr wisst, dass ich Kanuna gedient habe und Manina. Vielleicht habt Ihr auch davon gehört, dass Zukata einen Preis auf meinen Kopf ausgesetzt hatte.«

»Bist du deshalb hier? Um dir die Anerkennung dieses Räubers zu erkämpfen? Das wäre ja nicht das erste Mal.«

Blitz konnte nicht länger knien, seine Beine schmerzten zu sehr. Mühsam suchte er sich eine bequemere Stellung und zog ein paar Kissen näher an die Glut heran. »Möchtet Ihr Euch nicht setzen?«

Ein ungläubiger Ausdruck zog über Okas Gesicht, als der gefangene Spion ihm wie ein Gastgeber einen Platz anbot. Vielleicht war es das Erstaunen über diese Dreistigkeit, was ihn dazu brachte, sich tatsächlich gegenüber seinem Feind am Feuer niederzulassen.

»Ich würde Euch etwas anbieten, wenn ich könnte«, meinte der jüngere Mann, dem immer noch recht kalt war.

In den Augen des Königs funkelte etwas auf, aber dann bellte er einen kurzen Befehl in Richtung Ausgang.

»Ich diene keinem Kaiser und keinem König.«

»Ach. Dann bist du also frei?« Oka schüttelte den Kopf. »Was hast du vor? Willst du dich hier anbiedern und deinen letzten Unterschlupf in Wenz finden? Und mich dann, wenn du merkst, dass die Sache nicht so gut ausgeht wie gehofft, doch noch verraten? Ich dulde niemanden in meiner Nähe, der jemals für Zukata gearbeitet hat.«

»Ich bin nicht frei.«

»Wem dienst du dann? Dir selber? Dem Angebot, das dir am verlockendsten erscheint? Ein käuflicher Diener, Verräter an allem und jedem? Ich habe keinen Bedarf an so einem.«

»Ich diene Rin«, sagte Blitz und senkte dabei den Blick, denn es schien ihm vermessen, es auszusprechen, als meldete er damit einen Anspruch an, den unmöglich jemand erfüllen konnte.

»Du dienst Rin?«, wiederholte der König und stieß ein gequältes Lachen aus. »Was willst du sein, ein Priester? Und was tust du dann hier? Was schleichst du um unser Lager herum? Warum trägst du ein Messer an deinem Gürtel?« Er beugte sich vor. »Du bist gekommen, um mich zu töten. Ich weiß das, also rede keinen Unsinn. Menschen nach Rinland zu schicken, macht dich nicht zu einem Diener Rins. Du bist hier und ich bin hier und wir sind allein. Aber lass dir gesagt sein: Wahrscheinlich erscheint es dir im Moment sehr einfach, mich umzubringen. Vielleicht wunderst du dich, warum ich mich nicht fürchte und meine Wachen hinausgeschickt habe. Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass Zukata einen Attentäter herschickt. Gut zu wissen, dass er endlich da ist. Und ihm in die Augen zu sehen.«

In diesem Moment wurde die Klappe am Eingang geöffnet und eine hübsche junge Frau mit einer schweren Kanne und zwei Bechern trat ein. Ohne nachzudenken sprang der Gefangene auf, um ihr zu helfen. Gleichzeitig fuhr der König hoch und packte ihn am Handgelenk.

Das Mädchen zuckte erschrocken zusammen.

Oka starrte auf Blitz’ Hände. »Kein Messer? Na gut.« Er seufzte und ließ ihn los, und der wohlerzogene Arimer nahm dem Mädchen freundlich nickend die Kanne ab, stellte sie auf einen Stein in der Nähe der Feuerstelle und nahm auch die beiden Trinkgefäße dankend entgegen. Die Wenzerin sah verwirrt von einem zum anderen und verließ wieder das Zelt.

Oka hatte sich wieder gesetzt. Stumm sah er zu, wie sein alter Feind ihnen beiden eingoss.

»Du willst mich also wirklich nicht töten«, stellte der König fest. Er sagte es, als wäre es etwas, das ihm äußerst unangenehm war.

»War das Eure Tochter? Sie ist hier nicht sicher.«

»Niemand ist irgendwo in Sicherheit, solange Zukata Kaiser ist.«

Oka nippte an seinem Becher und starrte Blitz an, als könnte er in dem Gesicht seines seltsamen Besuchers erkennen, was er wissen wollte.

Diesmal wich Blitz dem funkelnden Blick des Königs nicht aus. Die schwarzen Augen und die meeresgrauen trugen ein Duell aus, in dem keiner der beiden Kontrahenten aufgab und die Waffen streckte. Lange und ernst schauten sie sich an. Sie beide kannten keine Furcht, sie beide schraken vor der Wahrheit nicht zurück. Doch schließlich geschah etwas in Okas Gesicht. Er schüttelte den Kopf und knurrte: »Ich werde dir nie verzeihen, was du getan hast.«

»Ich bin nicht gekommen, um Eure Verzeihung zu erlangen«, sagte Blitz. »Ich bin hier, um Euer Leben zu retten.«

»Mein Leben wird in Gefahr sein, solange ich gegen Zukata kämpfe. Und damit werde ich nicht aufhören, solange ich atme.«

»Steigt nicht auf das Schiff, Majestät.«

Der Rebell runzelte die Stirn. »Was weißt du von dem Schiff?«

»Es ist eine Falle. Die Flotte, die Ihr in Kürze sichten werdet, kommt nicht aus Velas. Es sind Piraten. Lasst Euch von ihrer Flagge nicht täuschen. Sobald Ihr ihnen entgegenfahrt, werden sich weitere Seeräuberschiffe von der Küste aus in Bewegung setzen. Man wird Euch einkreisen und entern.«

Ein feines Lächeln umspielte die Lippen des Königs. »Und woher weißt du das, wo du doch weder Zukata noch sonst jemandem dienst?«

»Von Kapitän Wilu und Kapitän Suresch natürlich«, verriet Blitz.

»Was willst du für diese Information?«

»Ich bin nicht hier, um etwas zu verkaufen.« Er probierte das Getränk, das durch die Becherwand hindurch seine Hände wärmte. Es war Tee. Heißer, würziger, duftender Tee. Er rann stark und bitter seine Kehle hinunter, unendlich wohltuend. Fast hätte der Arimer hinzugefügt: mit einem Platz am Feuer und dieser Bewirtung habt Ihr mich schon genug bezahlt. Aber da war dieses Lächeln …

»Habt Ihr das etwa schon gewusst?«, fragte er.

»Nein«, entgegnete Oka und lächelte immer noch so rätselhaft, dass einfach mehr dahinterstecken musste als die Freude darüber, knapp dem Tod entkommen zu sein. »Oh nein, das wusste ich nicht.«

»Habt Ihr nicht gehört? Die Hilfe wird nicht kommen. Ihr dürft nicht fahren. Ihr müsst zurück in Eure Berge.«

»Du bist also hier, um mir zu sagen, was ich tun soll?«

Blitz’ Gedanken wirbelten durcheinander wie Wellen, über denen der Sturm aufzog, ein kreiselnder, wütender Wirbelsturm. König Oka rechnete trotzdem mit seinen Verbündeten. Er konnte das gar nicht verbergen. Etwas betroffen hatte er bei der Nachricht dreingeblickt, aber anscheinend nur, um einen kurzen Entschluss zu fassen, der ihm Freude bereitete. Vorfreude – worauf? Auf den Sieg?

»Ihr denkt, sie kommen doch? Aber die Velaner wissen nichts von Eurer Not. Euer Bote wurde abgefangen, die Antwort war eine Fälschung. Oder … Sagt nicht, Ihr habt zwei Boten ausgesandt!«

König Oka schwenkte seinen Tee sacht hin und her und betrachtete nachdenklich die spiegelnde Flüssigkeit. »Klüger wäre es gewesen, du hättest das, was du denkst, nicht ausgesprochen.«

»Sie sind wirklich unterwegs?«, rief Blitz begeistert. Die Drohung ignorierte er vorerst lieber. »Eure Verbündeten aus Velas? Das heißt, die Piraten werden zwischen ihnen und Euch eingeschlossen sein. Auch wenn Ihr zusätzlich von hinten angegriffen werdet, könnt Ihr sie mit der Übermacht Eurer Schiffe aufreiben!« Er hob die Hand, um dem schlauen Rebellenanführer zuzuprosten. Und wunderte sich, dass der Becher aus seinen Fingern glitt, dass er nicht die Kraft aufbrachte, ihn festzuhalten …

Der Thron des Riesenkaisers

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