Читать книгу Die Sprechpuppe - Leo Frank-Maier - Страница 10

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Chefinspektor Marcel Trudeau war jetzt fast fünfzig und davon dreißig Jahre bei der Polizei, man sah es ihm an. Seit vier Monaten waren alle seine Untergebenen oder Mitarbeiter, sogar sein Chef, sehr nett und rücksichtsvoll zu ihm. Alle wußten, daß ihn seine Frau verlassen hatte. Obwohl er selber zu niemanden darüber sprach. Und wenn er jetzt manchmal unrasiert und mit einem nicht ganz frischen Hemd im Büro erschien, machte niemand Bemerkungen darüber. Die meisten seiner Inspektoren waren vor zwei Jahren bei seiner Hochzeit gewesen, sie kannten Simone, seine Frau. Und alle hatten ja schon damals gewußt, daß das nicht gut gehen würde. Der Altersunterschied war zu groß, und auch ein Chefinspektor vom Format Trudeaus verdiente bei der Pariser Polizei schließlich kein Vermögen. Man konnte es Simone ja ansehen, daß sie nicht nur hübsch, sondern auch teuer war.

Als Trudeau an diesem Morgen ins Büro kam, mit einer Stunde Verspätung und einer fleckigen Krawatte, stellte seine Sekretärin sofort das Kaffeewasser auf. Das kurze »bon jour« hatte ihr genügt, sie hatte seine verschwollenen Augen und den leicht schwankenden Gang wohl bemerkt. In der letzten Stunde hatte sie alle Anrufe entgegengenommen, tapfer für ihn gelogen und den Anschein verbreitet, der Chefinspektor sei bei einer wichtigen Besprechung oder so. Kaffee zu kochen war alles, was sie noch tun konnte. Schließlich war sie nicht mit ihm verheiratet und hatte, weiß Gott, auch andere Sorgen.

Als sie ihm den Kaffee hinstellte, ohne Milch und Zucker, rieb sich Marcel seine geröteten Augen und nickte dankbar. »Ist was?« fragte er, und seine Stimme war heiser und kaum zu hören. »Der übliche Kram«, meinte die Sekretärin. »Aber der Direktor erwartet ihren Rückruf.« Marcel blickte fragend. »Seit einer Stunde«, ergänzte sie.

Der Chefinspektor nippte an dem heißen Kaffee. Menschen, die schon um acht Uhr früh telefonierten, waren ihm in der Seele zuwider. »Verbinde mich in fünf Minuten«, sagte er. Die Sekretärin ging. »Danke«, sagte er noch, als sie schon unter der Tür war, aber das hörte sie gar nicht mehr. Er war mit dem Kaffee noch nicht fertig, als das Gespräch kam. Der Direktor wollte wissen, was er gegen die letzten Serieneinbrüche in parkende Autos unternommen habe. Marcel war nahe daran zu sagen: »Nichts!«, aber er beherrschte sich, brummte herum, daß er in dem Fall noch nicht klar sehen könne. Die Sache scheine ihm dringend, mehrere Diplomaten wären unter den Geschädigten, hatte der Direktor noch gesagt, bevor er das Gespräch beendete. Das waren Dinge, die der Chefinspektor ohnedies wußte.

Marcel Trudeau war unruhig, nervös und wußte nicht recht, warum. Es war ein Tag wie jeder andere auf dem Kommissariat, gar nichts Besonderes, und trotzdem hatte er das Gefühl, es müßte jeden Moment etwas Außergewöhnliches passieren. Er erinnerte sich an seinem verstorbenen Vater, der sehr sensibel war und auch immer Vorahnungen hatte. Nun, sein Vater war ein alter Mann gewesen, und es fiel Marcel auch ein, wie sehr er sich deswegen über den alten Herrn immer lustig gemacht hatte.

Marcel hatte weder mehr noch weniger getrunken als üblicherweise in den letzten Wochen, vom Alkohol konnte diese innere Unrast also nicht kommen. Er rauchte ein bißchen mehr als sonst, wenn das überhaupt möglich war, und ärgerte sich über sich selbst. Die Sache mit Toni le Boche konnte die Ursache auch nicht sein, wenn ihm das ganze Theater um Toni auch ziemlich unter die Haut ging. Schließlich kam es öfter und nicht nur in Paris vor, daß man einen bezirksbekannten Strolch einfach nicht fangen konnte. Die Zeitungen waren voll davon, als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt gäbe, und vom Präsidium fragte man jeden Tag an, wie die Fahndung voranginge. Als ob es einzig und allein an Marcel Trudeau gelegen hätte, den Fall abzuschließen!

Das Telefon läutete. Die alte Fuchtel von Chefsekretärin teilte ihm mit, daß der Herr Distriktskommissar mit ihm reden wolle. Marcel wurde wütend und bellte, er habe im Moment keine Zeit, in einer halben Stunde werde er rüberkommen. Er zündete sich eine Zigarette an, sah, daß seine vorige Zigarette im Aschenbecher noch rauchte und wurde noch zorniger. Natürlich hatte der Kommissar weise Ratschläge in der Sache Toni le Boche auf Lager, und auf die konnte Marcel weiß Gott verzichten. Er stand auf und ging in dem kleinen Dienstraum auf und ab, am liebsten hätte er eine Fensterscheibe eingeschlagen oder sonst etwas zertrümmert.

Es klopfte, und bevor er »herein« sagen konnte, kam die weibliche Kriminalbeamtin. Sie wollte einige Unterschriften, und der Chefinspektor unterschrieb, ohne die Akten richtig anzuschauen. Die alte Kriminalbeamtin hatte nach seiner Meinung ohnehin mehr Verstand unter dem Rock als so mancher Polizeijurist unter seinem Hut, und die Sachen gingen sicher in Ordnung.

»Schlechte Laune, Chef?«, wollte die Inspektorin wissen, und Marcel machte nur eine Handbewegung, weil ihm gerade kein ordinärer Fluch einfiel, der passend gewesen wäre.

Es wurde noch dunkler im Zimmer, und plötzlich prasselte Regen gegen die dreckigen Fensterscheiben. Es war schon Ende November, und in der Früh hatte Marcel Schnee von den Windschutzscheiben wischen müssen. Grauen, nassen Schnee, und seine Ärmel waren schmutzig davon geworden.

Inspektor Jezek wäre wahrscheinlich der einzige gewesen, der Toni le Boche im Handumdrehen hätte greifen können, denn Pierre Jezek war dreißig Jahre im Bezirk und kannte jeden Winkel und jeden Ganoven von Kindheit her. Aber Jezek hatte vor einem Jahr eine Kellnerin geheiratet, die um zwanzig Jahre jünger war, und seitdem war er kaum zu gebrauchen. Marcel hatte Verständnis für ihn. Trotzdem nahm er sich vor, mit dem Jezek einmal zu reden, denn abgesehen von dem Toni le Boche Fall ging das mit dem Jezek so einfach nicht mehr weiter.

Auf seinem Schreibtisch in einem Aktenkorb lag eine Menge Papier. Der Chefinspektor sollte das alles heute noch lesen, und jedesmal, wenn er daran vorbeiging, sah er den Aktenberg finster an. Obenauf lag eine Nachricht, daß er sich baldigst im Präsidium bei einem Kommissar Frère einfinden möge. Das Wort »baldigst« war unterstrichen. Marcel kannte keinen Kommissar Frère und wußte nicht einmal, in welcher Abteilung der arbeitete. Er blätterte kurz im Personalstandsverzeichnis, fand den Frère und daneben den Vermerk »Personalabteilung« und die Telefonklappe. Er rief an und erfuhr, der Kommissar wäre im Moment nicht zugegen. Nein, die Sekretärin konnte auch nicht sagen, worum es sich handle. Marcel warf den Hörer auf die Gabel, natürlich wußte dieser Trampel, worum es sich handelte, Sekretärinnen wissen meist mehr als der Chef. Auf dem nächsten Akt sah er die Unterschrift von Inspektor Jezek und begann zu lesen.

Es war ein Bericht über eine Serie von Autoeinbrüchen, insgesamt fünfzehn, ein sogenannter »Nega«, ein Erhebungsbericht mit negativem Resultat also, und Inspektor Jezek hatte alles fein säuberlich heruntergetippt, nur keine Spur von den Tätern gefunden. Marcel überflog die beigelegten Anzeigen der Sicherheitswache und fand heraus, daß Jezek außer ein paar Telefonanrufen nichts unternommen hatte.

»Zweckdienliche Hinweise auf den Täter«, hatte Jezek geschrieben, »konnten nicht in Erfahrung gebracht werden.« Marcel ging ins Journalzimmer, der Gruppenleiter wußte angeblich nicht, wo Jezek war, und schaute ein wenig betreten. »Zwei Journalisten sind seit einer Stunde beim Kommissar«, sagte er, um abzulenken.

»Den Jezek will ich in einer halben Stunde in meinem Büro haben«, sagte Marcel und wart die Tür lauter zu, als er beabsichtigt hatte. Dann meldete er sich beim Kommissar.

Der Distriktskommissar sagte: »Na endlich, Herr Chefinspektor«, und hatte einen roten Kopf. Am Tisch saßen zwei junge Schnösel mit langen Haaren, man hatte ihnen Kaffee serviert, aber die Tassen waren schon leer.

»Sie können uns angeblich sagen«, begann der eine Zeitungsmann, »welche Maßnahmen in der Fahndung nach Toni le Boche getroffen wurden«. »Der Herr Chefinspektor ist …«, sagte der Kommissar, aber Marcel fiel ins Wort. »Das kann ich schon, will aber nicht.« Er sah gerade noch das erschrockene Gesicht des Kommissars und setzte ein optimistisches Grinsen auf: »Ein Vorschlag, meine Herren, wir unterhalten uns über den Fall nach Tonis Verhaftung, da haben wir mehr zu reden.«

Die Mienen der beiden jungen Herren änderten sich schlagartig, beide sprachen zugleich und wollten wissen »welche konkreten Hinweise, wann mit Verhaftung zu rechnen sei« usw., Marcel grinste amüsiert, nickte dem Kommissar zu und entschuldigte sich, jetzt habe er zu arbeiten. Draußen stieg er eine Treppe hoch, wartete, bis die beiden Journalisten das Büro verließen und eifrig diskutierend die Stiegen hinabgingen. Marcel ging zurück zum Kommissar, der gerade den Telefonhörer in der Hand hatte, um ihn wieder zu rufen, und bevor er losbrüllen konnte, meinte Marcel:

»Es war das beste, Chef.«

Der Kommissar schmiß den Hörer auf die Gabel, daß zwei regennasse Tauben erschrocken vom Fenster wegflogen, dann lehnte er sich zurück und stöhnte: »Mich trifft noch einmal der Schlag.« Er war jetzt sechzig und ein wenig beleibt, und obwohl im ganzen Distrikt als Choleriker verschrien, mochte ihn Marcel eigentlich ganz gerne.

»Sie wissen hoffentlich, was Sie angerichtet haben«, sagte der Alte und zwang sich sichtlich zur Ruhe. Marcel bot ihm eine Zigarette an.

»Die Pressenarren werden natürlich jetzt schreiben, die Verhaftung steht unmittelbar bevor«, fauchte der Kommissar.

»Natürlich«, sagte Marcel und betrachtete seine Zigarette, als ob er darauf das Versteck ablesen könnte.

Um die Ruhe des Kommissars war es jetzt geschehen. »Wie kommt es«, schrie er, »wie kommt es, daß dieses Hundsvieh in meinem Distrikt in zwei Wochen vier Raubüberfälle macht, eine Kioskverkäuferin absticht wie ein Schwein, einen Pensionisten halbtot prügelt, wie kommt es, daß ihr ihn nicht erwischt? Ich bin von lauter Idioten umgeben. Unfähigen Idioten! Dieses Schwein hat ein Gesicht, das jeder kennt, in jeder Zeitung ist die Visage zu sehen, und ihr Blindenverein …«, der Kommissar rang nach Luft …, »ihr blinden Ignoranten könnt den Mann nicht greifen. Mich trifft noch einmal der Schlag.«

»Chef«, sagte Marcel gelassen, »wir werden ihn schon kriegen, ich muß jetzt gehen.« Im Vorzimmer sah er noch das schadenfrohe Gesicht der Chefsekretärin. Blindenverein war zwar hart, aber Marcel war dem Alten nicht böse deswegen.

Am Gang vor seinem Zimmer stand eine ältliche Dame, die ihn unbedingt sprechen wollte. Eine ganz wichtige Anzeige müsse sie machen, wegen Tierquälerei. Muffi, das war ihr Hund, wurde von Nachbarskindern mit Steinen beworfen. Marcel versuchte ihr verständlich zu machen, daß er dafür nicht zuständig sei. »Mit sooooo großen Steinen«, sagte die alte Dame, und ihre faltigen Wangen zitterten vor Empörung. Sie kramte in der Handtasche, um einen der Steine zu zeigen. Als »Beweisstück«, sagte sie. Marcel nahm sie freundlich bei der Schulter und zeigte ihr den Weg zum Kommissar. Der Alte sollte zerspringen.

Auf seinem Schreibtisch lagen die letzten Zeitungen, und die Fotos des gesuchten Toni le Boche grinsten ihm entgegen. Die Artikel waren angestrichen, mit rotem Bleistift. Marcel mochte das Zeug nicht lesen, er wußte ohnehin, daß es böse Angriffe gegen die Unfähigkeit oder Erfolglosigkeit der Kripo waren. Der Alte hatte schon recht, der flüchtige Toni mit seinen wulstigen Lippen und der eingeschlagenen Boxernase war schwer zu übersehen. Erstaunlich, daß er sich so lange verbergen konnte. Noch dazu war er mit seinen dreißig Jahren vollkommen glatzköpfig. Woher er sich wohl eine Perücke verschafft haben mochte, fragte sich Marcel. Er war ziemlich sicher, daß Toni eine Perücke hatte, mit seiner markanten Glatze wäre er im Bezirk wohl keine hundert Meter weit gekommen.

Marcel blätterte in den Zeitungen. Präsident Nixon und Kissinger flogen nach China. In Athen war ein Vertreter der Palästinensischen Befreiungsorganisation bestialisch ermordet worden. Racing Paris hatte wieder verloren, gegen Stade Reims. Das Telefon klingelte, und die Chefsekretärin fauchte wütend, ob er das lustig fände, alte tierliebende Damen zum Kommissar zu schicken. Marcel legte auf, ohne ein Wort gesagt zu haben. »Eine Plastikpuppe lag bei dem ermordeten Palästinenser in Athen«, las er gerade, als es klopfte und Inspektor Jezek hereinkam. »Ich war auf Erhebung«, sagte er.

Marcel winkte ihn in einen Sessel und kramte dann in seiner Schublade. Er fand das Schriftstück und gab es dem Inspektor.

»Lies das, Pierre«, sagte er freundlich.

Inspektor Jezek überflog das Papier, es war seine eigene Dienstbeurteilung, und der Chef hatte ihm die beste Beschreibung gegeben, die man sich vorstellen konnte. Das bedeutete eine bevorzugte Überstellung in die nächsthöhere Gehaltsstufe zum nächsten Termin, in anderen Worten, ein wenig mehr Geld für Jezek in drei Monaten.

»Danke, Chef«, sagte der Inspektor, ein wenig unsicher. Marcel nahm den Negativbericht über die fünfzehn Autoeinbrüche, unterschrieb links unten neben der Unterschrift Jezeks und warf den Akt in das Fach für Postauslauf, als ob das Papier stinken würde.

»Ich weiß, ich habe die Beschreibung heuer nicht verdient«, sagte der Inspektor.

»Woher kann Toni le Boche eine Perücke haben?« fragte Marcel. »Wahrscheinlich von Rosi«, meinte Jezek leichthin. Marcel stand auf und ging zum Fenster, schaute in den grauen Regen hinaus. »Wer ist Rosi«, wollte er wissen.

»Rosi geht seit zwei Jahren auf den Strich«, berichtete Jezek sachlich. »Sie ist Friseuse und arbeitete vorher zu Hause ohne Genehmigung der Gewerbebehörde. Sicher hat sie noch Friseurzeug oder Perücken und diese Sachen im Hause. Toni und Rosi sind Nachbarskinder. Rosi ist soweit o.k., nur zwei Gerichtsstrafen wegen Abtreibung. Toni wäre der Vater gewesen, heißt es.«

Marcel hauchte eine Fensterscheibe an und wischte mit einem Finger über das feuchte Glas. »Warum haut Toni nicht ab, warum bleibt er im Bezirk?« Der Inspektor lehnte sich im Sessel zurück. »Toni le Boche wird nie den Bezirk verlassen. Der war sein ganzes Leben nur im Bezirk. Er ist ein primitiver Hund, und seine Welt hört hinter Neuilly auf. Aber da ist er daheim, da kennt er jedes Bistro. Sein Vater war derselbe Typ. Der starb vor zwei Jahren. Leberkrebs, vom Saufen.«

Marcel trommelte jetzt mit den Fingern auf die Glasscheibe und pfiff leise dazu, sonst war es ganz ruhig im Zimmer.

»O.k. Chef«, sagte Jezek nach einer Weile. »Morgen fang ich an mit dem Toni.« Chefinspektor Trudeau drehte sich um, und sein Gesicht war grau vor Wut.

»Du fängst heute an, Pierre, jetzt gleich.« Inspektor Jezek war aufgestanden. »O.k. Chef, o.k.«, sagte er beschwichtigend. An der Tür drehte er sich noch einmal um: »Ich mach’ das schon, Chef.«

Es war jetzt gleich zwölf Uhr und Zeit zum Mittagessen. Marcel unterschrieb noch einige Berichte und ging dann ins Journalzimmer. »Ich bin im Piccolo«, sagte er zum Gruppeninspektor. Das »Piccolo« war ein kleines Bistro, gleich um die Ecke.

Am Nachmittag ging er in die Sauna und fühlte sich richtig wohl danach. Er hatte im Ruheraum eine Stunde geschlafen und dann alle Zeitungen gelesen, sogar die bissigen Artikel in der Toni-le-Boche-Sache. Dann hatte er ausgiebig über seine immerhin noch legale Ehe mit Simone nachgedacht, ohne weiteres Resultat allerdings.

Es war ein ziemlicher Schock für ihn gewesen, als er damals heimkam und den Zettel fand. »Ich verlasse dich, du Schwein«, stand darauf. »Ich will dich nie mehr Wiedersehen.« Und das alles nur, weil er ihr ein paar gelangt hatte, am Abend zuvor. Er konnte es einfach nicht ausstehen, wenn sie sich betrank und dann in Lokalen große Reden führte, ihre Show abzog. Nun, die ersten Tage hatte er gewartet, daß sie zurückkäme, sicher. Dann kam dieser Telefonanruf aus der Schweiz, sie war wieder betrunken und beschimpfte ihn wie ein Marktweib. Er hatte aufgehängt und war weggegangen, es war nach Mitternacht. Das war vier Monate her.

Die Verkehrsampel war auf Rot, und er mußte stehenbleiben. Automatisch betrachtete er eine hübsche Blondine in einem enganliegenden Kostüm, die aus einem Friseurladen kam. Und zum tausendsten Male in den letzten vier Monaten dachte er an Simone.

Es wurde grün, und er ging weiter.

Vor dem Kommissariat stand der Streifenwagen. Die Blaulichter waren eingeschaltet. Marcel sah den Inspektor Matisse aus dem Haustor rennen, auf den Wagen zu. Matisse lief niemals ohne Grund. So rannte Marcel über die Straße, ohne lange zu überlegen, ein paar Autos bremsten kreischend, und wütende Fahrer bellten ihm nach. Der Streifenwagen startete schon, als Matisse noch eine Tür aufriß. Marcel ließ sich auf den Hintersitz fallen. Die Sirenen heulten, und der Fahrer schaltete in den dritten Gang.

»Toni le Boche«, sagte Matisse. »Pierre hat ihn gegriffen, im ›Rumba‹. Die Sau hat Pierre getupft. Funkstreife ist unterwegs.« Getupft. Das hieß, daß Inspektor Jezek gestochen wurde. Dieser Toni arbeitete nur mit einem Springmesser und wurde immer verrückter dabei. »Schlimm?« fragte Marcel.

Matisse zuckte die Schultern. Er nahm seine Pistole aus dem Halfter und lud sie durch. Marcel nahm sie ihm wortlos aus der Hand. Dann bremste der Wagen und hielt vor dem »Rumba«. Ein paar Dutzend Leute vor dem Eingang. Im Laufen sah Marcel, daß die Funkstreife noch nicht da war.

In der Bar war ein Tisch umgestürzt, und Glasscherben lagen am Boden. Jezek kniete vor einem Hocker, hielt mit zwei Händen seine Pistole, seine Ellbogen waren auf der Hockerlehne aufgestützt. An der Wand lehnte Toni le Boche, seine Perücke lag am Boden, und er hielt die Hände über dem Kopf. Seine Augen flackerten, und Marcel sah in einer Sekunde, daß er unverletzt war, irrsinnig vor Wut und Angst und auf dem Sprung zu flüchten. Er bemerkte gleichzeitig die große Blutlache, in der Jezek kniete und wie seine Hände mit der Pistole zitterten.

»Schon gut, Pierre«, sagte Marcel und richtete die Pistole auf Toni. »Schon gut.« Er sah, wie sich Inspektor Jezek zusammensinken ließ, und dann hörte er das Plumpsen seiner Pistole auf dem Holzboden. »Toni«, sagte er, »beweg dich, und du hast sechs Löcher im Bauch.«

Aus den Augenwinkeln sah er Matisse neben ihm auf den Mann zugehen. »Umdrehen, Toni«, befahl er. Dann hörte er die Sirenen der Funkstreife. Zögernd drehte sich der Mann zur Wand. Seine Augen zuckten zum Boden, den Bruchteil einer Sekunde nur, aber Marcel sah das blutverschmierte Messer und schlug zu, mit der Pistole und aller Kraft gegen diesen kahlen Schädel.

»Chef«, hörte er Matisse sagen, der sich sofort auf den fallenden Toni stürzte. Dann waren auch schon die uniformierten Polizisten der Funkstreife im Raum.

Marcel gab ein paar Anweisungen und kniete dann neben Inspektor Jezek. Sachte hob er Jezeks Kopf auf seinen Unterarm. »Die Ambulanz muß gleich da sein«, hörte er jemanden sagen. Fast zärtlich knöpfte Marcel Jezeks Jacke und Weste auf. Er sah den Einstich an der rechten Brustseite, aber die Blutung hatte fast aufgehört. Hoffentlich ist es nicht die Leber, dachte er.

Den Toni le Boche hatten sie hinausgebracht, und plötzlich war Matisse neben Marcel. »Die Pistole«, sagte er. Marcel deutete auf seine Rocktasche, und Matisse nahm sie sich heraus. Der Lauf war blutverschmiert.

Jezek stöhnte leise, er hielt die Augen geschlossen. »Matisse«, sagte Marcel, »ich fahr’ mit der Ambulanz. Mach du das hier weiter.« Matisse kniete sich neben die beiden, tippte Marcel auf die Schulter und deutete auf das Messer, das immer noch am Boden lag. Marcel wußte, was er meinte. Die Klinge war blutverschmiert bis zum Heft. »Das Schwein hat zugestoßen wie ein Irrer«, hörte er Matisse neben seinem Ohr flüstern.

Auf der Fahrt ins Krankenhaus öffnete Jezek die Augen. Er erkannte Marcel, der neben ihm saß. »Meine Frau«, hörte Marcel ihn flüstern. »Mach dir keine Sorgen, Alter«, sagte Marcel. »Mach dir keine Sorgen, mit deiner Frau rede ich noch heute. Wir bringen dich durch, und alles wird wieder gut. Streng dich jetzt nicht an, mach dir keine Sorgen.« Er sah, wie Pierre Jezek die Augen wieder schloß und lächelte.

Die Operation hatte eine gute Stunde gedauert. »Wenn alles gut geht«, hatte der Chefarzt gesagt, »wird er es überstehen. Wenn keine Komplikationen eintreten«, hatte er eingeschränkt. Marcel Trudeau hatte fast ununterbrochen geraucht im Wartezimmer. Ihm war ein wenig übel, aber immerhin war das eine gute Nachricht. Als er die Treppe hinunterging, begegnete er einer Frau, sie war etwa dreißig, grell geschminkt, aber nicht unhübsch. Einer plötzlichen Eingebung folgend blieb er stehen: »Frau Jezek?« Sie war es. Der Chefinspektor berichtete ihr kurz, er versuchte, optimistisch zu sein und zu verharmlosen. »Nein«, sagte er, »keine Lebensgefahr. Sie können ihn jetzt nicht sprechen nach der Operation. Vielleicht morgen oder übermorgen.« Etwa eine Woche nicht, hatte der Chefarzt gemeint.

Die Frau ging mit ihm hinunter. »Dann kann ich hier nichts ausrichten«, meinte sie. Sie sprach breitesten Vorstadtdialekt. »Das hat er jetzt davon, der alte Trottel«, sagte sie, »ich hab’ immer gesagt, er soll sich nicht zerreißen für das scheißbißchen Geld, was die Polizei zahlt. Das hat er jetzt davon!«

Marcel wollte eigentlich einige tröstende, aufmunternde Worte sagen, aber er sah ein, es wäre falsch am Platz gewesen.

»Kann ich Sie irgendwohin bringen«, fragte er auf der Straße. Er hatte vor, ein Taxi zu nehmen. »Danke, ich bin in Begleitung«, sagte die Frau. Sie ging auf einen Renault-Sportwagen zu, in dem ein junger Mann saß und rauchte.

»Armer Pierre«, sagte Marcel leise. Er nahm den Autobus.

»Immerhin«, sagte der Bezirkskommissar, »immerhin hat der Mann einen Stirnbeinbruch und eine schwere Gehirnerschütterung. Der Wirt sagt aus, das Messer hätte auf dem Boden gelegen. Dieser Toni war also unbewaffnet bei der Festnahme.«

»Drei Minuten vorher«, sagte der Chefinspektor müde, »hat er unseren Jezek schwer verletzt.«

»Das war eben vorher«, sagte der Kommissar. »Als Sie in den Raum kamen, war er unbewaffnet und hielt die Hände hoch. Auch er ist jetzt schwer verletzt, noch nicht einmal vernehmungsfähig.«

Marcel zuckte mit den Schultern. »Mir blutet das Herz«, meinte er. Der Kommissar und der Chefinspektor waren allein im Zimmer. Vom Gang hörte man Schritte und Stimmen. Eine Pressekonferenz war einberufen worden, sie sollte in fünf Minuten beginnen. »Ich will ihnen doch helfen, Chefinspektor«, sagte der Kommissar. »Wie wollen Sie rechtfertigen, einen unbewaffneten Menschen zusammengeschlagen zu haben?« Marcel sah aus dem Fenster. »Hundsvieh«, sagte er, »Hundsvieh nannten Sie ihn, als wir das letzte Mal über Toni le Boche sprachen. Jetzt sagen Sie Mensch. Einen waffenlosen Menschen.« »Herrgott«, fauchte der Kommissar, »seien Sie doch nicht gleich so …« »Er bückte sich nach dem Messer«, unterbrach Marcel. »Was?« »Er bückte sich nach dem Messer. Er wollte es aufheben. Er war in Panik und hatte gehofft, Jezek wird umkippen, bevor wir kommen. Als er die Sirenen der Funkstreife hörte, drehte er durch. Er wollte sein Springmesser aufheben.« »Das ginge«, meinte der Kommissar leise.

»Ich hätte schießen können«, sagte Marcel. »Ich hätte schießen können und sollen. Dann gäbe es keinen Toni le Boche mehr und keine Gegenaussage.« »Um Gottes willen«, stöhnte der Kommissar.

Das Telefon läutete, der Kommissar hob ab. »Ja, er ist hier, Herr Kollege«. Marcel bekam den Hörer. Kommissar Frère wollte wissen, wann es Marcel endlich genehm wäre, zu ihm zu kommen. »Morgen um zehn«, sagte Marcel. Er vergaß ganz, nach dem Grund zu fragen.

»Er bückte sich nach dem Messer«, sagte der Kommissar erleichtert. »Was wird Matisse aussagen?« »Dasselbe«, sagte Marcel. »Das geht dann«, meinte der Kommissar fast fröhlich. »Es ist die Wahrheit«, log Marcel.

Die Pressekonferenz war viel besser verlaufen, als Marcel erwartet hatte, viel besser. Als einer der Journalisten Marcels Darstellung seiner Selbstverteidigung anzweifelte, wurde er von wütenden Zwischenrufen unterbrochen, und die Zeitungsleute lagen sich eine Weile ordentlich in den Haaren und schrien sich gegenseitig an. Der Kommissar hakte sofort ein und appellierte, die Presse möge doch mit der Polizei und nicht gegen sie arbeiten, die Verbrechensbekämpfung wäre ohnehin schon schwierig genug. Marcel hätte dem Alten dieses geschickte Manöver gar nicht zugetraut, jedenfalls war hinterher alles eitel Wonne, und der Kommissar lud Marcel auf einen Kognac ein.

Es war schon spät, als Marcel heimkam. Im Briefkasten fand er eine erwartete Rechnung seiner Autoversicherung und eine unerwartete Postkarte aus Venedig, von Simone. »Verzeihst du mir?« stand auf der Postkarte. Sie muß ordentlich besoffen gewesen sein, dachte Marcel, und warf die Karte in eine Ecke. Die Leere seiner kleinen Wohnung bedrückte ihn plötzlich, und er wußte, daß er jetzt nicht schlafen konnte. Er rief im Kommissariat an, ob es etwas Neues gäbe. »Nichts Besonderes«, sagte der Gruppeninspektor. Toni le Boche würde im Inquisitenspital bewacht, morgen wäre er vernehmungsfähig. Die Vernehmung würde das Sicherheitsbüro machen. »O. k.«, meinte Marcel. »Drei Autoeinbrüche haben wir gerade«, sagte der Gruppeninspektor. Marcel sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. Diese Hunde werden immer frecher, dachte er. Marcel ging noch um die Ecke in ein kleines Bistro, wo er fast zu Hause war. Die Wirtin gab ihm zwei Schlaftabletten, und er trank dann ein wenig. Als er wieder heimkam, hörte er beim Aufsperren das Telefon klingeln und stürzte zum Hörer. »Chef«, sagte der Gruppeninspektor, »wir suchen Sie schon überall. Pierre Jezek ist vor einer Stunde gestorben.«

Das Wochenende war vergangen, und Marcel hatte das Kommissariat kaum verlassen. Was sonst hätte er tun sollen? Das Wetter war zwar umgeschlagen, und es war sonnig und ein wenig warm, aber Marcel hatte keine Lust, irgend etwas zu unternehmen. Samstag nachmittag war er kurz auf einem Fußballplatz gewesen, aber eher wegen der frischen Luft als wegen des Spieles. Gegen Mitternacht machte er eine Streife nach den Automardern mit, keine Spur von den Burschen, als ob sie es gerochen hätten. Ansonsten diktierte er seinen langen Abschlußbericht in der Toni-le-Boche-Sache auf Tonband; die Chefsekretärin mußte es am Montag tippen, geschah ihr recht.

Am Montag war das Begräbnis von Inspektor Jezek gewesen, und von den vielen Grabreden war Marcel fast übel geworden. Der Polizeipräsident war da und der Vizepräsident, und sie sprachen von Pflichterfüllung bis zum Tode und ähnlichem Blödsinn. Marcel stand bei den Kriminalbeamten, und alle hatten verbissene Gesichter, aber als die Polizeikapelle das Lied vom alten Kameraden spielte, wurden die Augen feucht. Marcel war froh, als alles vorüber war.

Mit Frau Jezek hatte er sich heute verabredet, er hatte mit ihr zu reden wegen der Pensionsversicherung und einigen anderen Dingen. Sie sollte um neun Uhr in seinem Büro sein, aber jetzt war es schon fast zehn, und Marcel hätte die Sache gern hinter sich gehabt.

Zum dritten Mal las er die erste Niederschrift, die das Sicherheitsbüro mit Toni le Boche im Inquisitenspital aufgenommen hatte, und spürte, wie ihm die Wut die Gurgel zuschnürte. »Er hätte den Inspektor Jezek gar nicht erkannt, weil er ihn schon lange nicht gesehen habe«, hatte dieses Schwein zu Protokoll gegeben. Nur einen Mann mit Pistole habe er plötzlich vor sich gesehen und sich eben gewehrt. Nur in Notwehr habe er zugestochen. Marcel hielt es in seinem Büro nicht mehr aus, er nahm das Protokoll und ging ins Journalzimmer.« »Den Dreck müßt ihr lesen«, fluchte er und gab das Papier dem Gruppenleiter. »Ist was zum Trinken da?«

Natürlich war etwas da, und weiß Gott, der Schluck Schnaps tat ihm gut. Die Kollegen lasen das Protokoll und fluchten. Marcel ließ sich die letzten Anzeigen gegen Toni le Boche kommen, und es stellte sich heraus, daß Inspektor Jezek den Toni erst vor vier Monaten festgenommen hatte, in einer Bagatellsache allerdings, Ladendiebstahl.

»Mach eine Kopie, und schick den Akt ins Sicherheitsbüro«, sagte Marcel zum Gruppenleiter. So leicht sollte es der Toni nicht haben. »Neun Vorstrafen wegen Eigentumsdelikten, vier wegen Raufhandels«, sagte ein Kollege und heftete den Strafregisterauszug zum Akt. »Wenn er zuletzt keinen Strafaufschub bekommen hätte, könnte Pierre noch leben.« Der Gruppenleiter fluchte auf den Justizminister, nannte ihn ein demokratisches Arschloch, dann kam Inspektor Matisse herein. Er hatte den Wirt der »Rumba-Bar« vernommen.

»Jezek kam zur Tür herein, und Toni ist sofort aufgesprungen«, berichtete Matisse. Jezek habe die Pistole gezogen und gerufen: »Pfoten hoch, Toni, mach keinen Blödsinn!« Der Wirt und die Gäste wären dann gleich aus der Bar gelaufen. Was weiter passierte, konnte der Wirt nicht angeben.

Na, mit der Notwehrversion Tonis war es wenigstens Essig. Die Funkstreife brachte eine Prostituierte herein, die nur einen Schuh anhatte und Schimpfworte schrie, die selbst Marcel noch nie gehört hatte.

»Frau Jezek wartet auf Sie, Chef«, sagte jemand, und Marcel ging wieder hinüber in sein Zimmer.

Sie trug dasselbe schwarze Kostüm und war wieder geschminkt wie Liz Taylor vor einer Großaufnahme. Marcel gab ihr einige Formulare für die Pensionsversicherung und erklärte ihr, was sie tun mußte. »Wenn Sie irgendwelche Schwierigkeiten haben«, sagte er, »kommen Sie zu mir, wir werden Ihnen natürlich helfen.« Mit wieviel Pension sie rechnen könne, wollte die Frau wissen, aber das konnte ihr Marcel auch nicht genau sagen. Er gab ihr einen Nylonsack mit den privaten Gegenständen Jezeks, die Kollegen hatten seinen Schreibtisch ausgeräumt.

»Die Beamten vom Kommissariat«, sagte Marcel, »haben ein wenig Geld gesammelt. Es ist nur für die ersten Tage«, sagte er fast entschuldigend. »Vom Unterstützungsverein bekommen Sie natürlich auch noch was.« Die Frau warf einen enttäuschten Blick in den Briefumschlag und steckte ihn in ihre Handtasche. »Ich habe ihm immer gesagt, er soll mit der Polizei aufhören«, sagte sie bei der Verabschiedung. Marcel begleitete sie zur Tür. Er dachte, was der alte Pierre wohl hätte anfangen sollen, nach dreißig Dienstjahren bei der Kriminalpolizei, aber er sagte nichts.

Vom Fenster sah er Frau Jezek die Straße überqueren, sie ging auf den Renault-Sport zu, in dem der junge Mann saß und rauchte. Noch bevor sie einstieg, hörte Marcel durch die geschlossenen Fenster das Starten und Aufheulen des Sportwagens. Den Nylonsack mit den privaten Dingen ihres Mannes hatte die Frau vergessen. Marcel sah ein paar Taschentücher, eine Weckuhr, eine Nagelbürste. Und zum ersten Mal seit Jezeks Tod sprang ihn die Reue an wie ein wildes Tier, schüttelte es ihn vor Schuld und Vorwürfen. Er preßte die Fäuste vor die Augen. Warum nur hatte er den Jezek so unter Druck gesetzt. Warum nur?

Die Sprechpuppe

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