Читать книгу Die Sprechpuppe - Leo Frank-Maier - Страница 11

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Ob es eine Art Mutterinstinkt war oder reine Geldgier oder einfach Gleichgültigkeit, niemand hätte das sagen können, am allerwenigsten Helene Wannemacher. Tatsache war, daß sie sich um diese Jammergestalt kümmerte, die John Berger hieß. Sie nahm ihn ins Bett und wunderte sich, was der Kerl schlafen konnte. Und sie freute sich darüber, daß dieser halbtote Alkoholiker wieder menschliche Züge annahm. Etwa wie sich ein Kind freut, das einen halberfrorenen Spatzen in die warme Küche nimmt und sieht, wie der kleine Vogel wieder zum Leben erwacht.

Helen und ihr Bett hatten John tatsächlich gutgetan. Nach ein paar Tagen kam er zur Überzeugung, daß es Zeit war, etwas zu unternehmen. Die Periode des Grübelns und des Saufens, aber auch des Abschätzens seiner Möglichkeiten, war vorbei. Keine Sekunde lang hatte John irgendwelche Zweifel oder Skrupel. Keine Sekunde. Er würde den »Roten Oktober« ausrotten, nichts anderes war von Interesse oder Wichtigkeit. Und nur diese Gedanken brachten ihm Erleichterung, gaben ihm Kraft und verdrängten das surrende Geräusch eines Düsenmotors in seinem Gehirn, das ihn sonst umgebracht hätte.

Er fuhr in sein Hotel und brachte die Rechnung in Ordnung. Er zog einen frischen Anzug an und betrachtete sich im Wandspiegel. Der Anzug, nach Maß angefertigt, wirkte zwei Nummern zu groß, er mußte viel Gewicht verloren haben in diesen letzten Wochen. John Berger war immer ein kräftiger, sportlicher Mann gewesen. In seiner besten Zeit rannte er 100 Meter in 11, 5 Sekunden und stemmte einarmig spielend 40 kg. Er beschloß, ab jetzt wieder regelmäßig zu essen.

In seinem Gepäck fand er ein Silberarmband, ein gediegenes Stück, Handarbeit aus Damaskus. Er hatte es für Inge gekauft. Die Turbinen surrten wieder, als er es in der Hand hielt. Er schenkte es dem Stubenmädchen, und es gelang ihm ein freundliches Lächeln. Das Mädchen lächelte erfreut zurück und schien ein wenig verlegen, sie drückte sich noch eine Weile herum und wackelte mit dem Popo, so übel war sie gar nicht. Sie kannte die Spielregeln und wartete auf die Aufforderung zu einer Gegenleistung. Als nichts kam, trollte sie sich, fast ein wenig beleidigt. Wie gesagt, gewaschen und rasiert war John Berger immer noch ein attraktiver Mann.

Die nächsten Stunden verbrachte John in einem Kaffeehaus. Er las alle englischen, französischen und deutschen Zeitungen der letzten Tage. Arabische Zeitungen gab es nicht; auch diese Sprache beherrschte er leidlich, wenn er auch wegen der Vielfalt der Dialekte und Schreibweisen seine Schwierigkeiten hatte. Er fand, was er suchte, aber die Informationen waren relativ dürftig. Die ganze Geiselnahme, die Aktion des »Roten Oktober«, war darauf abgezielt, vier Männer frei zu bekommen, die seit sechs Monaten in griechischen Gefängnissen saßen, wegen Waffenbesitzes, wegen eines Bombenanschlages auf die Israelische Botschaft in Athen und wegen Totschlages. Auch damals schon waren unschuldige Menschen die Opfer gewesen. Eine Frau und zwei Kinder, Passanten, die gerade an dem Botschaftsgebäude vorbeigingen, als die Bombe explodierte. Erstaunt nahm John die Pressemeldungen zur Kenntnis, nach denen der »Rote Oktober« der Athener Regierung ein Ultimatum gestellt hatte. Entweder die vier Helden der Bewegung, Kämpfer für Freiheit des Palästinensischen Volkes, würden freigelassen, oder aber Athen würde als Schauplatz weiterer Terroraktionen nicht verschont werden. Noch erstaunter las er Meldungen, nach denen die Regierung zu einem Kompromiß bereit war. Athen wollte keine Schwierigkeiten mit den Palästinensern, man hatte eigene Probleme genug. Eine Verhandlungsbereitschaft war gegeben, sicherlich wollte Papadopoulos die vier Bewegungshelden günstig loswerden. Außer Terroraktionen war auch ein Ölembargo angedroht. Die griechischen Reedereibesitzer, Herrscher über Tankerflotten, waren an einer Ölpreiserhöhung gänzlich uninteressiert. Die Steuern der Großreeder aber waren ein beträchtlicher Bestandteil des griechischen Staatshaushaltes. Die Situation war ziemlich verworren. John verstand nur wenig von den Pressemeldungen, aber immerhin so viel, daß irgendein Gesprächspartner der Palästinensischen Befreiungsorganisation in Athen am Verhandeln war, inoffiziell natürlich und unter strengster Geheimhaltung.

Und dieser Mann war sein Ziel, das lag auf der Hand. John überlegte. Wenn also ein Vertreter des »Roten Oktober« in Athen war und Gespräche führte, mußte die Regierung für seinen Schutz sorgen. Solchen Personenschutz besorgt aber immer noch die Polizei oder eine Art Geheimpolizei, wer sonst. Das war der Faden, wo John anknüpfen konnte. Mit der Polizei in Athen hatte er in den letzten Tagen ja genügend zu tun gehabt.

John Berger fuhr zuerst in ein Warenhaus und kaufte Geschenke, Herrenhemden, Krawatten und solches Zeug. Er ließ sich alles verpacken, insgesamt acht Pakete ließ er machen. Dann kaufte er acht Briefumschläge und überlegte, was ein Polizist in Athen monatlich verdienen könnte. Schließlich stopfte er dreitausend Drachmen in jedes Kuvert; ein halber Monatsverdienst müßte es auch tun.

In dem Büro der staatspolizeilichen Abteilung des Polizeipräsidiums, wo John in den letzten Wochen so oft gewesen war, um all die Formalitäten zu erledigen, erkannten sie ihn im ersten Moment gar nicht, so frisch rasiert und sauber angezogen, wie er war.

John ging von einem zum anderen und schüttelte die Hände. Er bedankte sich für alles, was die Herren in den letzten Wochen für ihn getan hätten. Er entschuldigte sich, wenn er schwierig gewesen sein sollte, sie müßten verstehen, der Schock, unter dem er gestanden hatte. Es täte ihm leid, daß er meist betrunken war, die Herren hätten sicherlich Verständnis. Sie hatten. Sie schielten auf die Pakete, die John wie ein Weihnachtsmann auf die Schreibtische legte. Eine kleine Aufmerksamkeit als Dank für alles, was die Beamten für ihn getan hatten. Die Beamten nickten. Es waren fünf im Zimmer. Vielleicht wären die Herren so lieb und würden den gerade abwesenden Kollegen seinen Dank und die Pakete übermitteln. John mußte jetzt Athen verlassen, er könne nicht wiederkommen. Die Inspektoren nickten wieder.

Einer, wahrscheinlich der Ranghöchste, sagte dann ein paar Worte zu John, daß sie sich sehr freuten, ihn wieder »so« zu sehen, daß sie volles Verständnis für ihn hätten und so weiter. Wieder drückten ihm alle die Hände. Dann luden sie ihn zu einem Kaffee ein, den einer rasch in einer Ecke des Büros kochte.

Polizisten, dachte John, die haben doch alle dieselben Probleme, überall auf der Welt. Alle waren sie voll von Idealen, wenn sie anfingen. Dann gingen sie durch den Fleischwolf der Realität, der Routine, strampelten noch eine Weile und endeten schließlich in Resignation und Korruption. John hätte nicht begründen können, wieso er plötzlich zu diesem Schluß kam. Bestenfalls hätte er ins Treffen führen können, daß er alt und lebenserfahren genug war, um Menschen oder Kategorien von Menschen zu durchschauen. Nun, wenn er jetzt kaffeetrinkend diese Herren so ansah, wie sie eilig ihre Geschenkpakete wegpackten, sich entschuldigten, in Eile waren, heimzukommen, schließlich war Dienstschluß, das alles bekräftigte nur seine Absicht.

Drei blieben übrig und nahmen seine Einladung zu einem Drink um die Ecke an, John kaufte noch Schokolade für die Kinder — alle hatten natürlich Kinder — und spielte die Rolle des vertrottelten Wohltäters gar nicht übel.

Einen ließ er nicht aus den Augen, das war der Chef der Gruppe, der die Rede gehalten hatte. Er war wohl auch der gierigste von allen, und solange etwas umsonst zu haben war, hatte er es nicht eilig. Es stellte sich heraus, der Mann hieß Inspektor Violaris, und als die letzten beiden abgehängt waren, folgte Violaris willig weiteren Einladungen. John hatte das Gefühl, daß das Glück auf seiner Seite stünde. Die beiden endeten in einem Lokal, das »Mouskos« hieß und in dem man angeblich das beste Meze Athens servierte. Natürlich wurde Meze bestellt und noch eine Flasche Wein, John war ein wenig in Sorge um seinen Freund, denn lange würde sich der nicht mehr auf den Beinen halten können. Beide machten einen ziemlich betrunkenen Eindruck, doch konnte John trotz aller Sauferei spüren, wie sich sein Gehirn mehr und mehr auf die entscheidende Sekunde konzentrierte, er war glockenwach und wollte nur den richtigen Moment nicht verpassen, seine harmlose Frage zu stellen, von der es abhing, ob all das Theater mit den Geschenken und Einladungen, die ganze Zeit mit den Polizisten vergeudet war, oder ob er einen Schritt weiter kommen würde.

»Prost«, sagte er, wie schon so oft an diesem Nachmittag. Sie tranken, das Meze war noch nicht serviert, der angesoffene Chefinspektor Violaris hielt seine Geschenkpakete auf dem Schoß, als ob er Angst hätte, man könnte sie ihm wieder wegnehmen.

»Violaris, Freund«, John lallte absichtlich, »Chefinspektor, wie heißt du eigentlich sonst noch?« »Costas«, sagte der Chefinspektor und krallte seine Hände in die Pakete. »Prost Costas, also«, lallte John weiter, »ich heiße John, prost, mein Freund.«

Die Freunde tranken, und Costas sah so aus, als ob er im nächsten Augenblick auf den Tisch kotzen würde. Der Moment war gekommen.

»Jesus Christus, das Wichtigste habe ich vergessen«, begann John seine Rolle. Er nahm die Briefumschläge mit dem Geld heraus, acht Stück, und man konnte die Scheine wohl sehen. »Das Wichtigste habe ich vergessen, mein Hauptgeschenk. Costas, morgen fliege ich weg von Athen, ich werde nie mehr hierherkommen, du verstehst. Bist du so lieb und gibst den Kollegen mein Abschiedsgeschenk, sie waren alle so nett zu mir, in meiner schweren Zeit. Es ist nicht viel, eine kleine Aufmerksamkeit. Ihr seid doch acht in der Gruppe, nicht wahr? Jeder soll was kriegen, weil ihr mir so geholfen habt.« Er legte die acht Briefumschläge vor sich auf den Tisch. Gerade servierte der Kellner das Meze, unzählige kleine Tellerchen und Schüsseln füllten im Nu den Tisch, John schob die Kuverts näher zu sich, nur um Platz zu machen. »Costas, tust du das für mich? Liebe Grüße noch an die Kollegen, ein Umschlag für dich, ist überall dasselbe drin, ihr wart alle so nett.«

John lallte die ganze Zeit, aber er beobachtete scharf. Den Costas hatte er unterschätzt, das war ihm in dieser Sekunde klar. Als der Chefinspektor das viele Geld sah, schien er mit einem Schlag nüchtern, vom Kotzen war keine Rede mehr.

»Natürlich, gern«, meinte er, aber es wäre nicht nötig gewesen. Immerhin war er so gierig auf das Geld, daß er seine Augen von den Umschlägen nicht abwenden konnte. »Doch«, sagte John, lallte es, ich hab’s ganz vergessen, mein Abschiedsgeschenk«. Er begann in Ruhe zu essen.

»Meine Kollegen werden sich sicher freuen«, meinte der Chefinspektor. Er hatte noch keinen Bissen angerührt. »Die Fische sind großartig«, sagte John. Er stopfte ein paar dieser kleinen Fische in den Mund, trank Wein. »Prost, Fische müssen schwimmen.« Wieder gelallt.

Costas begann zaghaft zu essen. Man konnte ihm anmerken, daß er nur an den Briefumschlägen interessiert war. John hätte seine Seele gegen einen Hosenknopf gewettet, daß keiner der anderen sieben Polizisten auch nur eine Drachme von dem Geld sehen würde. »Eigentlich ist es eine Schweinerei«, jammerte er. »Ich hab’ die Zeitungen gelesen. Dieser Ben Houri, der verhandelt jetzt mit deiner Regierung über die Freilassung seiner Helden. Meine Familie und die anderen sind umsonst gestorben. Deine Regierung wird die Strolche sicher freilassen, mir egal, aber ist das nicht traurig? Wozu haben so viele Menschen sterben müssen? »Ben Houri«, fragte Costas geistesabwesend und starrte auf die Briefumschläge. »Na, der Abgesandte vom ›Roten Oktober‹, ich hab’s in den Zeitungen gelesen. Ben Houri oder so heißt er, ist das nicht alles traurig, lieber Freund?« »El Hayiani« sagte der Chefinspektor, »nicht Ben Houri, ich hab’ das nicht gelesen, der Name ist doch geheim.« »Ich habe Ben Houri gelesen«, lallte John eigensinnig, »ist auch scheißegal, scheißegal, aber ihr müßt auf den Burschen aufpassen, ist das nicht traurig?« »Wir nicht«, sagte der Chefinsepktor entschuldigend, »das macht eine andere Abteilung. Im Hellenicos sitzen zehn Leute von denen, alles Politik, verstehst du, alles Politik.« Man konnte ihm ansehen, am liebsten hätte er die Briefumschläge gleich eingesteckt. »Hellenicos?« stotterte John und verschüttete ein wenig Wein. Die Umschläge wurden feucht. »Ein Hotel, er ist dort unter strenger Bewachung, alles sehr geheim, aber nicht unsere Abteilung, wir machen so was nicht«, meinte der Chefinspektor, wieder fast entschuldigend. »Ist ja egal, prost Costas, prost, das Leben geht weiter. Bist du also so nett?« Er nahm die Briefumschläge und schob sie über die Schüsseln und Tellerchen zu Violaris. »Und recht liebe Grüße noch.« Der Chefinspektor schien tatsächlich wieder ganz nüchtern. Rasch stopfte er die Umschläge in seine Brusttasche. »Das mach’ ich natürlich, vielen Dank auch im Namen der Gruppe.«

»Du ißt ja gar nichts«, nörgelte John, wie es Betrunkene tun, »gar nichts ißt du, das Meze ist wirklich gut. Wenn man trinkt, muß man auch essen, merk dir das.« Costas Violaris versprach, sich das zu merken und aß ein paar Bissen. John fühle deutlich, daß sein neuer Freund am liebsten heimgerannt wäre, das Geld zu zählen.

»Gehen wir noch in eine Bar?« fragte er.

Leider, es wäre schon sehr spät, das ginge nicht mehr.

»Jetzt läßt du mich allein«, leierte John betrunken.

»Vielleicht ein andermal«, meinte Costas lauernd.

»Ich komme doch nie wieder nach Athen«, sagte John bestimmt, »Du verstehst mich sicher, all die Erinnerungen, ich fahr’ morgen nach Paris und löse dort meinen Haushalt auf. Dann gehts wieder auf die Ölfelder nach Kuweit. Athen existiert für mich nicht mehr, all die Erinnerungen, verstehst du mich?« Der Chefinspektor verstand. Er blickte mitfühlend. John hätte noch einmal gewettet, Seele oder Hosenknopf. Nun, er konnte zufrieden sein. Also, es täte ihm sehr leid, aber es wäre jetzt wirklich an der Zeit. Violaris blickte wieder auf die Uhr. John möge nicht böse sein.

»Ich bleibe noch ein wenig«, meinte John, »fliege erst morgen um neun.« Die beiden umarmten sich, alte Freunde. John spürte, wie die Umschläge in der Brusttasche des Inspektors knisterten. Er war zufrieden und bestellte noch eine Flasche Wein, die er allein austrank, ruhig und entspannt. Alles lief richtig. El Hayiani, Hotel »Hellenicos«. Alles war so einfach gewesen.

Die Sprechpuppe

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