Читать книгу Mörder-Quoten - Leo Lukas - Страница 10
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ОглавлениеErst nach mehreren Anläufen schaffte ich es, den Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür einzufädeln und aufzusperren, so sehr zitterten meine Hände. Mit weichen Knien wankte ich zum Sofa und streckte mich der Länge nach aus, obwohl ich noch die Schuhe anhatte.
Ich versuchte, mich an die Atemübungen zu erinnern, die man uns in der Schauspielschule empfohlen, ja eingebläut hatte. Durch die Nase ein, als tränke man Nektar; durch den Mund aus, so langsam, dass eine Kerzenflamme flackerte, jedoch nicht erlosch … Schon vor 20 Jahren hatte dies keine beruhigende Wirkung auf mich ausgeübt, eher im Gegenteil. Was dann? Eine Weile hatte ich Autogenes Training betrieben. Vielleicht funktionierte das?
Also: „Ich bin ganz entspannt … Meine Arme und Beine sind warm und schwer … Mein Herz schlägt ruhig und regelmäßig …
Bis der Bravo kommt und mich umbringt.“
Fast hätte ich laut aufgeschrien. Ich setzte mich auf. So wurde das nichts. Eine Zigarette wäre fein gewesen. Aber ich rauchte seit fünf, nein sechs Jahren nicht mehr. Dies war einer der seltenen Momente, in denen ich das bereute.
Ich strich kreuz und quer durchs Wohnzimmer. Nach einer Weile gelang es mir ansatzweise, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Erstens, der Bravo war ein Freak, und zwar ein gefährlicher, zu so gut wie allem fähiger. So viel stand fest. Aber war er zweitens auch wirklich ein Berufskiller, oder bildete er sich das ein? Und machte das drittens in meiner konkreten Situation überhaupt einen Unterschied?
Mein Handy piepte, worüber ich dermaßen erschrak, dass mir ums Haar den Schädel an der Kante des Lampenschirms angestoßen hätte. Wenn das so weiterging, brauchte bald ich einen Nervenarzt. Ich tippte aufs Display: Ein SMS war eingegangen, von der Filmakademie. Die Drehs mit den Szenen, an denen ich beteiligt war, sollten bereits diesen Samstag und Sonntag stattfinden, und zwar außerhalb von Wien. Ob ich prinzipiell Zeit hätte. Details würden folgen.
Ich bejahte mit fliegenden Fingern.
Danach stierte ich minutenlang das Smartphone an. In der abgedunkelten Oberfläche spiegelte sich mein verkniffenes Gesicht. Laut Kurzbeschreibung war der Charakter, den ich zu verkörpern hatte, fast doppelt so alt wie ich. Derzeit hätte ich das auch ohne Maskenbildnerin glaubhaft rübergebracht.
Hatte, viertens, der Bravo soeben mitgelesen?, setzte ich die Aufzählung fort. Würde er mich fünftens dafür bestrafen, dass ich, ohne ihn zuvor um Erlaubnis zu fragen, den Wochenend-Termin bestätigt hatte?
Nein. Nein und nochmals nein – ich durfte mich, sechstens bis mindestens zwölftens, nicht komplett kirre machen lassen! Ich würde, beschloss ich, in Ruhe überlegen, an wen ich mich um Hilfe oder Rückendeckung wenden könnte. Gugu Guthmann? Die Polizeiinspektorin Karin Fux, die angeblich hinter einem Auftragsmörder her war? Die Telefonseelsorge? Haha, Scherzchen. Jedenfalls musste es so geschehen, dass der Bravo auf keinen Fall Wind davon bekam. Mit dem Erwerb eines zweiten Handys würde es sehr wahrscheinlich nicht getan sein. Sowieso war angeraten, nichts zu überstürzen. Denn sollte sich herausstellen, dass mein neuester und bedrohlichster Bekannter doch nur ein Spinner war, hätte ich mich unsterblich blamiert, wenn ich mit der Geschichte von Pontius zu Pilatus hausieren gegangen wäre.
Daher Zwischenfazit: Pomali, pomali, wie meine böhmische Großmutter zu sagen pflegte. „Immer schön langsam und gemütlich. Vom Hudeln kommen die Kinder.“
Vorläufig, bis ich einen vernünftigen Entschluss gefasst hatte, würde ich so tun, als hegte ich keinerlei Zweifel an den Aussagen des Bravos. Ich würde brav seine Anweisungen befolgen. Anders ausgedrückt, folgte ich der bewährten österreichischen Tradition, eine Entscheidung erst einmal so weit wie möglich hinauszuschieben und zu hoffen, dass sich derweil das Problem von selber löste.
Schon deutlich zuversichtlicher, brach ich zum Dombrowski-Platz auf.
Unterwegs durchforstete ich mein Gedächtnis nach potenziellen Auskunftspersonen. Wer könnte über das hiesige Wettgeschäft Bescheid wissen?
Eine Journalistin kam mir in den Sinn, besser gesagt das Kürzel, mit dem sie ihre Artikel zeichnete: ClaRa. Hm. Wovon war das noch mal die Abkürzung gewesen? Sie arbeitete als Reporterin für den Lokalteil eines Boulevardblatts, dessen Niveau im umgekehrten Verhältnis zur Auflagenhöhe stand. Vor einigen Jahren war ich bei einer Weihnachtsgala der Zeitung aufgetreten und hinterher, weit nach Mitternacht, zufällig Zeuge geworden, als ein betrunkener und entsprechend enthemmter Vorgesetzter der besagten Dame sehr ungalant auf die Pelle rückte. Geistesgegenwärtig hatte ich eingegriffen, den lallenden Romeo mit geheuchelter Bewunderung seiner Kolumnistenkünste abgelenkt, dadurch der von ihm Bedrängten den Abgang ermöglicht und zugleich einen Eklat vermieden, der sich wohl ungünstig auf ihre Karriere ausgewirkt hätte. Später hatte sie gesagt, zum Dank für die Rettung vor dem grindigen Grapscher sei sie mir einen Gefallen schuldig. Ich möge mich bei ihr melden, wenn ich einmal etwas bräuchte.
Bislang hatte ich noch nicht darauf zurückgegriffen. Ich war auch keineswegs sicher, ob ClaRa das Versprechen halten würde. Eine Frage, die sich gar nicht stellte, sofern mir nicht der volle Name einfiel.
Ich zermarterte mir den Kopf. Der erste Teil stand für … Claudia. Oder?
Nein.
Doch!
Claudia Rappold. Das war’s!
Ich rief bei der Zeitung an, verlangte nach Frau Rappold von der Lokalredaktion, es knackste zweimal in der Leitung, und dann war sie erstaunlicherweise auch schon dran. „Mein Ritter in schimmernder Rüstung!“, sagte sie, als ich mich zu erkennen gegeben hatte. „Lange nichts gehört von Ihnen. Womit kann ich dienen?“
Wie mir der Bravo geraten hatte, rechtfertigte ich mein plötzlich erwachtes Interesse an Glücksspiel und Sportwetten mit der unverhofft ergatterten Filmrolle. „Wenn ich mich nicht irre, haben Sie doch letztes Jahr eine Serie zu diesem Thema geschrieben?“
„Im weitesten Sinne. Das war aber schon vorvorigen Sommer, anlässlich der Neuauflage eines Buchs, das der Haupttäter in der Fußball-Betrugsaffäre von 2014 herausgebracht hat. Unter uns, der Ghostwriter, also der eigentliche Verfasser, war einer unserer Sportreporter.“
„Wie doch die Zeit vergeht … Könnten Sie vielleicht heute oder morgen ein halbes Stündchen für mich erübrigen? Mir geht es nicht so sehr um die Fakten, mehr um die Eigenheiten dieser Szene, sozusagen um den Stallgeruch.“
„Heute Abend bin ich bereits vergeben. Aber morgen Vormittag dürfen Sie mich gern auf einen Mokka einladen. Zirka halb elf, passt Ihnen das? Und wo wäre es Ihnen denn genehm?“
In diesem Augenblick trat ich aus der Gasse auf einen ungefähr quadratischen Platz, den ich länger nicht mehr besucht hatte. Ich war am Ziel. Einige Schritte weiter rechts begann die Fensterfront eines großen Kaffeehauses. Der Windfang des Eingangs ragte an der nächsten Ecke hervor. Seitlich davon hing ein Schild, das vor mindestens einem halben Jahrhundert gemalt worden war, mit dem Namen des Lokals.
„Das Café Winterholzner am Dombrowski-Platz“, sagte ich spontan. „Kennen Sie das?“
„Oh ja. Da waren wir früher manchmal kegeln. Nicht gerade ein Katzensprung für mich, aber Ihnen und der Nostalgie zuliebe … Das Winterholzner gibt’s also immer noch. Na passt. Wir sehen uns dort, morgen zwischen halb elf und elf. Freut mich, bis dann!“
„Bis dann“, echote ich, jedoch ins Leere. Sie hatte bereits aufgelegt.
Im Schanigarten wäre ein Tisch frei gewesen. Da ich mich ohnehin gerade für morgen hier verabredet hatte, ließ ich das Winterholzner trotzdem rechts liegen und ging weiter, um den Platz zu umrunden.
Der Springbrunnen in der Mitte, eine der skulpturalen Scheußlichkeiten, die Wien der Freundschaft eines mäßig begabten Bildhauers mit dem damaligen Bürgermeister verdankte, hatte den Blick auf den diagonal gegenüberliegenden Häuserblock verdeckt. Nachdem ich die Filiale einer Supermarktkette, einen Hanfshop und ein Spielwarengeschäft passiert hatte, in dessen Auslagen der diesmal absolut letzte Totalabverkauf angekündigt wurde, sah ich schräg hinüber zu dem, was von Hugo Pekareks Lucky Star Casino übriggeblieben war.
Viel war es nicht. Rot-weiß-rotes Absperrband hinderte am Zutritt zum klaffenden Loch im Erdgeschoß. Schwarzer Ruß bedeckte die Fassade darüber. Mehrere Fenster hatte man provisorisch mit Karton abgedichtet. Bis zu meinem Standort stank es nach einer Mischung aus Brandgeruch und Löschschaum.
Perverserweise bekam ich Hunger. Ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Das Angebot des Bordbistros im Zug war nicht sonderlich verlockend gewesen. Nun aber knurrte mein Magen.
Wie schön, dass neben dem Brunnen, bei dem diverse marmorne Fabelgestalten um die Wette Wasser spien, ein Würstelstand Labung versprach! Ich ging hin und stellte mich an.
Vor mir war ein Pärchen, das haargenau so aussah, wie österreichische Karikaturisten deutsche Touristen zeichnen. Habe ich schon erwähnt, dass die meisten Klischees ihre Entsprechung in der Wirklichkeit finden? Diese beiden trugen locker schlabbernde Freizeitkleidung einer deutschen Wertmarke, sehr wahrscheinlich made in China. Die Frau las ihre Bestellung aus einem Reiseführer vor: „Wir hätten gern zwo-a Eitrige mit je o-an Buggel, o-an Geschissenen und o-an Krokodü-hül sowie zwo-a Sechzehner-Bleche.“
„Zwei Käsekrainer mit Brot, Kremser Senf, Essiggurke und zwei Dosen Ottakringer Bier“, übersetzte trocken der Mann hinter der Budel. Sein leicht gutturaler Akzent ließ auf türkischen Migrationshintergrund schließen. „Aufgeschnitten?“
„Was?“
„Ob ich die Würstel aufschneiden soll. Oder essen Sie sie lieber mit der Hand? Servietten sind im Preis inkludiert.“
„Wie gehört es sich denn?“, fragte der männliche Germane. „Sie müssen wissen, guter Mann, wir möchten es möglichst o-ri-gi-nal.“ Ein dritter Gast, der so aussah, als würde er das bisschen, das er aß, lieber trinken, lehnte sich herüber. „Des warat mit am Bauchstich, mindestens an Magenstrudel.“
„Strudel habe ich schon gelesen“, sagte die Frau eifrig, „müsste ich aber nachschlagen, Jens-Henning.“
„Ist das nicht eine Süßspeise, Carmen?“
Ups. Ich hatte auf Sieglinde oder Gerhild oder beides getippt. Da war die Globalisierung wieder mal schneller gewesen als meine Vorurteile.
„Danke nein“, sagte sie in Richtung sowohl des Standlers als auch des Tranklers. „Mein Mann und ich achten auf ausgewogene Ernährung mit niedrigem Zucker- und Fettanteil.“
„Da sind sie bei mir genau richtig.“ Ohne eine Miene zu verziehen, reichte der Türkischstämmige die Dosen sowie die Pappteller mit den filetierten Würsten und der überreichen Garnierung heraus. „Macht bitte 12,90.“
„Kann ich mit Bankomat zahlen?“
„Sicher.“
„Geben Sie ein, ähem … 14 Euro und 20 Cent.“
„Zu gütig, gnädige Frau.“
„Sagnse mal, kennense eigentlich Currywurst?“, fragte Jens-Henning, nachdem die Finanztransaktion erfolgreich vollzogen worden war. „Eine Delikatesse! Die solltet ihr in euer Angebot aufnehmen. Dann liefe der Laden noch mal so gut.“
„Würde ich gerne. Leider ist der Koberer dagegen.“
Die Deutschen schoben, ihre Beute balancierend, glücklich ab. Ich hörte noch, wie Carmen ihrem Gatten erläuterte, dass Koberer in der Rotwelsch genannten Wiener Gaunersprache Wirt, aber auch Türsteher, Animateur oder Geschäftsführer eines Bordells bedeutete.
„Der Nächste“, sagte Hassan oder Achmed oder wahrscheinlicher Kevin zu mir. „Was darf’s sein?“
„Dasselbe. Nur lieber ein Hubertus.“
Sein Blick verriet mir, dass ich soeben in seiner Achtung gestiegen war.
Die Käsekrainer schmeckte großartig. Auch das Märzenbier aus der Privatbrauerei in Laa an der Thaya mundete mir ganz vorzüglich.
„Was ist denn dort drüben passiert?“, wandte ich mich kauend an den Säufer, den ich als Stammgast einstufte. „War da nicht bis vor Kurzem ein Wettbüro?“
„Das vom Pekarek, ja. Ein feiner Kerl, der Hugo. Hat immer wieder mal nach seiner Sperrstunde eine Runde spendiert. Friede seiner Asche.“
„So ist das halt“, brachte sich der Würstelstandler ein. „Die Guten treten viel zu früh ab, die Arschlöcher bleiben übrig. Gell, Ferdl?“
Falls Herr Ferdinand den gegen ihn gerichteten Sarkasmus verstand, nahm er ihn widerspruchlos hin. „Alles geht den Bach runter“, sagte er, mehr zu sich als zu uns. „Ehrliches Handwerk bringt nichts ein, seriöses Bemühen zählt einen Scheißdreck. Gibst du mir noch eins, Machmut?“
„Du hast genug für heute, und kein Geld. Ich schreib’s an, okay? Obwohl mir der Koberer verboten hat, dich überhaupt noch zu bedienen. Schau, ich schenk dir ein Packerl Manner Schnitten, damit du auch was Festes in den Magen kriegst. Aber jetzt geh heim, Ferdl. Sei froh, dass du wenigstens noch ein Dach über dem Kopf hast, durch das es nicht hineinregnet.“
„Red nicht so mit mir!“ Der Betrunkene bäumte sich auf. „Ich war einmal wer, es ist noch gar nicht so lange her, da hättet ihr alle, ihr alle hier auf diesem gottverlassenen Flecken Erde, was heißt, Beton“, er schwenkte den Arm so heftig, dass er, vom Schwung übermannt, um die eigene Achse rotierte und beinahe das Gleichgewicht verlor, „darum gebettelt hättet ihr, jawoll, dass ich euch ein Sujet entwerfe, ein Logo, einen Claim oder eine ganze Corporate Identity. Weißt du, wer dem Kanzler seine schlauen Wahlkampfsprüche geliefert hat, mitsamt der beschissenen Leni-Riefenstahl-Ästhetik, weißt du, wer das war?“
„Du nicht, Ferdl. Du warst schon fünf Jahre vor Corona am Sand. Geh heim weinen, ich sag’s nicht noch einmal.“
Ferdinand, der sein Pulver verschossen hatte, zeigte Einsicht und schlurfte davon. Im Vorbeigehen trat er nach einer Pappschachtel am Boden, verfehlte aber.
„Traurig“, sagte ich.
„Wer hoch steigt, kann tief fallen. Der Ferdl war mal ziemlich weit oben, weißt du. Aber er hatte die falschen“, Machmut machte mit den Fingern Anführungszeichen, „Freunde.“
„Und du?“, fragte ich.
„Ich habe einen Bachelor in Soziologie. Aber immerhin diesen Job, und ich rede mir ein, ich kann nebenbei Sozialstudien betreiben.“
„Führst du Aufzeichnungen?“
Er feixte, tippte sich an die Schläfe. „Da. Zu mehr komme ich nicht.“
Ich unterdrückte ein Gähnen. Nach der kurzen Nacht und dem ereignisreichen Tag forderte die Müdigkeit ihren Tribut. „Der Pekarek, vom Wettbüro?“
„Hat sich ebenfalls mit den falschen Leuten eingelassen. Wahrscheinlich ist ihm alles zu viel geworden, ich kann’s ihm nicht verübeln. Dann hat er den Gashahn aufgedreht und sich eine Zigarette angezündet und es überstanden.“
„Warum so fatalistisch? Du heißt Machmut. Mach Mut!“
„Sehr lustig. Ich mache sauber, in ein paar Stunden, wenn ich den Würstelstand zusperre.“ Er wischte mit einem grauen Fetzen, der ebenfalls schon bessere Tage gesehen hatte, über die Budel. Was wohl anzeigen sollte, dass er das Gespräch als beendet betrachtete. „Willst du noch was?“
„Manner Schnitten. Die vom Ferdl zahle ich mit.“
„Sind schon auf Haus boniert. Aber eines seiner Biere könntest du übernehmen.“
So geschah es.