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Es gibt schon Zufälle, da glaubt man nicht mehr an Zufall.

Ich meine, wie hoch ist die Chance, dass die Kundin, die einen Karibikurlaub gewinnt, justament das „Gspusi“ des Filialleiters ist? Oder dass der Verteidiger, der in der 89. Minute ein Eigentor schießt, niemanden kennt, der einen Haufen Geld auf Unentschieden gewettet hat?

Eben. Manchmal muss man halt ein bisserl nachhelfen.

Obwohl das Schicksal auch ganz allein Kapriolen schlagen kann, frage nicht. Nehmen Sie den Bravo und mich. Eine Paarung, sehr viel unwahrscheinlicher geht’s kaum. Zwei verschiedene Welten, fast ohne Berührungspunkte.

Unter uns: Wäre es dabei geblieben, würde ich mich auch nicht beschweren.

Da kann man schon ins Philosophieren kommen. War es irgendwie vorherbestimmt, dass ich den Bravo getroffen habe? Hat uns die Vorsehung zusammengespannt, oder gar ein höheres Wesen?

„Der Mensch denkt, und Gott lenkt“ … Angenommen, das stimmt; dann wäre ich vehement dafür, dem Herrn die Lenkerberechtigung zu entziehen. Weil ganz auf der Höhe kann er nicht gewesen sein, als er sich das ausgedacht hat.

Gut, eine gewisse Mitschuld streite ich nicht ab. Mein lockeres Mundwerk, wieder mal. Ich hätte mir einfach auf die Zunge beißen sollen, und nichts wäre passiert. Bis heute wüsste ich nicht, dass jemand wie der Bravo überhaupt existiert.

Aber der Reihe nach.

Ich war in Graz, wegen eines Sprecherjobs. Mein südsteirischer Akzent ist zwar nach mehr als 20 Jahren in Wien weitgehend abgeklungen, lässt sich aber relativ überzeugend wiederbeleben. Manche Werbeagenturen buchen mich, wenn sie verbalakustisches Lokalkolorit brauchen.

Außerdem fand am Abend die Geburtstagsfeier einer ehemaligen Geliebten statt. Unsere Affäre liegt einige Jahre zurück und dauerte nur wenige Wochen. Falls die Erinnerung mich nicht trügt, exakt, bis ich draufkam, dass die Dame mich hauptsächlich dazu benutzte, ihren Ehegatten eifersüchtig zu machen. Gleichwohl lädt sie mich alle Jahre wieder zur Party ein, obwohl wir sonst keinen Kontakt mehr haben. Jetzt werden Sie nicht ganz unberechtigt fragen, warum ich dann trotzdem hinfahre.

Ja, sehen Sie, mit der Zeit habe ich den Gatten schätzen gelernt. Wir teilten, stellten wir fest, weit mehr gemeinsame Interessen und Vorlieben als bloß seine Gemahlin. Deren Geburtstags-Gelage sind außerdem echt vom Feinsten, und zu später Stunde, wenn sich die übrigen Gäste getrollt haben, fachsimpeln Bernhard und ich genüsslich über diverse Ballsportarten. Öfter als einmal jährlich brauche ich das auch nicht, aber in dieser Frequenz passt’s.

Ich schlief im ehemaligen Kinder- und nunmehrigen Gästezimmer. Tags darauf brunchten wir zu dritt, wie eine sehr in die Jahre gekommene Römerquelle-Werbung. Dann nutzte ich die Gelegenheit, um einen anderen alten Bekannten zu besuchen.

Gustav Guthmann, genannt „Gugu“, war einer meiner besten Kumpels im Gymnasium gewesen. In der sechsten Klasse war er sitzengeblieben, wie übrigens fast alle Banknachbarn von mir, wegen meines ständigen Geblödels. Unserer Freundschaft tat das keinen Abbruch. Während des Studiums teilten wir für einige Jahre eine Wohnung und manche Freizeitaktivität, insbesondere amouröse Abendgestaltungen mit Vertreterinnen des anderen Geschlechts. Nachdem ich nach Wien gezogen war, verloren wir einander allmählich aus den Augen. Gugu legte eine beachtliche Karriere als Psychiater und Psychotherapeut hin, sich ein hübsches Häuschen am Stadtrand zu und den alten Spitznamen ab. Bald waren wir froh, wenn wir uns mehr als einmal im Jahr sahen. Schade eigentlich, aber so spielt das Leben.

Die Praxis lag im Geidorfviertel. Ich hatte mich für späten Vormittag angekündigt, ohne einen genauen Zeitpunkt zu vereinbaren; wollte ja nur kurz vorbeischauen und Gugu, pardon: Gustav, ein Buch übergeben, um das er mich gebeten hatte, einen Sammelband mit einem Beitrag von mir. Wenn irgend möglich, erledige ich so etwas persönlich. Außerdem steht man sich auf der Post die Füße in den Bauch, seit sie eine Filiale nach der anderen aufgelassen haben.

Jedenfalls, das schmucke Gründerzeit-Haus war eine typische Ärzteburg: im Erdgeschoß Orthopädie, erster Stock Uro- und Gynäkologie, zweiter Stock Interne und Augen; ab dem dritten Stock die Psycho-Abteilung, insgesamt vier Therapeuten und Therapeutinnen.

„Professor Guthmann kommt in wenigen Minuten“, sagte die Empfangsdame, sobald sie meinen Namen auf der Liste gefunden hatte. Das kurz geschnittene, weißblond gefärbte Haar kontrastierte reizvoll mit der dunklen Haut. Früher hätten Gugu und ich einer solchen Schönheit um die Wette den Hof gemacht. Was mittlerweile, aufgrund des Altersunterschieds, außer peinlich nur peinlich gewesen wäre. „Wenn Sie bitte so lange im Wartezimmer Platz nehmen.“

„Sein Zimmer ist …?“

„Nummer zwo.“

„Ah ja. Was hat die Koryphäe auf Nummer eins für einen Titel?“

„Dort ordiniert Primaria Orecchietti.“

Ich verkniff mir einen Scherz über ohrenförmige Nudeln. Die letzte Antwort hatte ohnehin schon etwas spitz geklungen. Wie so oft, sah ich mich dem Dilemma gegenüber, dass ich nicht wusste, ob sie wusste, wer beziehungsweise was ich war. Von uns professionellen Komikern wird nämlich erwartet, dass wir entweder jederzeit wahnsinnig originelle Witze reißen oder aber privat wortkarge, melancholische, schwer depressive Trantüten sind. Außerdem kennen mehr Leute meine Stimme als mein Gesicht. „Ich bin’s dein Geschirrspüler …“ und so weiter.

Während ich wartete, fiel mir ein, dass Gugu, als man noch Gugu zu ihm sagen durfte, bei meiner zweiten Hochzeit als Beistand fungiert hatte. Damals hatte ich die rituelle Frage „Wollen Sie, Herr Peter Szily, Frau Nora Irgolic-Milenkova zur Frau nehmen?“ verneint, zur nicht gelinden Überraschung sämtlicher Anwesender. Der Grund war gewesen, dass die Standesbeamtin zwei der drei Nachnamen falsch ausgesprochen hatte und ich einen Schreibfehler in den Dokumenten befürchtete. Mit derlei hatte ich reichlich leidvolle Erfahrungen gemacht. Wer ebenfalls ähnlich wie ein Würzkraut heißt, weiß, wovon ich rede. Gugu und die Beiständin meiner zukünftigen Ex brachen in haltloses Kichern aus. „Wir sind hier nicht im Comedyclub!“, fauchte die Standesbeamtin erbost. Das Missverständnis konnte rasch bereinigt werden. Gleichwohl stand die Ehe unter keinem guten Stern, aber das ist eine andere Geschichte.

Wo war ich? Richtig, im Wartezimmer. Es gab nur uralte, zerfledderte Ausgaben von Psychologie heute sowie das übliche Ecktischchen mit grindigem Kinderspielzeug, auf dem sich mehr Bakterienkulturen tummelten als in den Labors der Geschoße unter uns. Längst waren zehn Minuten verstrichen. Mir wurde langweilig. Zudem hatte ich geplant, den Zug um 12.26 Uhr zu nehmen, und Mittag war nicht mehr weit. Deshalb beschloss ich, das Buch mit einer flotten Widmung zu versehen und im Zimmer meines Freundes zu deponieren.

Ich malte also schwungvoll: „Für Professor Doktordoktor Gugu Guthmann, den alten Synapsenschlosser!“ – Spaß muss sein – und begab mich in Zimmer Nummer 2. Die Einrichtung entsprach haargenau den Vorstellungen, die man sich von Psychotherapeuten macht: Bücherwand voller dicker Wälzer, mächtiger Schreibtisch, zwei Polstersessel, Sigmund-Freud-Memorial-Couch, alles da. Wie ich ja überhaupt im Laufe meines Lebens festgestellt habe, dass die allermeisten Klischees zutreffen. Staatspolizisten zum Beispiel tragen so gut wie immer Trenchcoats und lächerliche Schlapphüte. Bevor Sie mir unterstellen, ich würde diese oder jene Berufsgruppe verunglimpfen wollen: Nichts läge mir ferner! Habe schließlich auch schon das eine oder andere Mal die Dienste eines Seelenklempners in Anspruch genommen und häufig davon profitiert. Obwohl ich es bei therapeutischen Sitzungen immer wieder komisch finde, wenn ausgerechnet ich jemand dafür bezahle, dass er oder sie mir dabei zuhört, wie ich mein Innenleben ausbreite …

Eben hatte ich das Buch mitten auf der edlen ledernen Schreibtischunterlage abgelegt und wandte mich zum Gehen, da öffnete sich, ganz leise quietschend, die Tür. Herein trat – nicht Gustav Guthmann. Sondern jemand, so durchschnittlich und unscheinbar, dass ich mehrfach blinzelte, um mich zu vergewissern, dass ich mich nicht getäuscht hatte und wirklich nicht mehr allein im Zimmer war.

„Guten Tag“, sagte der Neuankömmling, mit einer Stimme, ebenso unauffällig wie seine gesamte Erscheinung. Sie klang keineswegs monoton, auch nicht flach oder zu leise, bloß … absolut eigenschaftslos. „Wir haben einen Termin. 11 Uhr 45, Raum zwei. Stimmt das?“

„Ja, sicher. Äh. Klar“, stotterte ich. Gefasster fügte ich hinzu, weil mir nichts Geistreicheres einfiel: „Pünktlichkeit ist eine Zier, man sagt auch, die Höflichkeit der Könige.“

Zu meiner Ehrenrettung sei vermerkt, dass mich die Begegnung auf dem falschen Fuß erwischte. Ich hatte mir Zutritt zu Gugus Zimmer verschafft, ohne die Empfangsdame zu informieren, und fühlte mich gewissermaßen ertappt.

Gleichzeitig war das Merkwürdige an dem Fremden, dass eben nichts an ihm merk-würdig war. Blickte ich kurz weg, hatte ich ihn schon fast wieder vergessen. Es handelte sich wohl um eine Art Gabe, ein spezielles Talent, eine angeborene oder anerzogene Fähigkeit, wie sie mir noch nie untergekommen war. Die Gesellschaftsschichten, in denen ich mich gewöhnlich bewege, strotzen vor offensiven Selbstdarstellern. Die „Szene“ heißt so, weil alle immerzu ein Theater aufführen, vor den anderen, aber auch vor sich selbst. Alle geben etwas vor, niemand gibt etwas zu, schon gar keine Zweifel an der eigenen Wichtigkeit.

Dieser Mann hingegen erweckte nicht im Mindesten den Eindruck, sich in den Vordergrund stellen zu wollen. Vielmehr hinterließ er gar keinen Eindruck. „Mir wurde versichert“, sagte er ruhig und sehr beherrscht, „dass Sie der Schweigepflicht unterliegen. Nichts, was hier geredet wird, verlässt diesen Raum. Richtig?“

„Richtig.“ Ich räusperte mich und setzte zu einer Erklärung an.

„Nichts wird aufgezeichnet?“ Er zog ein schlankes silbriges Kästchen aus der Hosentasche. Ein grünes Lämpchen leuchtete auf. „Keine Wanzen.“ Es war nicht als Frage formuliert.

„Die Praxisgemeinschaft beschäftigt einen sehr guten Kammerjäger“, sagte ich.

„Wieso?“

„Gegen Ungeziefer. Kammerjäger – Wanzen. Sie verstehen?“

„Ja. Sehr witzig.“ Als der Humor verteilt wurde, hatte der Typ sich definitiv nicht vorgedrängt. „Wir haben eine Dreiviertelstunde vereinbart. Keine Zeit für Floskeln. Darf ich gleich anfangen?“

Das war der Moment, in dem ich spätestens hätte sagen sollen: „Pardon, Sie verwechseln mich. Ich bin kein Psychiater, nur ein zufälliger Besucher.“

Stattdessen deutete ich schwungvoll auf den Stuhl links neben dem Schreibtisch. „Bitte, nehmen Sie Platz.“

Ich meine, streng genommen hatte ich nicht gelogen, oder? Alle von mir getätigten Aussagen waren wahr gewesen. Vor allem aber faszinierte mich der „Mann ohne Eigenschaften“ mindestens im selben Ausmaß, wie er mir unheimlich war. Schon rein berufsbedingt musste ich ihn näher studieren, solange ich die Möglichkeit dazu hatte. Falls es mir gelang, seine seltsame, so kontrolliert unpersönliche Stimmgebung zu kopieren, konnte ich damit vielleicht einen eigentümlichen Charakter für ein Hörspiel kreieren.

Kaum hatte er sich gesetzt, sagte er: „Mir ist etwas passiert, das ich kaum glauben kann. Ich möchte sichergehen, dass ich nicht unter Gedächtnisverlust oder Wahrnehmungsstörungen leide. Sie kennen sich doch damit aus?“

Die zweite Chance, seinen Irrtum aufzuklären, erschien vor meinem geistigen Auge wie ein hübscher, vernünftig karierter Schmetterling, der ohne Hast, fröhlich mit den Flügeln winkend, an mir vorbeiflatterte. „Sicher“, sagte ich.

„Gut. Sie müssen wissen“, sagte er, „ich bin ein Bravo. Das ist ein anderes, älteres Wort für Auftragskiller. Im Wiener Kunsthistorischen Museum gibt es sogar ein Gemälde von Tizian, das den Titel ‚Der Bravo‘ trägt. Es zeigt einen Meuchelmörder, der gerade den Dolch zückt.“

„Ah ja.“

Ich war erleichtert, fast schon wieder beruhigt. Offensichtlich handelte es sich bei meinem Gegenüber doch um einen harmlosen Verrückten. Schließlich befanden wir uns in einer psychiatrischen Ordination. Andere Patienten mochten sich für Jesus halten, für Napoleon oder Richard III. mitsamt seinem Pferd.

„Sie stehen im Dienst der Mafia?“, fragte ich, um das Gespräch weiter anzukurbeln. „Oder eines anderen Verbrechersyndikats?“

„Nein; beziehungsweise nicht dauerhaft. Ich bin selbstständig und arbeite strikt allein. Meine Auftraggeber kenne ich normalerweise gar nicht.“

„Ah ja. Erzählen Sie mir doch bitte mehr!“ Insgeheim rieb ich mir die Hände. Einen derartig vielversprechenden Fund machte unsereins nicht oft.

„Ich bin hier“, sagte er, „weil ich ausschließen möchte, dass mich meine Erinnerung trügt.“

„Sehr vernünftig. Sie wissen, dass allgemein auf das menschliche Gedächtnis wenig Verlass ist?“

Darüber hatte ich kürzlich gelesen. Die Details waren mir entfallen, aber ich fand, der Einwurf klang ungemein gescheit. Beinahe hätte ich zu einem Exkurs über den Rashomon-Effekt angesetzt, jenes nach Kurosawas Filmkunstwerk benannte Phänomen der selektiven Wahrnehmung; hielt mich dann aber doch im Zaum.

„Ja“, sagte er. „Ich bin unsicher, ob ich einen Mord, den ich hätte ausführen sollen, tatsächlich begangen habe.“

Ich spürte, dass sich mir die Nackenhaare aufstellten. Weidlich bemühte ich mich, das Gefühl zu ignorieren, ich würde in eine Sache hineingezogen, die mir alsbald über den Kopf wachsen könnte. „Unangenehm“, sagte ich, Verständnis vortäuschend. „Was bringt Sie zu dieser Vermutung?“

„Das Ganze war überhaupt nicht mein Stil. Vielmehr im Endergebnis ein Pfusch, wie er mir niemals unterlaufen würde.“

„Ah ja.“ Ich nickte, breitete aufmunternd die Arme aus. „Schildern Sie doch einfach, was Sie daran bedrückt.“

Und das tat er.

Mörder-Quoten

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