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ОглавлениеBinnen weniger Stunden zweimal düpiert worden zu sein, ärgert den Bravo sehr. Was ist bloß los mit ihm? Seit wann ist er so vertrauensselig, dass er auf einen falschen Psychiater hereinfällt und diesem intimste Geheimnisse anvertraut?
Der Kerl heißt Peter Szily, hat der Bravo bei der Sprechstundenhilfe erfragt. Er ist ein Schulfreund des Professors und lebt in Wien. Mit diesen Basisinformationen lässt sich leicht weiterforschen. Szily tritt häufig und bei verschiedensten Anlässen in Erscheinung, wenn auch meist am Rande. Es dürfte sich um einen Lebenskünstler in mehrfacher Hinsicht handeln, der vieles kann, aber nichts wirklich gut, am ehesten noch Stimmen parodieren. Hauptsächlich arbeitet er als Effektsprecher für Werbungen und Radio-Comedy.
Während der Bravo seinen gemieteten Opel Corsa über die regennasse Südautobahn steuert, überlegt er, ob er diesen Szily wird töten müssen. Kann er sich einen Mitwisser leisten? Noch dazu einen Komödianten, dem die Geschwätzigkeit förmlich in die Wiege gelegt wurde?
Szilys alles andere als frisches Hemd und sein restliches Äußeres deuteten nicht gerade auf hohe Selbstdisziplin und Zuverlässigkeit hin. Mit viel gutem Willen konnte man ihm etwas wie legeren Chic attestieren. Schon beim ersten Eindruck hätte der Bravo stutzig werden müssen! Aber die sonore, wohlmodulierte Baritonstimme hat ihn eingelullt. Er hat schockierend viel von sich preisgegeben; jedoch nichts, wodurch er unmittelbar auszuforschen wäre.
Oder?
Den Termin beim Psychiater hat er unter falschem Namen ausgemacht. Die hundert Euro Einsatz, die er hinterlegen musste, weil er keine E-Card vorweisen wollte, sind leicht zu verschmerzen. Weder hat er Szily die Wohnung, in der das eingelegte Ohr deponiert ist, genauer beschrieben, noch deren Lage oder den Weg von dort zum Dombrowski-Platz. Und dass er privat am liebsten um 7.30 Uhr frühstückt, verrät etwaigen Feinden gar nichts – denn schließlich tut er dies ausschließlich, wenn er alleine ist.
Trotzdem kann er nicht zulassen, dass Peter Szily brühwarm überall herumerzählt, er habe einen Auftragskiller namens Bravo kennengelernt. Wenn das den falschen Leuten zu Ohren käme, wäre sein Ruf ruiniert!
Aber Moment. Vielleicht kann er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. So oder so – der Bravo muss den Mord aufklären, den eigentlich er hätte begehen sollen. Und ob es ihm schmeckt oder nicht, er wird dabei Unterstützung brauchen. Für manche Recherchen sind die Umgangsformen, die er über die Jahre kultiviert hat, ungeeignet bis kontraproduktiv. Hingegen besitzt dieser Szily, so scheint es, soziale Fertigkeiten im reichen Maß …
Der Kleinwagen ist kein Ferrari. Das macht nichts; der Bravo fährt sowieso maximal 137 km/h, obwohl es auf der niederösterreichischen Seite des Wechselgebirges nicht regnet und die lange Gerade zwischen Grimmenstein und Wiener Neustadt trocken ist. Zu schnell wäre unklug, zu langsam ebenso: Wer sich sklavisch genau an Geschwindigkeitsbegrenzungen hält, erweckt mittelfristig ähnlich viel Aufmerksamkeit wie ein Raser.
Da die Eisenbahn für die Strecke Graz–Wien zweieinhalb Stunden benötigt, kommt der Bravo mit genügend Vorsprung in der Bundeshauptstadt an, um einen Parkplatz zu finden und Peter Szilys Adresse auszukundschaften. Die Gasse ist verkehrsberuhigt, die zweistöckigen Häuser ähneln einander stark, sie wurden wohl zur selben Zeit errichtet. Das schmucklose Vorhaus von Nummer 19 war, nach dem Kopfsteinpflaster zu schließen, früher ein „Durchhaus“, eine Kutscheneinfahrt. Am hinteren Ende führt links eine Treppe nach oben, rechts ein kurzer Gang zu den drei Wohnungen im Parterre. Dort wartet der Bravo. Er hat einen Bleistift hinters Ohr geklemmt und ein Maßband in der Hand. Wenn jemand die Stiege herunterkommt, misst der Bravo die Oberlichte der Hoftür ab: 146 mal 57,3 Zentimeter. Niemand nimmt von ihm Notiz.
Heimlichkeit ist eine seiner großen Stärken. Die zweite ist das genaue Gegenteil: Un-heimlichkeit, also Überrumpelung und Entmutigung. Diese Mittel wendet der Bravo viel seltener an. Nach Möglichkeit vermeidet er die Konfrontation, schon gar jeglichen Dialog mit einem Opfer. Idealerweise ist der einzige Kontakt der finale, letale. Aber falls notwendig, kann er einem Gegenüber blitzartig solchen Schreck einjagen, dass es zu keiner Abwehrreaktion mehr fähig ist. Dazu muss er nicht laut werden und auch keine Schuss- oder Stichwaffe bemühen.
Bei Peter Szily funktioniert die Einschüchterungstaktik perfekt. Während er am Postkasten hantiert, tritt der Bravo lautlos an ihn heran, räuspert sich, und als Szily zusammengezuckt und herumgewirbelt ist, zitiert ihn der Bravo, ebenso leise wie eindringlich: „Ah ja. Und da bist du nun.“
Szilys Mund klappt auf. Er ringt um Atem und Fassung. Bevor er seine so betörende Stimme wiederfinden kann, sagt der Bravo: „Gehen wir, Pezi. Los, raus.“ Er stößt die angelehnte Tür zum Hinterhof mit der Schuhspitze auf. Mit dem ausgestreckten Arm treibt er Szily, ohne ihn zu berühren, vor sich her.
Im Hof stehen drei kümmerliche Bäume, fünf Mülltonnen und eine verwitterte Rattan-Sitzgarnitur. Ein windschiefer Holzschuppen schmiegt sich an die Begrenzungsmauer zum Nachbargarten. „Hinein da!“
Drinnen hängt allerlei Werkzeug an den Wänden. Es gibt keine Fenster, aber durch Ritzen zwischen den Brettern fallen Lichtstreifen. Der Effekt verleiht der Enge eine zusätzliche Dramatik, die einen Bühnenmenschen wie Szily gewiss nicht kaltlässt.
Der Bravo zeigt auf die schmale Bank. „Setz dich, Pezi. Hast du bis jetzt irgendwem von mir erzählt?“
„N-nein.“ Szily hüstelt, leckt sich über die Lippen. „Hören Sie, es besteht keinerlei Grund für eine Kurzschlusshandlung. Wie ich Ihnen schon in Graz sagte: Nichts, was in diesem Ordinationsraum gesprochen worden ist, wird darüber hinaus dringen. Mein Ehrenwort!“
Sagt er die Wahrheit? „Du hast mich verarscht. Tu das nie wieder. Ich mag es nicht, verarscht zu werden.“
„Bitte verzeihen Sie mir. Es lag keineswegs in meiner Absicht, Sie, ähem, respektlos zu behandeln.“ Seine Stimme gewinnt an Volumen und Selbstsicherheit hinzu.
Dem ist gegenzusteuern. „Wir müssen alle sterben“, sagt der Bravo leichthin. „Die Frage ist, wie bald. Manchmal liegt die Entscheidung bei einem selbst.“ Er kramt langsam, wie gedankenverloren, in seiner Umhängetasche, zieht raschelnd den Zipfel eines Plastiksacks heraus, stopft ihn zurück, schließt die Tasche wieder. Indirekte Drohungen, hat er die Erfahrung gemacht, wirken viel besser als direkte. Den schlimmsten Horror erzeugt immer noch die eigene Fantasie.
Peter Szily schluckt. Er ist ein paar Zentimeter größer als der Bravo und in den Schultern um einiges breiter. Trotzdem wirkt er unterlegen, wegen seiner schlechten Haltung und der mangelhaften Körperspannung. Das Gewand ist gefällig kombiniert, findet der Bravo, der sich mit Herrenmode auskennt: Unpassende Kleidung ergibt keine gute Ver-kleidung. Allerdings sind sowohl die Lederjacke als auch die Sneakers einige Jahre zu jung für Szily. Er dürfte das nahende Alter spüren, sich aber bemühen, es nicht an sich heranzulassen, wie auch andere unliebsame Dinge.
„Glauben Sie mir“, sagt er in nun wieder kleinlautem Tonfall, die Hände wie zum Beten gefaltet, „ich werde Ihnen garantiert keine Schwierigkeiten bereiten.“
„Was meinst du, Pezi? Schwierigkeiten welcher Art?“
„Keine. Gar keine! Wir tun einfach, als wären wir einander nie begegnet, okay? Ich lasse Sie in Frieden, und vice versa. Jeder geht seiner Wege, nichts ist passiert.“
„Niemand trägt Schaden davon.“
„Ja. Genau! Wir verstehen uns. Alles ist gut.“ Er fächert die Finger auf. „Kann ich jetzt gehen?“
„Nein. Ich vertraue dir nicht. Beweis mir, dass du es ehrlich meinst.“
„Wie, wie soll sich …“ Szily, der schon zum Aufstehen angesetzt hat, sackt zusammen. „Was verlangen Sie als Beweis?“
„Du assistierst mir dabei, die Hintergründe von Pekareks Ermordung aufzudecken.“
„Was?“
Szily gafft ihn so entgeistert an, dass der Bravo erkennt: Der andere fürchtet sich zwar vor ihm, keine Frage – aber er hält ihn nicht für einen Berufskiller, sondern schlicht für wahnsinnig. Verdammter Besuch beim Psychiater! Nie wieder, schwört der Bravo, wird er sich mit dieser Bagage einlassen. Egal. Momentan spielt es keine Rolle, warum ihm Szily gehorcht. Hauptsache, er spurt und hält dicht. „Du sollst deine große Klappe einsetzen, aber ausschließlich so, wie ich es dir anschaffe, klar?“
„Ehrlich gesagt …“
„Ein Wort, ein einziges Sterbenswörtchen nur, das dir über mich herausrutscht, und du siehst nie wieder die Sonne aufgehen. – Gib mir dein Handy.“
„W-W-Wieso?“
„Frag nicht lang. Her damit, Pezi.“ Er nimmt das Smartphone entgegen und öffnet es mithilfe eines Uhrmacher-Schraubenziehers. Dann steckt er eine Chipkarte in den Hybrid-Slot. „Das ist ein spezielles Modul“, erklärt er. „Über diese Karte kann ich dein Gerät in Fernsteuerung nehmen. Du kennst das Gerücht, dass Google bei den meisten Handy-Mikrofonen mithört?“
„Mhm“, nickt Szily. Er verzieht das Gesicht. Wie viele seiner Zeitgenossen identifiziert er sich dermaßen mit dem Mobiltelefon, dass er fast körperliche Schmerzen verspürt, wenn sich ein anderer daran zu schaffen macht.
„Dass ich bei dir mithören kann, ist definitiv kein Gerücht, verstehst du? Ab sofort weiß ich auch, wo du bist, welche Nachrichten du verschickst und so weiter.“ Der Bravo schließt die Abdeckung und gibt das Handy zurück. „Du hast jetzt einen unsichtbaren großen Bruder, Pezi. Vergiss das nie. Und komm gar nicht erst auf die Idee, diesen Chip entfernen zu wollen.“ Er klopft auf die Brusttasche, aus der sein eigenes Smartphone ragt. „Selbstverständlich würde ich das ebenfalls unverzüglich bemerken.“
Peter Szilys Teint war von Anfang an nicht der gesündeste. Nun changiert er zwischen nikotingrau und wachsbleich. „Was … Was soll ich als Erstes tun?“
„Bring in Erfahrung, ob Pekarek ausgewiesene Feinde hatte. Oder Rivalen, die ihm sein Wettbüro abluchsen wollten. Horch dich am Dombrowski-Platz um. Aber vorsichtig, kapiert? Außerdem bist du doch sicher mit einer Menge Medienleuten befreundet.“
„Naja, die meisten sind aus den Kulturredaktionen. Und befreundet ist vielleicht zu viel gesagt.“
„Der eine oder andere wird schon darunter sein, der auch in der Glücksspielmaterie bewandert ist. Sag ihnen, du brauchst die Infos, um dich auf deine Rolle in diesem Diplomfilm vorzubereiten.“
„Woher wissen Sie …?“ Szily verstummt, beißt sich auf die Unterlippe.
In Wahrheit kann der angebliche Zauberchip im Handy nicht einmal die Hälfte all dessen, was der Bravo behauptet hat. Von der kommenden Filmrolle hat er erfahren, weil Szily kürzlich etwas darüber auf Facebook gepostet hat. Aber das bindet er ihm nicht auf die blasse Nase.
„Ich werde mich bemühen und gleich morgen …“
„Heute, Pezi. Der Tag ist noch jung.“
„Eigentlich hatte ich vor, mit Freunden im Museumsquartier Boule zu spielen. Wie jeden Donnerstag ab fünf, wissen Sie, und es täte mir echt leid …“
„Dir ist der Ernst deiner Lage aber schon bewusst, oder?“ Der Bravo staunt über Szilys Oberflächlichkeit. „Du könntest bereits still, starr und stumm auf dieser Bank liegen. Ich lasse dich am Leben, solange du mir nützt. Falls du mir nützt. Sonst …“
„Ja. Okay. Sicherlich. Entschuldigung, ich war ein bisschen … unkonzentriert. – Wie kann ich Sie erreichen, wenn ich etwas herausgefunden habe?“
„Mach dir diesbezüglich keine Sorgen.“ Der Bravo zwinkert kumpelhaft mit dem rechten Auge. „Ich erreiche dich. Wann immer ich will.“