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„Ah ja“, sagte ich. „Und da sind Sie nun.“

„Sie verstehen, was ich mir von Ihnen erhoffe?“

„Im Prinzip schon. Aber mir fehlen noch ein paar Details“, wich ich einer klaren Antwort aus. „Dieser Vorfall in Wien, wann war der genau?“

„Letzte Nacht“, sagte der Mann, der sich Bravo nannte, mit seiner gleichförmig unaufdringlichen Stimme. „Sie sind der Experte. Kennen Sie Erkrankungen, die auf meinen Fall zutreffen könnten?“

Quietschend ging die Tür auf. Professor Gustav Guthmann schlapfte herein, unter dem einen Arm eine Aktentasche eingeklemmt, in der anderen Hand das Endstück eines Salzstangerls, das er sich gerade in den Mund stecken wollte. Er hielt in der Bewegung inne, hüstelte und sagte „Oh. Servus, Pez. Beinahe hätte ich vergessen …“

Dann bemerkte er die andere Person im Raum und fragte, die Augen zusammenkneifend, „Und wer sind Sie?“

Peinlichen Konfrontationen wich ich prinzipiell aus, seit ich zu einigermaßen rationalem Denken fähig war. Deshalb rief ich Gugu nur aufgesetzt heiter zu: „Muss weg, zum Bahnhof! Buch liegt am Tisch“ und nahm rückwärts Reißaus.

Abgang Peter Szily, links hinten.

Kein Applaus, wie gewohnt.

Zum Glück war der Zug nach Wien recht schütter bevölkert. Keiner der Vierertische im ersten Waggon war gänzlich unbesetzt. Mit geübtem Blick erspähte ich jedoch eine allein reisende, üppig gebaute ältere Dame, deren buntes Dirndlkleid und kleines Gepäck – eine altrosa Kunstleder-Handtasche sowie ein praller Papiersack des Traditionskaufhauses Kastner & Öhler – zur Hoffnung Anlass gab, sie würde in Bruck an der Mur umsteigen, zwecks Anschluss in Richtung ihrer alpinen Heimat.

Mit meiner schmelzendsten Erbschleicherstimme fragte ich: „Ist hier bitte noch frei, gnädige Frau?“

Sie bejahte. Ich nahm Platz, packte mein iPad aus und atmete tief durch. Wenn ich ehrlich war, hatte mich die Unterhaltung mit dem Mann, der sich als Bravo ausgab, doch ziemlich aufgewühlt und verwirrt. Was er erzählt hatte, war teilweise zu realistisch geschildert gewesen, als dass ich es purer Fantasterei hätte zuschreiben können. Ergo googelte ich, sobald sich die wie immer zickige Internetverbindung der ÖBB etabliert hatte, die naheliegenden Stichwörter.

Ein Gasgebrechen am Dombrowski-Platz in Wien forderte in den frühen Morgenstunden ein Todesopfer und drei Leichtverletzte. Als Ursache nimmt die Polizei unsachgemäßes Hantieren am Gasherd eines Wettbüros im Erdgeschoß an, das durch die Explosion zur Gänze zerstört wurde. Dabei kam der Lokalbetreiber Hugo P. (52) ums Leben. In den darüber liegenden Stockwerken gingen aufgrund der Erschütterung Einrichtungsgegenstände und Fensterscheiben zu Bruch, wodurch drei Personen Schnittverletzungen erlitten. Der rechtzeitig eingetroffenen Wiener Berufsfeuerwehr gelang es, die Ausbreitung eines Brandes zu verhindern. Sicherheitshalber wurden die Hausbewohner evakuiert.

Beim Wort Schnittverletzungen musste ich an die vom Bravo beschriebene klaffende Halswunde des Buchmachers denken. Davon stand freilich nichts in dem einspaltigen Artikel, der übrigens mit 9.25 Uhr datiert war. Das hätte Gugus unheimlich unauffälliger Klient also schon deutlich vor mir gelesen haben können.

Ähnliches galt für das erwähnte Ölbild. Die Homepage des KHM bestätigte, dass es seit geraumer Zeit im Saal VIII ausgestellt wurde. Mit dem um zirka 1515 entstandenen Dreiviertelporträt hatte Ticiano Vecellio „das von seinem Lehrer Giorgione entwickelte halbfigurige Aktionsbild zu geballter Dramatik gesteigert.“ Na bitte, wieder was gelernt. In der Tat bezeichnete das italienische Wort Bravo einen „Schergen im Auftrag eines Herrn“. Man nahm an, dass die Szene die Attacke des Gaius Lusius auf Trebonius zeigte, oder aber die Gefangennahme des Bacchus.

Mit Mühe widerstand ich der Versuchung, die mir unbekannten Namen, also alle außer Bacchus, nachzuschlagen. Stattdessen blieb ich beim Suchbegriff „Bravo“.

Neben der wenig überraschenden Verwendung als Applaus-Bekundung poppten unzählige Verweise auf die bekannte Jugendzeitschrift auf. Eine Weile blieb ich doch bei einem Artikel hängen, in dem Martin Goldstein gewürdigt wurde, „der Mann, der Dr. Jochen Sommer war“. Als „jüdischer Mischling ersten Grades“ verbrachte er sein 17. Lebensjahr in einem Zwangsarbeitslager der Nazis und später in einem Waldversteck nahe seiner Geburtsstadt Bielefeld. 1969 engagierte ihn die Bravo, weil er ein Sexualaufklärungsbuch veröffentlicht hatte, und der Rest ist Literaturgeschichte.

Nebst einer Fruchtsaftmarke fand ich schließlich doch eine Korrelation von Bravo zu Mordfällen aus jüngerer Vergangenheit. Im Zusammenhang mit einer Kleinpartei, die für eine Periode im österreichischen Parlament vertreten war, stieß ich auf eine Aussage des Parteigründers. Der aus der Oststeiermark stammende, etwas exzentrische Milliardär hatte mit seiner Forderung nach der Todesstrafe aufhorchen lassen, und zwar für Berufskiller. Falls ein solcher „die Tochter eines Richters tötet, ist die Demokratie in Gefahr. Man muss das durchdenken.“

Nun war der gute Mann auch sonst für allerlei von sich gegebenen Mumpitz berüchtigt. Jedoch hatte damals ein Boulevardblatt eine Verbindung zu einem Bombenanschlag in Südtirol konstruiert, dem tatsächlich eine Frau, deren Vater das Richteramt bekleidete, zum Opfer gefallen war. Die Zeitung zitierte „gewöhnlich gut informierte Kreise“. Denen zufolge wäre die Wiener Kriminalkommissarin Karin Fux seit Längerem auf der Spur eines Auftragsmörders, der unter dem Decknamen Bravo sein Unwesen triebe. Ein anderes, etwas seriöseres Medium verwies auf ein zwei Tage später erfolgtes Dementi besagter Beamtin. Nicht ohne süffisant zu belehren, dass es in Österreich, entgegen einer durch TV-Serien verbreiteten Ansicht, gar keine Kommissare gab, im Unterschied zu jenem Dienstgrad der deutschen Polizei. Vielmehr bekleidete Frau Fux den Rang einer Chefinspektorin.

Selbstverständlich konnte der Mann, der mich in der Grazer Ordination für Gugu gehalten hatte, auch das alles, ebenso leicht wie ich, aus dem Internet erfahren haben.

Mittlerweile war die rustikale Matrone ausgestiegen, nicht in Bruck, aber gleich danach in Kapfenberg. Ich zückte mein Handy und wählte die Nummer der Gruppenpraxis. Wie erwartet, war Professor Guthmann gerade nicht zu sprechen, da in einer Sitzung. Ich bat um Rückruf. Die Empfangsdame, deren entzückender kubanischer Akzent mir zuvor gar nicht aufgefallen war, versprach, das so bald wie möglich auszurichten.

Mangels sinnvollerer Optionen checkte ich meine E-Mails. Viel Schrott, wie immer. Massenhaft Newsletter, die ich längst hätte abbestellen sollen. Ein gutes Dutzend Einladungen, sich an irgendwelchen Unterschriftenaktionen, Demonstrationen oder Solidaritätsauftritten zu beteiligen, alles unbezahlt, versteht sich. Seit dem Corona-Kahlschlag gab es bei Benefizveranstaltungen nicht einmal mehr Fahrtspesen und die früher obligaten Gutscheine für ein Essen und zwei Getränke. Wenigstens eine etwas erfreulichere Nachricht war darunter, nämlich von meiner Casting-Agentur: die kurzfristige Anfrage für eine Nebenrolle mit zwei Drehtagen. Zwar nur ein Kurzfilm als Diplomarbeit an der Filmakademie, aber immerhin gab es ein bisschen Gage. In Zeiten wie diesen musste man nehmen, was man angeboten kriegte. Da außerdem mein Terminkalender nicht eben überfüllt war, sagte ich zu.

Knapp vor dem Bahnhof Semmering läutete mein Telefon. „Abermals hallo, Pezi“, sagte Gugu. „Ich nehme an, es geht um das Geld für die Anthologie. Du bist so überhastet davongerannt …“

„Hab den Intercity gerade noch erwischt. Und nein, du schuldest mir nichts. Ich bekomme ja zehn Belegexemplare gratis. Aber ich wollte dich etwas über deinen Klienten fragen.“

„Über welchen? Ich darf dir von Berufs wegen nicht …“

„Der ebenfalls im Zimmer zwei war.“

„Ach so. Den habe ich nur kurz gesehen. Das personifizierte umgekehrte Riddoch-Syndrom.“

„Hä?“

„Kleiner Psychiaterwitz. Bei Riddoch kann der Patient keine unbewegten Objekte erkennen, auch bewegte nur schattenhaft. Umgekehrt, also dass jemand derlei bei anderen auslösen kann, gibt’s das natürlich nicht. Obwohl dein Kollege nahe dran ist, alle Ehre.“

„Kollege? Hat er das gesagt?“

„Sonst nicht viel. ‚Pardon, der Kollege hat etwas vergessen‘, oder so ähnlich. Dann ist er dir hinterher. Hat er dich denn nicht eingeholt?“

„Nein.“ Unwillkürlich blickte ich mich um. Im zu etwa einem Drittel gefüllten Waggon fiel mir auf die Schnelle kein bekanntes Gesicht auf. Andererseits hatte der Bravo kein Gesicht, das einem auffiel … „Hat er nach meinem Namen gefragt?“

„Nein. Er ist fast so schnell rausgeflitzt wie du.“

Davor schon hatte Gugu mich mit Pez angeredet, schoss es mir siedend heiß ein. Gleich darauf beschwichtigte ich mich wieder: Als Pez oder Pezi wurde ich praktisch nirgends offiziell geführt. Außerdem ging ich doch eigentlich immer noch davon aus, es mit einem relativ harmlosen Irren zu tun gehabt zu haben, nicht wahr?

„Apropos Wahrnehmungsstörungen“, sagte ich. „Wie weit kann so etwas gehen? Ich meine, ist es möglich, dass man eine Bluttat begangen hat, sagen wir einen Mord, und kurz darauf jegliche Erinnerung daran gänzlich verdrängt? Rein theoretisch, ich bereite mich gerade auf eine Rolle vor. Für einen Diplomfilm“, fügte ich unnötigerweise hinzu.

„Möglich ist auf meinem Gebiet fast alles. Blackouts nach traumatischen Ereignissen sind nicht selten. Wobei Amnesie auch nach Unfällen oder Vergiftungen auftritt. Die Wahrnehmung spielt ebenfalls hübsche Streiche. Beim Capgras-Syndrom glauben Patienten, ihnen nahestehende Personen wären gegen identisch aussehende Doppelgänger ausgetauscht worden. Wer vom ebenfalls recht seltenen, nach einem Hirninfarkt auftretenden Anton-Syndrom betroffen ist, weigert sich anzuerkennen, dass er blind ist.“

„Was! Die glauben, ganz normal sehen zu können?“

„Ja. Faszinierend, nicht wahr? Unter dem Walking-Corpse-Syndrom Leidende sind davon überzeugt, gestorben zu sein, zu verwesen oder das Blut sowie die inneren Organe verloren zu haben. – Pez, sei mir bitte nicht böse, mir fiele noch allerhand Bizarres ein, beispielsweise über die unglaublich charismatische Ausstrahlung von Manikern, aber mein nächster Klient steht vor der Tür. Kannst mir ja schreiben, wenn du konkrete Fragen hast. Mach’s gut, Alter!“

Halb erschüttert, halb erleichtert sank ich gegen die gepolsterte Rückenlehne des Sitzes. Verglichen mit den eben aufgezählten Macken wirkte es fast schon wieder unspektakulär, wenn sich jemand bloß für einen Auftragsmörder hielt.

Eines, fiel mir ein, hatte ich noch nicht nachgeprüft: den Namen Hugo Pekarek.

Google warf eine uralte Zeitschrift aus, die Mittheilungen des Ornithologischen Vereines „Die Schwalbe“ in Wien vom 16. März 1894. Darin berichtete ein Herr Oberförster Hugo Pekarek aus dem Sudetengebirge, dass er nahe seiner Wohnung in Gabel bei Würbenthal einen schlankschnäbligen Tannenhäher geschossen habe.

Wie hatte ich nur bisher ohne dieses Wissen durchs Leben gehen können?

Ansonsten gab es keinen Hugo Pekarek, jedoch einen Josef, der beim SC Wacker Wien und in der Nationalmannschaft Fußball gespielt hatte, bis er aus dem Zweiten Weltkrieg mit einem Bein weniger heimkehrte. Weiters einen Karl, der 1967 an einer angeblich legendären Silvesterschießerei vor dem Café Domingo in Meidling teilgenommen hatte – und eine Mathilde Luggerbauer-Pekarek, auf deren Gastgewerbekonzession das Lucky Star Casino zugelassen war. Die Vermutung lag nahe, dass sie unlängst über ein bis zwei gravierende Verluste in Kenntnis gesetzt worden war.

Bedauernswert, aber was hatte ich damit zu tun? Nichts, beschloss ich, und so sollte es auch in Zukunft bleiben. Die kuriose Grazer Begebenheit kam zu meinen nicht existenten Akten. Ob sie es jemals in eine künftige Autobiografie schaffen würde, stand sehr zu bezweifeln.

Am Meidlinger Bahnhof stieg ich aus. Das Prunkstück der Wiener Linien, die U6, transportierte mich bis zu der Biedermeiergasse, in der ich wohnte. Als ich im Hausflur meinen Postkasten aufschloss, ertönte hinter meinem Rücken ein leises Räuspern. Erschrocken fuhr ich herum.

„Ah ja“, sagte der Bravo. „Und da bist du nun.“

Mörder-Quoten

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